Warum der Ukraine-Krieg in Russland immer weniger Leute interessiert

Was denken die Menschen in Russland heute über den Ukraine-Krieg? Bild: Christophe Meneboeuf / Creative Commons CC-BY-SA 3.0
Forscher sprechen von einem "militärischen Burnout". Der Ukrainekrieg verursacht in Russland kaum noch Emotionen. Was ist mit offener Gegnerschaft oder Friedenswunsch?
Die Messung der Stimmung der Bevölkerung Russlands ist aktuell keine einfache Sache, wie in jedem zunehmend totalitären System. Ruft zu Hause ein Fremder an, vor allem von einem staatlichen oder staatsnahen Umfrageinstitut, ist man nicht unbedingt geneigt, kritische Antworten zu geben.
Vor allem, wenn z.B. Antikriegsäußerungen unter Strafe stehen. Diesen Effekt bestätigt auch der bekannte Moskauer Soziologe Boris Kagarlizky, der für andere unbequemen Äußerungen jedoch ebenfalls inhaftiert wurde.
Doch die Soziologie ist mit den Änderungen der Verhältnisse in Russland nicht sinnlos geworden. Fragen etwa nach Emotionen oder Interessen, die für die Teilnehmenden weniger brisant klingen, werden durchaus ehrlich beantwortet.
Mit Lewada ist auch immer noch ein unabhängiges Meinungsforschungsinstitut in Russland bemüht, trotz der Atmosphäre im Land dort Stimmungen zutreffend zu messen. Das gelingt nicht immer.
"Die Menschen in Russland glauben, dass Umfragen vom Staat durchgeführt werden. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, wer sie dort tatsächlich durchführt", glaubt der Moskauer Soziologe Grigori Judin in einem Interview mit dem Podcast "Revolver".
Im August erstmals mehrheitlich wenig bis gar nicht interessiert
Lewada erfasste bei seinen beiden letzten Monatsumfragen zum Ukrainekrieg neben einer mehrheitlichen Unterstützung des russischen Feldzugs vor allem eins: Desinteresse am Krieg. 51 Prozent der Befragten gaben im August 2023 an, dem Kriegsgeschehen nur noch wenig oder gar nicht zu folgen. Das war erstmals die Mehrheit der Bevölkerung seit Kriegsausbruch bei dieser monatlichen Befragung. Im September kletterte dieser Wert noch auf 52 Prozent.
Das ist ein komplett anderes Bild im Vergleich zum ersten Kriegsjahr. So machte die Gruppe der wenig bis gar nicht an Konflikt gegen die Ukraine interessierten im März 2022 noch 35 Prozent der Menschen in Russland aus und hielt sich bis Jahresende etwa auf diesem Niveau (Dezember: 39 Prozent). Erst im Sommer 2023 ging es mit der Aufmerksamkeit der Russen merklich bergab.
Desinteresse ist keine Kriegsgegnerschaft
Desinteresse kann man dabei nicht mit einer offenen Gegnerschaft zum Krieg gleichsetzen. Fast drei Viertel der befragten Russen erklären in der gleichen Befragung ihre Unterstützung für das Vorgehen der eigenen Armee. Mit den zuvor erläuterten Unsicherheiten, ob diese Frage ehrlich beantwortet wird, wenn die "Diskreditierung" der Armee unter Strafe steht.
Man darf auch nicht vergessen, dass im Land seit Ausschaltung der liberalen Medien keine kriegskritische Berichterstattung mehr stattfindet. Das weitgehende Scheitern der groß angekündigten ukrainischen Gegenoffensive liefert den Kremlmedien auch Material, Zuversicht zum Kriegsverlauf zu verbreiten. Wer im Land gegen den Krieg ist, war das meist schon zu Beginn des Feldzugs im Nachbarland und behält das mehrheitlich für sich aus Gründen der eigenen Sicherheit.
Der Trend zum Desinteresse kommt auch der Distanz vieler Russen zur Politik an sich entgegen. "Russland ist ein extrem entpolitisiertes Land. Die Leute versuchen, nichts mit der Politik zu tun zu haben" weiß auch Grigori Judin.
"Militärischer Burnout" führt zum Friedenswunsch
Aber die Ergebnisse sind ein Zeichen für einen größeren Friedenswunsch – 51 Prozent der von Lewada befragten Russen befürworten Friedensgespräche zumindest in baldiger Zukunft. Diese Stimmung äußert sich angesichts der Lage im Land und einer allgemein niedrigen Protestbereitschaft nur nicht in offenem Widerspruch, sondern eher in einer Hoffnung, dass die eigene Führung die Wege Russlands wieder in eine friedlichere Richtung lenkt.
Grigori Judin beschreibt diese häufige Einstellung seiner Landsleute mit dem Versuch, die Entscheidung zu verlagern auf Leute, die es "besser wissen". Der Kreml weiß das und schiebt die Verantwortung für die Dauer des Krieges alleine auf den Westen, obwohl natürlich beide kämpfende Seiten Verantwortung für das Anhalten von Kämpfen tragen.
Die Russlandanalysten des Zentrums Re:Russia sprechen im Zusammenhang mit der Stimmung im Land von einem "militärischen Burnout". Nicht nur das Interesse am Krieg sinke, auch die Emotionen kochten in Bezug darauf nicht mehr so hoch.
"Eine gewisse emotionale Beteiligung bleibt dank der älteren Generation und männlicher Stereotypen erhalten", stellen die Wissenschaftler angesichts der Tatsache, dass die aktiven Kriegsbefürworter unter den russischen Männern und den Alten im Land am stärksten vertreten sind, nüchtern fest. Bei den 18- bis 24-Jährigen ist dagegen auch laut Lewada der Friedenswunsch am größten und liegt bei zwei Dritteln.