Skandal um Brosius-Gersdorf: Wird das Verfassungsgericht zum politischen Spielball der Parteien

Rot und Schwarz halten zerissenen Wahlzettel. Hintergrund: Verfassungsgericht

Die Wahl dreier Verfassungsrichter wurde überraschend verschoben. Medien sprechen von einer Regierungskrise. Doch wer zieht im Hintergrund wirklich die Fäden?

Als die Wahl drei neuer Richter für das Bundesverfassungsgericht am 11. Juli im Bundestag von der Tagesordnung genommen wurde (siehe Chronologie), war die Medienresonanz enorm.

Journalistisch bewertet wurde der Vorgang überwiegend als "Schwarz-rotes Fiasko", als "Wahldebakel, als drohende oder bereits weit fortgeschrittene "Regierungskrise".

Diese Bewertungen decken sich mit vielen Politiker-Statements, die während der Geschäftsordnungsdebatte vor der Absetzung der Wahl im Bundestag zu vernehmen waren. Denn bis auf den CDU-Abgeordneten Steffen Bilger, erster parlamentarischer Geschäftsführer der Unions-Fraktion, kritisierten alle Redner den Vorgang mit scharfen Worten. Allerdings stimmten schließlich alle Fraktionen bis auf die der AfD für die Absetzung der drei Richterwahlen von der Tagesordnung.

Schwarzer Tag für die Demokratie?

Doch war das nun tatsächlich ein schwarzer Tag für die Demokratie, der Parlament und Bundesverfassungsgericht beschädigt hat? Oder sind solche Behauptungen in Wahrheit Meinungsbekundungen, also persönliche Wertungen, die man auch ganz anders vornehmen könnte?

Die Faktenlage im Schnelldurchgang: Der Wahlausschuss des Bundestags hatte sich mehrheitlich für die drei Kandidaten Günter Spinner, Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold ausgesprochen, wobei ersterer ein Vorschlag der Union, die beiden anderen Vorschläge der SPD waren.

Vor allem über Brosius-Gersdorf wurde dann öffentlich viel debattiert, weil ihre in juristischen Beiträgen dargelegten Positionen unter anderem zur Menschenwürde Ungeborener oder der verfassungsrechtlichen Pflicht für eine Corona-Impfpflicht auf Widerstand stießen.

Zudem veröffentlichte Stefan Weber am Vorabend der angesetzten Richterwahl erste Befunde einer Prüfung der Dissertation von Frauke Brosius-Gersdorf und der Habilitationsschrift ihres Mannes Hubertus Gersdorf. Danach gibt es zwischen beiden Arbeiten textliche Übereinstimmungen. Nach Webers Angaben ist seine Analyse noch nicht abgeschlossen.

Diesen Plagiatsverdacht benannte Jens Spahn für die Unions-Fraktion als Argument für eine Verschiebung der Wahl, was er später bedauerte. Allerdings hatte Weber damals keinen Plagiatsvorwurf gegenüber Brosius-Gersdorf erhoben, sondern verschiedene Möglichkeiten für die gefundenen Übereinstimmungen gesehen.

Rechte Kampagne?

Die öffentliche Debatte um die Kandidatin Brosius-Gersdorf wurde in vielen Medien als rechte Kampagne dargestellt (Deutschlandfunk auf Instagram, Spiegel, MDR unter anderem mit Hinweis auf eine X-Analyse).

Dass es Falschbehauptungen gab, ist unstrittig – allerdings auch bei jeder großen öffentlichen Debatte zu beobachten. Und dass Kritik vor allem von Rechts kommt, dürfte bei einer von der SPD vorgeschlagenen Kandidatin auch nicht überraschend sein. Erst im Januar war die Wahl eines neuen Verfassungsrichters, vorgeschlagen von der Union, an den Grünen gescheitert – allerdings noch im Ausschuss, nicht im Parlament.

Für den Vorwurf einer Kampagne in redaktionellen oder sozialen Medien gibt es keine einheitlichen Kriterien. Vielmehr wird er regelmäßig vom in die Kritik geratenen Lager erhoben. So schreibt Katharina Riehl, Ressortleiterin Politik der Süddeutschen Zeitung, man müsse die Vorgänge im Netz "eine Kampagne gegen die Juristin" Brosius-Gersdorf nennen.

