Von Iran bis China: Entsteht eine neue Weltordnung?

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Die USA und Verbündete wollen den Nahen Osten neu ordnen, sagt Vijay Prashad im Interview. Auch im Kampf gegen China geht es um US-Hegemonie. Kann der Globale Süden dagegenhalten? (Teil 1)

Im Telepolis-Interview mit Vijay Prashad, indischer Historiker, weltweit anerkannter Intellektueller und Direktor des Tricontinental Institute, werden die jüngsten Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten, die Militarisierung der Nato und die Konfrontation mit China in einen größeren Zusammenhang gestellt. Sind die westliche Wirtschaft- und Geopolitik gescheitert, während sich eine neue Weltordnung abzeichnet?

Telepolis-Autor David Goeßmann hat Vijay Prashad in Berlin-Mitte am Rande einer Konferenz getroffen und mit ihm gesprochen. Im ersten Teil des Interviews werden die Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten, Iran und Gaza, sowie der Aufstieg Chinas historisch und global eingeordnet. Der zweite Teil widmet sich Brics+, westlicher Heuchelei und den Chancen für eine weltweit progressive Trendwende.

Vijay Prashad ist ein indischer Historiker, Herausgeber und Journalist. Er ist Autor und Chefkorrespondent bei Globetrotter, Chefredakteur von LeftWord Books und Direktor des Tricontinental Institute for Social Research. Er ist Autor von zahlreichen Büchern, darunter "The Withdrawal: Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power" zusammen mit Noam Chomsky.

▶ Der Iran wurde ohne glaubwürdigen Vorwand von Israel und auch von den USA bombardiert. Teheran reagierte mit Raketenangriffen auf Israel und auf einen US-Stützpunkt in Katar. Der Völkermord Israels in Gaza dauert nach über 600 Tagen weiter an, ein Ende ist nicht in Sicht, während die israelischen Streitkräfte (IDF) weiterhin den Libanon angreifen. All diese Attacken Israels und der USA sind aggressive Handlungen und nach internationalem Recht illegal. Sie destabilisieren die Region. Wie beurteilen Sie die aktuelle Konfliktsituation und die Zukunft des Nahen und Mittleren Ostens?

Vijay Prashad: Dafür lohnt es sich, zuerst nach Indien und Pakistan zu schauen. Indien und Pakistan haben drei Tage lang Krieg geführt. Tatsächlich wurde im letzten Monat, in diesen drei Nächten deutlich, dass bei zwei Militärmächten, die beide über sogenannte Waffensysteme der 4.5 Generation verfügen, also über eine wirklich gute Luftabwehr, Drohnen, ein System, das mit den Kampfjets integriert werden kann usw., also insgesamt Staaten, die über ähnliche Waffensysteme verfügen, niemand gewinnen kann.

Weder die indische noch die pakistanische Luftwaffe waren in der Lage, die Luftabwehrsysteme des Gegners zu durchbrechen und zu zerstören. Tatsächlich flogen indische Jets nicht nach Pakistan und pakistanische Jets nicht nach Indien. Sie schickten Drohnenschwärme über die Grenze.

Vijay Prashad. Bild: Privat

Ich sage das, weil man beim Konflikt zwischen Israel und Iran, wenn man nur die militärischen Kapazitäten betrachtet, klar sieht, dass keiner der beiden gewinnen kann, dass beide sich gegenseitig treffen können, aber keiner wirklich einen Konflikt für sich entscheiden kann. Israel wird nicht in den Iran einmarschieren, der Iran wird nicht mit Bodentruppen nach Israel gehen.

Aber was Luftabwehrsysteme, Raketen und so weiter angeht, sind sie ziemlich ausgeglichen, genau wie Indien und Pakistan. Das einzige, was das Gleichgewicht kippen könnte, wäre das Eingreifen der Vereinigten Staaten, die über die mit Abstand größte Feuerkraft verfügen, über weit mehr als der Iran, Israel bzw. Indien oder Pakistan.

Aber wenn nur Israel und der Iran gegeneinander stehen, kann keiner gewinnen. Das war schon am ersten und zweiten Tag der Kämpfe klar. Und dann kommen die USA und fliegen drei Bombenangriffe. Das war aber ziemlich folgenlos.

