Wenn ein Zornesausbruch mehr Reaktionen auslöst als Kriegsverbrechen

Ein Junge zieht schmutziges Bettzeug durch ein Zeltlager

Nach einem Bombenangriff. Mawasi Khan Younis, Gaza. Foto: shutterstock

Nach Bob Vylans Aussage auf dem Glastonbury Festival bekam er Einreiseverbote und Konzertabsagen. Aber kennzeichnet ihn das auch als Antisemiten? Ein Kommentar.

Der Künstler Bob Vylan, der „Tod der IDF“ (Israelische Armee) ruft, trifft damit keine antisemitische Aussage. Er hat keine Ethnie, keine Religion und keine Herkunft angegriffen, sondern eine Institution. Und die gilt in den Augen des weitaus größten Teils der Welt als gewalttätig, weil sie tödliche Gewalt gegen ein anderes Volk ausübt.

Tamer Nafar

Bob hat nicht „die Juden“ angegriffen, sondern eine Armee. Die Tatsache, dass sie zum jüdischen Staat gehört, macht die Aussage keineswegs antisemitisch!

Menschen suchen sich meist nicht aus, jüdisch zu sein, sondern sie werden in den jüdischen Glauben hineingeboren. Daher ist der Ruf „Tod den Juden“ antisemitisch, genauso wie „Tod den Arabern“ rassistisch und hasserfüllt ist.

Menschen entscheiden sich für das Töten

Dagegen entscheiden Menschen sich ganz bewusst, in einer Armee zu dienen, Waffen zu tragen, zu töten und getötet zu werden.

Im schlimmsten Fall hat Bob beleidigt oder provoziert – währenddessen schickt eine Regierung, ein ganzes Land seine Kinder in den Tod oder in den Krieg, und das nicht um zu überleben, sondern seine Vorherrschaft zu sichern.

Und genau das ist der Punkt: die ständigen Kunstgriffe, mit denen Israel die Welt davon ablenkt, wer tatsächlich um sein Überleben kämpft: die Palästinenser.

Ein Volk, das um sein Überleben kämpft?

Israel präsentiert sich immer wieder als ein Volk, das um sein Überleben kämpft. Aber welche Fakten stützen dieses Bild? Es ist ein Land mit einer der stärksten Armeen der Welt, mit Atomwaffen, mit Grenzen, die es mit eiserner Hand kontrolliert, mit einer mächtigen Wirtschaft und beispiellosen internationalen Allianzen.

Und dennoch wird jede militärische Aktion – jeder Bombenangriff, jede Ermordung, jede Zerstörung – der Welt im Mantel der Worte „Sicherheit“ und „Existenzrecht Israels“ präsentiert.

Die einzig wahre Bedrohung, der Israel ausgesetzt ist, ist seine Unfähigkeit, die Existenz eines anderen Volkes zu akzeptieren. Es geht nicht um Überleben – es geht um Herrschaft durch Angst.

Wer kämpft ums Überleben?

Wer kämpft wirklich um sein Überleben? Ein Volk ohne Staat, ohne Souveränität, dem Sprache, Bewegung und Bewusstsein verwehrt wird. Ein Volk, dessen Versuche, zu leben – sei es in Kunst, Landwirtschaft oder Bildung – sofort als „Terror“ abgestempelt wird. Ein Volk, das nicht einmal seine Toten ohne Erlaubnis begraben kann. Ein Volk, das allein durch seine Existenz als Bedrohung definiert wird.

Was wird wirklich geschützt, wenn der Staat Israel 18-Jährige im Namen seines „Existenzrechts“ in den Tod oder zum Töten schickt? Das Leben seiner Bürger? Oder ein Narrativ, das auf einer ewigen Opferrolle beruht; auf Segregation, Überlegenheit und der fortwährenden Rechtfertigung von Gewalt?

Und da ist keine Symmetrie. Es ist kein Konflikt zwischen Armeen. Es ist ein Albtraum, in dem das Opfer als Bedrohung dargestellt wird und der Besatzer sich als Unterdrückter maskiert.

Brot, Wasser, Strom, ein Zuhause

Die Palästinenser kämpfen nicht um ein Atomprogramm – Gott bewahre uns vor der nuklearen Macht Israels – sie kämpfen um Brot. Um Wasser, Strom, ein Zuhause. Und im Falle des Todes – um das Recht, begraben zu werden. Um das Recht zu sagen: „Ich existiere“, ohne Angst vor Scharfschützen zu haben.

Und genau das erschüttert die Zionisten wirklich. Nicht die Raketen. Nicht die Slogans. Sondern die Möglichkeit, dass ihre Erzählung der Realität nicht mehr standhält. Dass der Ruf „Tod der IDF“ eines unbewaffneten Künstlers kein Aufruf zum Töten ist, sondern eine Enthüllung. Ein Schrei, der den Zionismus mehr bedroht als jede Rakete.

Also ja – Bob Vylan hat etwas gerufen. Er hat nicht einmal ein Taschenmesser, um diesem Satz Taten folgen zu lassen. Lasst ihn brüllen. Ihr nehmt ja auch die Bombardements und Waffenlieferungen schweigend hin.

„Denken Sie über das Ausmaß der Katastrophe nach“

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Die Zahl der Toten in Gaza wird auf fast 100.000 beziffert – fünf Prozent der Bevölkerung. Und fünf Prozent der israelischen Bevölkerung? Das wären fast eine halbe Million – ungefähr so viele Menschen wie die Einwohnerzahl von Tel Aviv und Jaffa. Weg. Ausgelöscht.

Lassen Sie diese Zahlen auf sich wirken. Denken Sie über das Ausmaß der Katastrophe nach, die gerade – auch in Ihrem Namen – in die Geschichtsbücher eingraviert wird. Und endlich beginnt auch die westliche Welt langsam davon Kenntnis zu nehmen.

Und langsam erkennt man auch dort bei Ihnen, dass das keineswegs der Elefant im Raum ist, wenn Israel anlässlich jeglicher Kritik den üblichen Zirkus aufführt: „Oh nein, Antisemitismus!“.

Das ist nur eine lautstarke Fliege auf dem Rücken des Elefanten.

Tamer Nafar ist ein palästinensischer Rapper, Schauspieler, Drehbuchautor und Aktivist mit israelischer Staatsbürgerschaft. Nafar wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Lod auf, einer arabisch-israelischen Stadt in Israel, die unter Drogenschmuggel und Kriminalität leidet.

2016 spielte Nafar als Hauptdarsteller in dem halb-autobiografischen Spielfilm Junction 48, der bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde.

Tamer Nafar ist außer auf YouTube auch auf Instagram, Facebook und Spotify zu finden.