Ukraine im Visier: Warum der Nato-Gipfel falsche Signale sendet

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel, 16. Dezember 2021. Bild: Ukrainische Regierung / CC BY 4.0
Mehr Waffen, Nato-Perspektive für die Zeit nach dem Krieg: Das Treffen in Vilnius setzt auf endloses Kämpfen. So wird Sicherheit aber nicht geschaffen, sondern untergraben. Im Stillen gibt es aber positive Signale.
Der heute beginnende zweitägige Nato-Gipfel hat vor allem ein Thema: den Ukraine-Krieg. Dieser läuft bereits seit über einem Jahr, hat viele Menschenleben gekostet, ganze Städte dem Erdboden gleich gemacht, viele Millionen Ukrainer:innen zur Flucht getrieben, während die Kriegshandlungen im Zuge der Gegenoffensive der Ukraine jetzt weiter eskalieren.
Im Vorfeld des im litauischen Vilnius stattfindenden Nato-Gipfels bekräftigte US-Präsident Joe Biden erneut, dass man langfristig die Ukraine militärisch und mit Geld unterstützen werde. "Wir unterstützen die Ukraine – so lange wie nötig".
Es wird jedoch nicht damit gerechnet, dass der Ukraine wie von der Regierung in Kiew gewünscht eine formelle Einladung in die Nato angeboten wird. Vor der Abreise Richtung Vilnius betonte Biden: "Ich glaube nicht, dass es unter den Nato-Staaten Einstimmigkeit gibt, ob die Ukraine jetzt, mitten im Krieg, in die Nato-Familie aufgenommen werden soll".
Parallel werden verschiedene Szenarien durchgespielt, was man der Ukraine unterhalb formeller Zusagen anbieten kann. Im Gespräch ist zum Beispiel ein sogenannter Membership Action Plan.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj drängt darauf, dass seinem Land zumindest klare Sicherheitsgarantien gegeben werden. Die USA teilten daraufhin mit, dass man bereit sei, der Ukraine einen ähnlichen Schutz zu gewährleisten wie Israel. Auch Deutschland, Frankreich und Großbritannien könnten individuelle Zusagen machen.
Der Sprecher für Nationale Sicherheit des Weißen Hauses, John Kirby, bekräftigte auf dem US-Sender ABC aber erneut, dass man langfristig die Ukraine in die Nato aufnehmen wolle. Man werde das Land nicht nur im Kampf gegen Russland weiter unterstützen, sondern auch dafür sorgen, "dass die Nato schließlich in der Zukunft der Ukraine liegen wird".
Soweit der grobe Rahmen, in dem die Nato-Mitglieder beraten werden. Doch was ist davon zu halten?
Sicherlich ist es richtig, die Ukraine zu unterstützen, sich gegen die russische Aggression zu verteidigen und in direkter Nachbarschaft zu Russland nachhaltige Sicherheit zu erlangen. Aber die entscheidende Frage ist, ob das Festhalten an einer Nato-Perspektive für das Land sowie weitere Aufrüstung und schwere Waffenlieferungen, die auf dem Treffen auch Thema sind, diesem Ziel dienlich sind.
Dagegen sprechen einige Punkte, die aber in der veröffentlichten Debatte wenig im Fokus stehen. So sollte angesichts des fast zehnjährigen heißen Konflikts (ab 2014) und dem einjährigen brutalen Krieg jedem klar geworden sein – und war es schon sehr lange für die, die den Prozess der Nato-Ostererweiterung verfolgt und die russische Position dazu zur Kenntnis genommen haben –, dass Russland es niemals akzeptieren würde, dass die Ukraine sowie Georgien zu Mitgliedern des westlichen Militärbündnisses Nato werden.
Von Militäranalysten und Russlandkennern in den USA ist immer wieder herausgestellt worden, dass Russland diesen Schritt als absolute rote Linie ansieht. Das sei auch unabhängig davon, wer in Russland an der Macht sei, ob nun Putin oder jemand anderes.
Wenn nun die USA und viele ihrer Verbündeten weiter wie schon beim Nato-Gipfel in Bukarest 2008 bekräftigen, dass die Ukraine zwar nicht jetzt, aber nach dem Krieg zur Nato dazustoßen soll, wird damit ein klares Signal an Moskau gesendet: Nur wenn Russland den Krieg fortsetzt, hat es die Möglichkeit, seine eigenen, als existenziell betrachteten Sicherheitsinteressen zu bewahren, nämlich die Nato-Ausdehnung auf die Ukraine zu verhindern.
Dieses Signal ist aber in Hinsicht auf Sicherheit fatal, auch wenn die Invasion Russlands durch nichts zu rechtfertigen ist und die Suche der Ukraine nach Schutz unter dem Nato-Mantel verständlich ist.