Der Iran reagierte mit einem Angriff auf Al-Udeid [US-Militärbasis in Katar], der im Grunde genommen choreografiert war, mit der Botschaft versehen: "Wir haben zurückgeschlagen". Ich habe daher den Eindruck, dass die Militärstrategen in diesen Ländern sich nun zusammensetzen und feststellen: Solange wir keinen bedeutenden militärtechnologischen Durchbruch erzielen oder Israel keine Atomwaffen gegen den Iran einsetzt, ist es für diese Länder unmöglich, sich durchzusetzen.

Das ist die Sichtweise des Militärs. Aus politischer Perspektive betrachtet, begeht Israel Völkermord an den Palästinensern. Das ist illegal. Es gibt keinen illegalen Völkermord. Völkermord an sich ist illegal. Sie begehen einen Genozid, und die Vereinigten Staaten liefern die Waffen.

Auch Europa stellt Waffen bereit, darunter Deutschland. Sie beteiligen sich an einer illegalen Aktion. Israels Angriff auf den Iran verstößt gegen Artikel 2.4 der UN-Charta. Das ist derselbe Artikel, angesichts dessen [EU-Kommissionspräsidentin] Ursula von der Leyen so empört war, als Russland in die Ukraine einmarschierte. Aber die Europäer verurteilen Israel nicht.

Der Völkermord Israels an den Palästinensern und sein Angriff auf den Iran sind auf derselben Ebene anzusiedeln. Beide sind Verstöße gegen das Völkerrecht. Der Iran hat Israel nicht angegriffen. Es gab keinerlei Vorwand für Selbstverteidigung.

Eine Resolution des UN-Sicherheitsrats liegt nicht vor, die Israel gemäß Kapitel 7 der UN-Charta einen Angriff auf den Iran erlaubt hätte. Es gab keine iranische Provokation, nicht einmal verbale Drohungen gegenüber Israel, nichts von dem. Es gab schlicht keinen Grund, den Iran anzugreifen. Tatsächlich haben hochrangige israelische Beamte öffentlich erklärt, warum sie den Iran angegriffen haben. Sie sagten, der Iran sei derzeit schwach. Man solle die Situation ausnutzen.

Das ist dann ein Angriffskrieg. Angriffskrieg ist nicht schlicht ein Wort. Es ist ein juristischer Begriff. Es ist illegal, einen Angriffskrieg zu führen. Es ist ein Kriegsverbrechen, es verstößt gegen die Genfer Konvention.

Ich glaube, die Militärs haben erkannt, dass niemand siegen kann. Wahrscheinlich wird der Iran in zwei oder drei Monaten verkünden, dass er über eine Atombombe verfügt. Und dann ist es vorbei mit dem Regimewechsel in der iranischen Regierung.

▶ Ist die Motiviation für die kriegerischen Interventionen, Chaos in der Region zu stiften und dann davon zu profitieren?

Vijay Prashad: Ich glaube nicht, dass sie Chaos wollen. Ich glaube, sie streben vielmehr eine sogenannte Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens an. Israel glaubt, dass sie die Hamas in den palästinensischen Gebieten auslöschen können. Sie wollen die Palästinenser aus weiten Teilen des Gazastreifens vertreiben, ein sicheres Israel schaffen, die Situation ausnutzen und im Grunde genommen die Palästinenser in der Westbank vertreiben oder zumindest demoralisieren, damit sie nicht mehr gegen die Siedler kämpfen.

Das ist ein sehr überzeugendes und zentrales Ziel für die Israelis: die Palästinenser entmutigen, damit sie die palästinensischen Gebiete verlassen. Israel ist nicht mehr an einer Zwei-Staaten-Lösung interessiert, wenn es das jemals war, wahrscheinlich war es das nie. Die Israelis werden niemals eine Ein-Staaten-Lösung zulassen.

Sie bevorzugen die Drei-Staaten-Lösung. Die Drei-Staaten-Lösung sieht so aus: Alle Palästinenser werden in den Libanon, nach Jordanien und Ägypten geschickt, also in die drei Staaten, die an die palästinensischen Gebiete angrenzen. Sie sollen verschwinden. Das ist es, was sie schon seit sehr langer Zeit wollen.

