Strategischer Wandel: Warum Russland seine Militärdoktrin überdenkt – und was das bedeutet

Knopf mit dem Atomzteichen und der Aufschrift „Start“ auf Russisch

Bild: Fly Of Swallow Studio/. Shutterstock.com

Russland überprüft seine militärische Strategie grundlegend. Der Ukraine-Konflikt hat Schwächen offenbart. Was plant der Kreml? (Teil 1)

Das vorliegende Dokument, von dem Telepolis in Kooperation mit dem Potsdamer Welttrends-Verlag erstmals wesentliche Teile in deutscher Übersetzung veröffentlicht, bietet einen tiefen Einblick in die aktuelle russische Nukleardoktrin und ihre sicherheitspolitischen Implikationen. Das Papier verdeutlicht die Radikalisierung der russischen Haltung und die wachsenden Gefahren eines atomaren Schlagabtauschs. Dieses exklusive Werk, das auf einer breiten russischen Expertenanalyse basiert, soll Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit sensibilisieren und zur Abrüstungsdebatte beitragen. Die Vollversion ist bei unserem Kooperationspartner, dem Welttrends-Verlag, erhältlich.


Der Konflikt in der Ukraine – aus russländischer Sicht die sogenannte "Spezielle Militäroperation" – ist immer noch ein indirekter Krieg zwischen Russland und dem kollektiven Westen unter Führung der USA [Vereinigten Staaten]. Dieser Umstand und der Konflikt zwingen zu einem neuen Blick auf die Fragen der militärischen und geopolitischen Abschreckung/Zügelung unserer Hauptgegner.

Die bestehende Konzeption der Abschreckung/Zügelung wurde während des "Kalten Krieges" gegen die USA [Vereinigten Staaten] entwickelt und dann an die Situation einer deklarierten, aber nie verwirklichten Partnerschaft mit dem Westen angepasst.

Der Übergang von einer gescheiterten Partnerschaft in eine neue Konfrontation und dann in eine offene Konfrontation lässt eine Rückkehr zum ursprünglichen Format des "Kalten Krieges" nicht zu. Der Grund dafür ist die grundlegende Veränderung des geopolitischen, geoökonomischen, ideologischen, sozialen, militärtechnischen Kontextes, in dem die "Strategie der nationalen Sicherheit" des Landes umgesetzt wird.

Die Ukraine-Krise hat das zentrale Problem der Sicherheit Russlands deutlich gemacht: Die nukleare Abschreckung/Zügelung schützt das Land nicht vor der geopolitischen Aggression eines Gegners, der eine existenzielle Bedrohung für unser Land darstellen kann.

Das Wort "Abschreckung/Zügelung" (ru – "сдерживание") selbst, obwohl seit langem akzeptiert und in offiziellen Dokumenten verwendet, ist nicht zutreffend, wenn die Rede von der Bestimmung [vom Zweck] der Nuklearstreitkräfte ist.

Wir "zügeln" nicht einen möglichen nuklearen oder sonstigen Überfall vonseiten eines potenziellen Gegners, sondern wir schrecken einen Überfallpläne schmiedenden Aggressor dadurch ab, dass dieser Überfall für ihn selbst garantiert unannehmbare oder sogar katastrophale Folgen haben wird. Anstelle von nuklearer Abschreckung/Zügelung [ru – "ядерноe сдерживаниe"] schlagen wir vor, von nuklearer Einschüchterung [ru – "ядерноe устрашениe"] und im Medienbereich von "Ernüchterung" [ru – "отрезвлении"] des wahrscheinlichen Gegners zu sprechen.

Die Wesensmerkmale von Kernwaffen machen die nukleare Einschüchterung praktisch auf nahezu jeder Ebene zu einem strategischen Instrument – unabhängig von der Stärke der Nuklearladung oder der Reichweite des Trägers. Angesichts des Charakters von Kernwaffen und des Heiligenscheins oder gar Mythos, der sie umgibt, ist der Einsatz der Kernwaffe ein Schritt von strategischer Bedeutung. Diese Situation könnte sich ändern, wenn – Gott bewahre – diese Waffe zum Einsatz käme und sich herausstellte, dass diese, nur im begrenzten Maßstab eingesetzt, nicht zu einer Eskalation und weltweiten Katastrophe führt.

Aber ein solcher Einsatz könnte ihre Rolle als Instrument zur Verhinderung eines jeden Krieges schwächen. Dies ist ein zusätzliches Argument, das für eine vorsichtige und durchdachte Politik der nuklearen Abschreckung-Einschüchterung [im Original: ru – сдерживания-устрашения] spricht.

Die nukleare Abschreckung-Einschüchterung hat viele Funktionen (im gesamten Bericht aufgeführt und erörtert). Deren Nichtverstehen und Nichtbeachtung führt zur Minderung der Wirksamkeit der politischen Nutzung des nuklearen Faktors in der militärpolitischen Strategie Russlands.

Angesichts der Gesamtheit des militärischen, militärökonomischen und demographischen Potenzials der derzeitigen Hauptgegner Russlands – der USA und ihrer Nato-Verbündeten – sollten wir nicht – wie das die Sowjetunion machte – nach einer allgemeinen militärischen Parität zu ihnen streben.

