Russlands Krieg gegen die Ukraine: US-Experte sieht keine Chance auf Frieden

Anatol Lieven, Bild: Quincy Institute. Ukrainische Soldatin mit Flagge vor einem zerstörten Haus. Bild: Shutterstock.com
Wie stehen die Friedenschancen in der Ukraine? Bedroht Russland Europa? Der US-Eurasienexperte Anatol Lieven im Telepolis-Interview.
Der Ukraine-Krieg geht unvermindert fort. Eigentlich wollte Donald Trump als neuer US-Präsident den Krieg in 24 Stunden beenden. Davon sind wir weit entfernt. Warum ist das so?
Telepolis-Autor David Goeßmann hat mit Anatol Lieven, dem Leiter der Eurasienabteilung im Quincy Institute for Responsible Statecraft in den USA, gesprochen. Ein Update zum Stand der Dinge.
▶ Die Gespräche zwischen Russland und der Ukraine vor einigen Wochen in Istanbul sind gescheitert. Wie stehen die Chancen für Frieden?
Anatol Lieven: Ich sehe derzeit keine Aussicht auf ein Ende des Krieges. Russland und die Ukraine sind in ihren Friedensbedingungen weiterhin weit voneinander entfernt, und die Trump-Regierung hat keinen eigenen Kompromissvorschlag vorgelegt. Berichten zufolge sagen russische Generäle dem russischen Präsident Wladimir Putin, dass die Ukraine bis Anfang nächsten Jahres zusammenbrechen werde. Und Putin ist bereit, zumindest vorerst weiterzukämpfen. Wir müssen abwarten, was auf dem Schlachtfeld und mit der russischen Wirtschaft geschieht.
▶ Was macht es so schwierig, eine diplomatische Lösung für den Ukraine-Krieg zu finden?
Anatol Lieven: Die Ukraine wird die russische Souveränität über die besetzten Gebiete niemals rechtlich anerkennen, aber sie kann sie auch nicht zurückerobern. Daher muss ein Waffenstillstand entlang der bestehenden Frontlinien geschlossen werden. Die Frage ihres rechtlichen Status muss für künftige Verhandlungen offen bleiben – wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kurz nach Kriegsbeginn vorgeschlagen hat.
Meiner Einschätzung nach machen es innenpolitische Faktoren der ukrainischen Regierung unmöglich, ein Friedensangebot zu machen, das Russland akzeptieren könnte – genauso wie das französische Establishment lange nach dem verlorenen Krieg in Vietnam keinen Frieden mit den Kommunisten schließen konnte. Die Europäer sind viel zu zerstritten, um einen kohärenten gemeinsamen Vorschlag zu machen.
Die Initiative für den Frieden muss also von den USA kommen. Die europäischen Staaten müssen über die Zukunft der Sanktionen und die von ihnen beschlagnahmten russischen Vermögenswerte in Europa beraten werden. Aber sie sind nicht in der Lage, sich hinter einer ernsthaften Friedensstrategie zu vereinen.
▶ In Europa und den USA wird befürchtet, dass Russland über die Ukraine hinausgehen und andere europäische Länder angreifen wird? Wie sehen Sie das?
Anatol Lieven: Die militärischen Fähigkeiten und Absichten Russlands gegenüber der Nato wurden stark übertrieben. Selbst hybride Maßnahmen (die keine "Kriegshandlungen" sind) waren bisher sehr gering und hatten eher den Charakter von Warnungen als von ernsthaften Angriffen.
Russlands nukleare Drohgebärden dienen dazu, die Nato von einer Intervention in der Ukraine abzuschrecken. Sie sind nicht der Auftakt zu einem russischen Angriff auf die Nato.
▶ Die Nato hat beschlossen, dass jeder Mitgliedstaat fünf Prozent seines BIP für Militär und damit verbundene Infrastruktur ausgeben soll. Wie beurteilen Sie diese beispiellose Militarisierung?
Anatol Lieven: Diese Zahlen sind absurd. Fünf Prozent des BIP der EU würden etwa 900 Milliarden Dollar pro Jahr ausmachen – so viel wie die USA und fast dreimal so viel wie die Militärbudgets von Russland und China zusammen.
Das ist völlig unnötig und nicht umsetzbar. Es ist eine substanzlose Bestechung Trumps, damit sich die USA weiterhin für Europa engagieren, also keine ernsthafte Strategie.
▶ Der Kampf um die globale Vorherrschaft geht unter US-Präsident Donald Trump weiter, siehe die Bombardierung des Iran oder die Konfrontation mit China. Wohin steuern wir?
Anatol Lieven: Der Wunsch nach einer universellen Vorherrschaft der USA (auch bekannt als "Wolfowitz-Doktrin") ist ein größenwahnsinniges Projekt, das unmöglich lange aufrechterhalten werden kann. Die Frage ist nur, ob die USA dieses Projekt schrittweise und friedlich aufgeben können oder ob es in Blut und Feuer untergeht und viele andere Länder mit sich reißt.
In Hinsicht auf die Atommächte können wir nur hoffen, dass die Angst vor der nuklearen Vernichtung sie davon abhält und sie es nicht wagen, untereinander in einen Krieg zu treten. Das Beispiel Indien und Pakistan zeigt, dass die "gegenseitige gesicherte Zerstörung" ("Mutual Assured Destruction", MAD) tatsächlich funktionieren kann – denn ohne sie hätte Indien Pakistan längst überfallen. Aber der liberale Traum von einem globalen "demokratischen Frieden" ist endgültig ausgeträumt, gleichermaßen von Israel und den USA wie von Russland abgetötet.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).