Es handelt sich dabei effektiv um eine Politik der sozialen Vernichtung: Man kann Menschen physisch vernichten, also Völkermord begehen, oder sie sozial zerstören, indem man sie einfach in andere Länder vertreibt – was ebenfalls gegen das Völkerrecht verstößt, da es sich um ein besetztes Gebiet handelt, das gemäß den Bestimmungen der Vereinten Nationen geschützt ist.

Es gewährt den Palästinensern einen Schutzstatus. Die Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen aus einem Kriegsgebiet ist nach internationalem Recht illegal. Sie ist verboten und verstößt gegen die Genfer Konvention.

Soweit zu den Palästinensern. Was die Iraner betrifft, so streben die USA und ihre Verbündeten seit dem Jahr 1980 einen Regimewechsel im Iran an. Es waren der Westen und die Golf-Araber, die Saudis, die Saddam Hussein 1980 dazu drängten, illegal in den Iran einzumarschieren und einen Krieg zu beginnen, der bis 1988 dauerte. Sie haben Saddam die ganze Zeit unterstützt.

Ein Grund, warum Saddam am 2. August 1990 in Kuwait einmarschierte, war, dass er wütend gewesen ist, weil man die Opfer, die das irakische Volk auf sich genommen hatte, nicht entschädigte. Er war frustriert, dass die Golf-Araber den Irak nicht finanziell unterstützten.

Er marschierte in Kuwait ein und behauptete, dass man in die Rumaila-Ölfelder seitlich gebohrt habe. Tatsächlich war er wütend: Die Saudis zahlten nicht, die Kuwaiter zahlten nicht. Die Vereinigten Staaten zahlten nicht. Er sagte, man habe acht Jahre lang für sie gekämpft, um die Islamische Republik zu stürzen, wenn auch ohne Erfolg.

Nach 1988, als der Irak beschloss, nicht einzumarschieren, gab es punktuelle Äußerungen von ranghohen US-Beamten, dass man den Iran angreifen werde. Nach dem 11. September begingen die Vereinigten Staaten dann einen strategischen Fehler, als sie 2001 die Taliban-Regierung in Afghanistan und 2003 Saddam Hussein stürzten. Zwei historische Feinde des Iran, die sunnitischen Hardliner in Afghanistan und Saddam Hussein, wurden von wem beseitigt? Von den Amerikanern, was dem Iran einen enormen Vorteil in der Region verschaffte. Der Iran begann, seine Flügel auszubreiten und Einfluss auf die Ereignisse in der arabischen Welt zu nehmen.

Die USA sagten, der Iran müsse sich wieder auf seine Grenzen beschränken. Was tat Washington also? Sie verabschiedeten den Syria Accountability Act und versuchten, die syrische Regierung von Assad Junior, dem jungen Assad, der gerade an die Macht gekommen war, unter Druck zu setzen. Dort versuchte man mit einer Art "Damaskus-Frühling" einen demokratischen Raum in Syrien zu eröffnen.

Die USA verhängten Sanktionen, nicht um Assad, der auf mehr Demokratie setzte, sondern die Iraner unter Druck zu setzen. Dann gaben die USA 2006 Israel grünes Licht, den Libanon zu zerstören und die Hisbollah zu schwächen. Der Einmarsch in den Libanon fand dann im gleichen Jahr statt, ebenfalls eine völlig illegale Invasion.

Inmitten dieser Ereignisse erfand man plötzlich den Vorwurf, dass der Iran eine Atomwaffe bauen wolle. Die USA starteten illegale Gespräche mit dem Iran. Diese Gespräche über das Atomprogramm des Iran sind insofern illegal, weil der Iran Mitglied des Nichtverbreitungsvertrags ist. Der Iran unterliegt der Kontrolle der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), lässt bereits Inspektionen zu und spricht mit UN-Vertretern.