In der eigenen Artikelflut bei der sogenannten "Flugblatt-Affäre" rund um Hubert Aiwanger sah die Süddeutsche Zeitung hingegen keine Kampagne. Dabei hatte sie zum Teil mehrere Dutzend Beiträge an einem Tag zu dem Thema veröffentlicht.

Öffentliche Debatten nötig

Der Wahlausschuss des Bundestags berät nicht öffentlich. Eine Aussprache über die Kandidaten einer Richterwahl im Parlament ist nicht vorgesehen. Aber auch unabhängig davon darf es keine Pflicht geben, dass Abgeordnete bei Abstimmungen einfach den Vorgaben ihrer Fraktionsspitzen oder eben Vorlagen der Ausschüsse folgen – denn dann bräuchte es die vielen Abgeordneten gar nicht.

Bekanntlich sind Parlamentarier laut Grundgesetz (Art. 38) an keinerlei Weisungen gebunden, Stichwort "freies Mandat". Sie haben keine Parteiinteressen zu vertreten, sondern "das ganze Volk".

Es sollte daher stets völlig unspektakulär sein, wenn sich im Parlament nicht die Mehrheit findet, die sich eine Regierungskoalition erhofft oder die ein Ausschuss des Parlaments erwartet hat. Entsprechend sollten Abstimmungen auch nur bei offensichtlichen, inhaltlich begründeten Selbstverständlichkeiten als reine Formsache gelten. Und solange Abgeordnete bei irgendwas noch Klärungsbedarf sehen, können sie kaum guten Gewissens abstimmen. Eine Vertagung ist dann geradezu zwingend.

Die Wahl von Richtern zum Bundesverfassungsgericht kann keine blanke Routine sein. Aus öffentlichem Widerspruch muss für Abgeordnete zwar im Ergebnis nie irgendetwas folgen – eben wegen des freien Mandats. Aber sie sollten sich damit doch soweit beschäftigen, dass sie ihre gegebenenfalls unveränderte Haltung hernach gut begründen können. Der Vorgabe einer Fraktionsspitze oder einer Ausschussmehrheit blind zu folgen genügt dem nicht.

Der frühere Bundesrichter Thomas Fischer kann der ganzen öffentlichen Debatte zwar wenig abgewinnen und hält "die unsubstantiierte Wichtigtuerei von (anonymen!) Abgeordneten (für) weird", liefert aber zuvor in seiner Kolumne selbst das beste Argument für ihre Notwendigkeit:

Die Personen, die darüber entscheiden, ob die Qualifikation der Kandidaten ausreicht, verfügen selbst durchweg nicht über dieselbe. Sie erteilen also keine Zeugnisnoten, sondern fällen parteipolitische Entscheidungen auf durchweg sehr schmaler Kenntnisgrundlage. Wichtig zu wissen ist, dass parteipolitische Kungeleien, Absprachen und Deals mitnichten eine Ausnahme, sondern die (gesetzlich vorgesehene) Regel sind. "Skandal"-geeignet war die Nicht-Wahl der Kandidatin ja nur deshalb, weil sich eine Partei einmal an den Deal nicht gehalten hat.

Thomas Fischer, Spiegel

Jura nur für Experten?

Nicht wenige Juristen vertreten die Auffassung, das gemeine Volk habe sich aus ihren Fachfragen herauszuhalten. Entsprechend braucht dann der Bürger auch gar nicht erst versuchen, Positionen von Brosius-Gersdorf und den anderen beiden Kandidaten nachzuvollziehen oder gar Widerspruch zu formulieren.

Zwar hat der Souverän keinen direkten Einfluss auf die Besetzung irgendwelcher Gerichte. Aber deren Entscheidungen ergehen "im Namen des Volkes", und wo die Mehrheit der Bevölkerung mit der Rechtsauslegung nicht übereinstimmt, müsste über die zuständigen Parlamente als Volksvertretung eine Konkretisierung oder Korrektur vorgenommen werden.

Öffentliche Diskussion ist daher immer notwendig, wenn es eben etwas zu diskutieren gibt, was vorliegend ganz offenbar der Fall ist. Darin schon zu Beginn die Beschädigung irgendwelcher Institutionen oder Personen zu sehen wirkt wie eine Self-fulfilling-prophecy: es wird solange von einem Schaden gesprochen, bis man ihn tatsächlich diagnostizieren kann.