Denn wir müssen uns mit den Folgen der daraus erwachsenen Pattsituation auseinandersetzen. Wie der damalige US-Präsident George H. W. Bush in seiner Rede in Mainz "A Europe Whole and Free" im Mai 1989 schon klarstellte, müsse Russland, sofern es nicht zerfällt, irgendwann in der Zukunft als wiedererwachte Großmacht behandelt werden, die unter welcher Regierung auch immer das verfolgen wird, was Russland als seine legitimen Interessen ansieht.
Und ein zentrales Interesse Moskaus ist es nun einmal, nicht direkt an einer für das Land wichtig erachteten Außengrenze eine gegnerische Militärallianz platziert zu bekommen.
Der Elefant im Raum
Sowenig eine Nato-Mitgliedschaft und die ständigen Versprechen darauf, die Ukraine sicherer machen wird, im Gegenteil, so sehr ist die Ankündigung, das Land auf unbestimmte Zeit mit immer schwereren und fortgeschritteneren Waffen auszustatten – während ein schneller Sieg für Kiew sich trotz dieser nicht realisiert –, geeignet, die Lage für die Ukrainer:innen, aber auch für Europa insgesamt zu verschärfen.
Da die Ukraine allein mit mehr Waffen eine Wende auf dem Schlachtfeld nicht erzwingen kann, worauf Militärexperten in den USA verweisen, könnte Kiew vielmehr versucht sein, sie zunehmend für Angriffe auf russisches Territorium zu nutzen. Das könnte Russland dazu bringen, Versorgungslinien der Nato von Polen und Rumänien mit Langstreckenraketen als Vergeltung zu attackieren, was bisher noch nicht geschehen ist. Die Nato könnte sich wiederum gezwungen sehen, darauf zu reagieren – um nicht ihren Ruf zu ruinieren.
Ein eingefrorener Konflikt und "ewiger Krieg" könnte Russland zudem langfristig radikalisieren und zu asymmetrischer Kriegführung gegen Europa verleiten, um die Europäer dafür "bezahlen" zu lassen.
Der Nahe Osten mit dem Konfliktherd Israel und Iran zeigt, was an Sicherheit aus der militärischen Aufrüstung und bedingungsloser Unterstützung seit Jahrzehnten resultiert: permanente Verunsicherung einer ganzen Region und ihrer Bevölkerungen sowie die Erosion diplomatischer Lösungen.
Im Fall von Russland hat man es dabei mit einem Gegner zu tun, der eine regionale Großmacht ist und über Atomwaffen verfügt – im Hintergrund die ökonomische Macht China, die zunehmend in die geopolitische Blockkonfrontation einbezogen wird, siehe den Streit um die Inselrepublik Taiwan.
Die Europäer schauen dabei eher zu, ohne einen eigenständigen, von den USA unabhängigen Kurs zu verfolgen, während sie teures und schmutziges LNG als Ersatz für russisches Gas aus den USA importieren und ihnen ein Wirtschaftskrieg mit China droht.
Wie Robert E. Hunter auf Responsible Statecraft argumentiert, sollten die EU-Mitgliedsstaaten beim Nato-Gipfel endlich beginnen, über den "Elefanten im Raum" zu sprechen: die Rolle Russlands für die europäische Sicherheitszone. Das sei letztlich wichtiger, so der ehemalige US-Botschafter bei der Nato, als irgendeine verschlungene Nato-Beitritts-Kompromiss-Formulierung, die ausgehandelt werde, um Selenskyj zu beruhigen.
Der Gipfel in Vilnius wird nichts am Krieg in der Ukraine und der Konfliktlage ändern, sondern den bedrohlichen Zustand förmlich in Beton gießen. Das ist keine gute Nachricht.
Die Signale, die vom Treffen ausgehen, das zeigen schon die Wortmeldungen im Vorfeld, werden den Krieg verlängern, mit allen damit verbundenen potenziellen Eskalationsspiralen.
Doch es gibt auch etwas Positives zu vermelden, das mehr im Hintergrund, im Stillen und nicht auf der großen politischen Bühne abläuft. So berichtete NBC vor einigen Tagen, dass eine Gruppe ehemaliger US-Regierungsbeamter geheime Gespräche mit "prominenten Russen" in den Vereinigten Staaten geführt habe, um "die Grundlagen für mögliche Verhandlungen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine" zu schaffen.
Zu der Gruppe gehörte unter anderem der ehemalige Diplomat und scheidende Präsident des Council on Foreign Relations, Richard Haass, sowie ehemalige US-Regierungsbeamte. Die Gruppe soll sich laut Medienangaben im April mehrere Stunden lang mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow in New York getroffen haben.
Das ist alles weit entfernt von Verhandlungen, sicherlich. Aber bevor an Verhandlungen überhaupt gedacht werden kann, müssen die Fühler ausgestreckt sowie Ideen und Konzepte getestet werden.
Daher kann ein solches Treffen Hoffnung verbreiten. Der Nato-Gipfel hingegen bietet lediglich mehr vom schlechten Gleichen.