Es gab keinen Grund, einen unrechtmäßigen Prozess mit den Vereinigten Staaten, den Europäern, den Iranern und der Uno außerhalb der IAEO und außerhalb des Atomwaffensperrvertrags einzuleiten, um über ein halluzinatorisches Nuklearwaffenprogramm zu diskutieren, das es nicht gab. Es ging nur um die Frage der Anreicherung, nämlich wie viel sie im Land anreichern dürfen.

Das Ganze ist eine Farce. Denn während der Iran unter Druck gesetzt wurde, hat Indien, das kein Mitglied des Nichtverbreitungsvertrags ist und nicht von der Internationalen Atomenergiebehörde inspiziert wird, zweimal eine Atomwaffe getestet und erhält von den Vereinigten Staaten eine Ausnahmegenehmigung, um von der Gruppe der Nuklearlieferländer nukleares Material zu beziehen. Das ist extreme Heuchelei.

Auch Israel verfügt über Atomwaffen, ist kein Mitglied des Nichtverbreitungsvertrags und erhält Material von der Gruppe der Nuklearlieferländer. Aber der Iran musste unter Druck gesetzt werden. Der Angriff auf den Iran ist also nichts Neues. Er ist Teil eines langen Prozesses, der darauf abzielt, diese Regierung zu stürzen.

Sie wollen den Nahen Osten "säubern", den Sohn des Schahs wieder in Teheran an die Macht bringen, die Palästinenser dazu bringen, dass sie das Gebiet verlassen, und die Region neu ordnen. In Syrien gibt es eine Al-Qaida-Regierung, die pro-israelisch wäre. Im Libanon würde es eine pro-israelische Regierung geben. Für die Israelis wäre alles perfekt, Benjamin Netanjahu würde sich in Tel Aviv eine goldene Statue von sich selbst errichten lassen. Seine Regierung würde ewig bestehen.

Die Chassidim werden es nicht wagen, die Regierung wegen der Frage der Befreiung ultraorthodoxer jüdischer Männer vom Militärdienst zu verlassen. Einen Tag vor dem israelischen Angriff auf den Iran stand die Regelung auf der Kippe. Einige Leute verweisen auf solche innenpolitischen Probleme Netanjahus. Deshalb habe er angegriffen, sagen sie. Das ist aber nicht der Grund, warum er den Iran attackiert hat, auch wenn der Zeitpunkt günstig war.

▶ Wie beurteilen Sie nach 500 Jahren westlichem Kolonialismus, neokolonialer oder neoliberaler Hegemonie im Globalen Süden und den Strukturanpassungsprogrammen der letzten Jahrzehnte, die die armen Länder stranguliert haben, den Umgang des Westens mit den Entwicklungsländern? Inwiefern könnte man von einer Machtverschiebung sprechen?

Vijay Prashad: Das sind zwei Fragen. Die erste betrifft die Haltung. Was die angeht, gibt es keinen Wandel. Die Position ist weiter, dass der Westen diesen Ländern nichts schuldig ist: "Hört mal, wir haben Euch kolonialisiert, tut uns leid. Aber wir haben Eisenbahnen und Brücken gebaut, wir haben Euch unsere Sprachen beigebracht und Ihr habt Vernunft und Wissenschaft bekommen."

Diese Haltung ist immer noch vorhanden. Sie wird sogar weiter in den Schulen gelehrt. In Deutschland beispielsweise lernen Kinder nichts über den Völkermord an den Herero und Nama. Das wird nicht gelehrt.

In England hört man nichts über die Konzentrationslager für Kenianer nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Burenkrieg errichteten die Briten Konzentrationslager. Die Nazis haben die Idee für ihre Lager, die Treblinkas und Buchenwalds usw., von den Konzentrationslagern des Burenkriegs erhalten. Nach dem Krieg und dem Holocaust bauten die Briten dann Konzentrationslager in Kenia, um die Kämpfer der Mau-Mau-Aufstände dort unterzubringen.

Es ist also nicht so, dass man seine "Lektion gelernt hat" und "niemals vergessen wird". Nach dem Krieg haben sie dasselbe wiederholt. Wird das Kindern in Großbritannien beigebracht? Nein, sie lernen immer noch, dass Churchill ein Held ist. Die erste Labour-Regierung war heldenhaft. Aber es war die Labour-Regierung, die diese Konzentrationslager in Kenia errichtet hat.

Was die Einstellung angeht, mache ich den Menschen im Westen keinen Vorwurf, denn sie hatten keine Gelegenheit, die Wahrheit über den Kolonialismus zu erfahren. Man kann nicht zu den Menschen gehen und sagen: "Wie könnt ihr das nicht wissen?" Nun, sie wissen es nicht, weil das Bildungssystem kolonial geprägt ist, es ist nicht ihre Schuld.

Sie haben ein koloniales Bildungssystem, sie lernen nichts über die Geschichte. Was die Einstellung angeht, sehe ich daher leider keine großen Veränderungen. Ich verkehre zwar nicht mit den obersten Eliten der westlichen Gesellschaften. Vielleicht sind sie liberaler und aufgeschlossener.

Aber was ich in ihren öffentlichen Reden höre, ist ziemlich erschreckend. [Der französische Präsident Emmanuel] Macron sagte zu den Afrikanern, sie sollten ihnen dankbar sein. Das ist empörend. Ein Mindestmaß an Anstand sollte einen Weltführer davon abhalten, jemandem, den er kolonisiert hat, aufzufordern, dankbar sein. Wie kann man so etwas sagen? Das ist vulgär. Selbst nach bürgerlichen Maßstäben ist das vulgär. Es ist brutal.

Zweitens sehe ich keine Veränderung in der Politik. Ein guter Ort, um das methodisch zu untersuchen, ist der Internationale Währungsfonds (IWF). Der Fonds ist eine demokratische Institution, denn er hat Mitgliedstaaten. Jeder Staat, der dem IWF beitritt, hält sich an die Regeln des IWF.

Jeder von ihnen sollte als Mitglied einer Organisation das demokratische Recht haben, Vorschläge zu machen, was er tun möchte und was nicht. Ich verstehe, dass es im IWF ungleiche Stimmrechte gibt. Westliche Regierungen kontrollieren einen größeren Teil der Stimmrechte im IWF. Das ist nicht fair. Das sollte demokratisiert werden.

Wenn Sie 50 Dollar auf den Tisch legen und ich fünf, sollten Sie aufgrund des Geldes, das Sie auf den Tisch legen, zehnmal mehr zu sagen haben. Aber Sie und ich sind beide lebende Menschen. Warum sollten wir nicht einfach jeweils eine Stimme bekommen, warum sollte das Geld über die Stimmrechte entscheiden?

Das ist eine gute Frage, denn in einer Demokratie, zum Beispiel in Deutschland, spielt bei einer Wahl das Bankkonto keine Rolle. Technisch gesehen soll jeder gleich viel zu sagen haben. Aber beim IWF wird nach dem Anteil des eingezahlten Geldes abgestimmt. Ich finde das ein wenig unfair und undemokratisch.

Das bedeutet also, dass die reicheren Länder die Regeln des IWF bestimmen. Sie bestimmen auch, wie die IWF-Bürokraten, die eigentlich den Mitgliedsländern dienen sollen, mit den Ländern sprechen. Diese gehen beispielsweise in den Senegal und erklären: Das müsst ihr tun, sonst bekommt ihr einen schlechten Bericht von uns.

Im Grunde genommen verhalten sie sich wie die Mafia. Wenn es um Entwicklungshilfebehörden geht, ist es eine mafiöse Strategie. Sie sagen diesen Ländern: Wenn ihr nicht tut, was wir sagen, bekommt ihr kein Geld. Und dann steigen die Kreditkosten für die Länder. Hat sich etwas geändert? Ich glaube nicht wirklich.

▶ Aber sehen Sie Machtverschiebungen, wenn, wie geschehen, Frankreich und die Vereinigten Staaten aus Niger und anderen afrikanischen Ländern vertrieben werden? Gleichzeitig drängt China in Entwicklungsländer vor, baut die Infrastruktur der Belt and Road Initiative (BRI, "Neue Seidenstraße") auf und investiert in ärmere Nationen. Sehen Sie in dieser Hinsicht eine Machtverschiebung, während sich der globale Süden immer mehr vom Westen entfernt?

Vijay Prashad: Es geht zu langsam vor sich. Nehmen Sie den Fall Senegal und Sri Lanka, wo beide gewählten progressiven Mitte-Links-Regierungen zum IWF zurückkehren müssen. Warum? Weil sich Alternativen nicht schnell genug herausgebildet haben. Der Brics-Prozess hat beispielsweise eine neue Entwicklungsbank geschaffen.

Ihre Kreditvergabe verläuft jedoch äußerst langsam. Es wurde eine sogenannte Notfallreservevereinbarung geschaffen, die eine Alternative zum IWF darstellen sollte. Diese ist jedoch noch nicht wirklich in Kraft getreten. Diese Institutionen agieren also zu langsam.

Die Belt and Road Initiative ist anders. Sie stellt Geld für Infrastruktur zur Verfügung. Sie baut Infrastruktur auf, was großartig ist, da sie die Kapazitäten dieser Staaten stärkt. Hier findet eine Machtverschiebung statt. Aber wenn es um Kredite für Finanzprobleme, Zahlungsbilanzen, Devisenreserven und so weiter geht, ist der IWF der einzige oder der wichtigste Akteur.

Interessanterweise vergeben chinesische Banken nicht so gerne Kredite für die Schuldenkrise. Sie vergeben lieber Kredite für Infrastrukturprojekte. Sie wollen den Ländern keine Kredite für die Bewältigung ihrer langfristigen Schuldenkrise geben. Dann müssen sich die Regierungen wieder an den IWF wenden.

Die Länder im Süden erleben also einen Wandel, aber er vollzieht sich zu langsam und nicht dort, wo die Schuldenberge wachsen. Die Menschen im Globalen Süden haben derzeit nicht die Kraft, sich an die Anleihegläubiger zu wenden und zu sagen: "Tut uns leid, Ihr habt mit Euren Investitionen in unsere Länder ein Risiko eingegangen. Das Risiko hat sich nicht ausgezahlt. Ihr müsst die Kredite abschreiben."

Die Menschen sind noch nicht stark genug, um das zu sagen. Aber Sie haben Recht, es findet ein Wandel statt, aber dieser Wandel vollzieht sich viel zu langsam, und wir sollten die aktuellen Entwicklungen nicht überbewerten.

▶ Gleichzeitig wird viel über den Aufstieg Chinas auf der Weltbühne und den Niedergang der Vereinigten Staaten gesprochen. Wirtschaftlich wächst China viel schneller als die USA und Europa. Wenn man sich die sogenannte Kaufkraftparität ansieht, hat China die USA bereits überholt. Und Sanktionen und Zölle der westlichen Länder funktionieren nicht, um China einzudämmen. Dann gibt es noch die bereits erwähnte Belt and Road Initiative, mit der Beijing (Peking) durch Investitionen in über 150 Staaten eine globale Handels- und Transportinfrastruktur aufbaut. Leben wir bereits in einer multipolaren Welt – zumindest wirtschaftlich – und was bedeutet das für die Gesellschaften, insbesondere im Süden?

Vijay Prashad: Ihre Formulierung "zumindest wirtschaftlich" trickst, denn "zumindest wirtschaftlich" geschieht nichts. Zunächst einmal stimmt es, dass China in Bezug auf die Konjunktur sicherlich führend ist. Aber viele asiatische Länder wie Vietnam, Indonesien, Bangladesch oder Indien wachsen alle viel schneller.

Das ist ziemlich beeindruckend. Aber wir sollten auch erkennen, dass es sich hierbei um Wachstumsraten handelt und diese Länder von einem Niveau großer Benachteiligung aus wachsen. In Bezug auf den absoluten Lebensstandard sind sie also noch ziemlich weit von den reicheren Ländern entfernt.

Und wie uns Umweltschützer sagen, würden wir sieben Planeten brauchen, wenn alle Menschen auf der Erde so leben würden wie in den Vereinigten Staaten. So zu leben ist nicht möglich. Der absolute Lebensstandard wird sich also vielleicht nie angleichen. Und ich hoffe, dass man sich nicht an den USA ein Vorbild nimmt. Wir sollten eine andere Art des Lebens finden.

Brauchen wir wirklich alle Kühlschränke, die so groß sind wie eine kleine Wohnung? Ich glaube nicht, dass wir begehbare Gefrierschränke in unseren Häusern brauchen. Brauchen wir begehbare Kleiderschränke mit genug Kleidung für einen Monat, ohne waschen zu müssen? Wir müssen auch unsere Lebensweise ändern, vielleicht wäre etwas mehr Bescheidenheit eine gute Idee.

Der absolute Lebensstandard hat sich also offensichtlich nicht angeglichen. Aber es stimmt, dass die Wachstumsraten beeindruckend sind. Es stimmt auch, dass China mit den meisten Ländern viel mehr Handel treibt und mehr Überschüsse hat, um in diesen Ländern in den Aufbau von Infrastruktur und Industrie zu investieren.

China hat tatsächlich ein neues Entwicklungsmodell geschaffen, das der IWF und die westlichen Gläubiger nicht geschaffen haben. Sie haben mein ganzes Leben lang Kredite für Schulden vergeben und nicht für Infrastruktur und Industrialisierung. China hat die Spielregeln geändert, das ist absolut wahr, zu 100 Prozent.

Aber wir leben noch nicht in einer Welt, in der sich das Kräfteverhältnis verändert hat. Die westlichen Länder unter Führung der USA kontrollieren nach wie vor die Waffensysteme. Fast 80 Prozent der weltweiten Militärausgaben werden jedes Jahr von den NATO-Plus-Ländern [NATO-Mitglieder plus Australien, Japan, Neuseeland, Südkorea und Israel] getätigt. Ihre militärische Macht ist außergewöhnlich, und sie kontrollieren die Informationen.

Wir arbeiten in der Welt des Journalismus. Wir sind einer enormen Flut westlicher Medien ausgesetzt. Sie bestimmen die Welt. Es mag Medien in anderen Ländern geben, in Indien und so weiter, aber wenn es um Weltnachrichten geht, folgen sie CNN, Reuters, Associated Press, Agence France-Press. Sie definieren die Ereignisse.

Wie schnell ein Konsens darüber erzielt wurde, dass in Xinjiang ein Völkermord stattfindet [chinesische Verfolgung der uigurischen Bevölkerung], wie schnell die Entrüstung kam. Doch was in Palästina geschieht, kann kein Völkermord sein, es muss etwas anderes sein, heißt es, denn Israel wird angegriffen.

In der Welt der Information hat der Westen weltweit die Vorherrschaft. Ein Beispiel ist ein afrikanischer Internet-Stream mit fünf bis sechs Personen, die für den kleinen Instagram-Account arbeiten. Das Außenministerium der Vereinigten Staaten ging dagegen vor und ließ ihn diese Woche schließen. Er wird nicht mehr betrieben. Sie erlauben es kleinen Leuten nicht, sich zu Wort zu melden und zu sagen, dass sie eine andere Vorstellung davon haben, was in der Welt geschieht.

Und aufgrund von Faktoren wie Sprache und der Unfähigkeit, gegen sogenannte Desinformation vorzugehen, konnten chinesische oder russische Medien nicht global Fuß fassen. Auf YouTube schreiben westliche Unternehmen, die die Hardware kontrollieren: "Das sind russische Staatsmedien, das ist Desinformation." Es ist unmöglich, die Welt der Diskurse und Ideen zu kontrollieren, der Westen dominiert.

Multipolarität? Vielleicht irgendwann in der Zukunft. Aber im Moment denke ich, dass wir nüchtern und realistisch sein müssen, denn das ist noch nicht der Fall.

Den zweiten Teil des Interviews zu Brics+, westlicher Heuchelei und progressiven Lösungen zu drängenden Gegenwartskrisen finden Sie hier.

Vijay Prashad ist ein indischer Historiker, Herausgeber und Journalist. Er ist Autor und Chefkorrespondent bei Globetrotter, Chefredakteur von LeftWord Books und Direktor des Tricontinental Institute for Social Research. Er ist Autor von zahlreichen Büchern, darunter "The Withdrawal: Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power" zusammen mit Noam Chomsky.