Außerdem war die Parität als numerische Gleichheit bei Gefechtsladungen und Trägermitteln in der Vergangenheit kein zuverlässiger Indikator für die Wirksamkeit der nuklearen Einschüchterung. Stattdessen schlagen wir als Kriterium die militärtechnische, politische und psychologische Fähigkeit zur aktiven nuklearen Einschüchterung vor, d. h. die Fähigkeit und Entschlossenheit, Nuklearwaffen in den Fällen einzusetzen, wenn Russlands Kerninteressen betroffen sind.

Nukleare Einschüchterung des Gegners ist die wichtigste, aber nicht die einzige Komponente der Abschreckung/Zügelung – der Begriff ist hier zutreffend – eines potenziellen Gegners durch militärische Gewalt. Die Streitkräfte allgemeiner Bestimmung gewährleisten die Sicherheit des Landes und sind in ständiger Bereitschaft, einen Überfall des Gegners abzuwehren.

Der Gegner muss jedoch davon überzeugt werden, dass Russland sich nicht erlaubt die Kernwaffen "in Klammern zu setzen", um zu gewinnen und dass es auf einen entschiedenen Sieg eingestellt ist – über jeden Gegner, der in Russlands Souveränität, territoriale Integrität und das Leben seiner Bürger eingegriffen hat oder einen solchen Angriff vorbereitet.

Neben der militärischen Komponente umfasst die strategische Abschreckung-Einschüchterung auch eine nicht weniger wichtige räumliche (geopolitische) Komponente. Als ein wichtiges Problem des zeitgenössischen russländischen strategischen Denkens stellt sich die Identifizierung der strategischen Abschreckung/Zügelung mit nur einem ihrer Elemente – dem nuklearen – dar.

Keineswegs ist es möglich, die Arten der strategischen Abschreckung/Zügelung zu trennen. Gerade das Fehlen bzw. die Schwäche der geopolitischen Abschreckung/Zügelung in der "Westlichen Strategischen Richtung" nach dem Ende des Kalten Krieges führte zu dem militärischen Zusammenstoß in der Ukraine. Dieser Zustand muss dringend korrigiert werden, und zwar in allen strategischen Richtungen. Russland muss wieder ein System zur Nichtzulassung von feindlicher Präsenz entlang seiner gesamten Grenzen – in erster Linie mit den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) – aufbauen.

Die nukleare Einschüchterung und die Abschreckung/Zügelung mittels Streitkräften allgemeiner Bestimmung sollten durch Limitierung oder Verdrängung der feindlichen Präsenz in diesen Ländern sowie durch die Verhütung von Bedrohungen für Kerninteressen zukünftiger russländischer Sicherheit ergänzt werden.

Die Unterschätzung der Bedeutung der geopolitischen Abschreckung/Zügelung der USA [Vereinigten Staaten] im postsowjetischen Raum nach dem Zerfall der UdSSR sowie das unzureichende Vertrauen in die nukleare Einschüchterung in der Krise um die Ukraine, die zur Jahreswende 2014 begann, zwangen Russland im Februar 2022 zur Speziellen Militäroperation (SMO) überzugehen. Von Anfang an wurden die militärischen Handlungen Russlands begleitet von Verweisen auf die nukleare Einschüchterung. Dies erlaubte bisher, ein direktes militärisches Eingreifen der USA und ihrer Verbündeten in den Konflikt zu verhindern.

Die hohe Schwelle für den Einsatz von Kernwaffen, die Rückständigkeit und die bekannte "Oberflächlichkeit" der Nukleardoktrin ("auf unsere Kerninteressen wagt man nicht auszuprobieren zuzugreifen, weil Russland eine nukleare Supermacht ist") erlaubten gleichzeitig dem Gegner, auf den Sieg über Russland auf dem Gefechtsfeld oder seine Zermürbung zu hoffen.

Angesichts des nuklearen Status der RF [Russischen Föderation] ist Washington in der Tat sehr daran interessiert, einen direkten Zusammenstoß nicht nur zwischen US-amerikanischen, sondern auch zwischen Nato-Truppen und den russländischen Streitkräften zu vermeiden. Die Idee einer Nato-"Flugverbotszone" über der Ukraine wurde zurückgestellt.

Die Versuche des Westens, Druck auf Minsk auszuüben, wurden durch die Stationierung operativ-taktischer Nuklearraketensysteme der RF auf dem Territorium von Belarus abgewehrt. Die Äußerungen des französischen Präsidenten über die Möglichkeit, reguläre Truppen der Nato-Länder in die Ukraine zu entsenden, wurden von den USA bisher nicht unterstützt.

Dennoch kamen die USA zu dem Schluss, dass die Länder des Westens einen indirekten Krieg gegen Russland in der Ukraine führen können und den Einsatz sogar ständig erhöhen könnten, ohne einen nuklearen Schlag von russländischer Seite befürchten zu müssen. Unter diesen Bedingungen hat sich das Kiewer Regime als nahezu ideales Werkzeug in Washingtons Händen erwiesen – als ein billiger Söldner, und die Ukraine verwandelte sich in Verbrauchsmaterial.

Die USA haben sich sogar eine für ihre bisherigen Beziehungen zu Moskau noch nie dagewesene Aufgabe gestellt: Russland eine strategische Niederlage zuzufügen – durch die SKU [Streitkräfte der Ukraine] bei allseitiger Unterstützung vonseiten der USA/des Westens.

Die europäischen Eliten, die noch stärker als die amerikanischen Eliten vom "strategischen Parasitismus" – der Gewöhnung an den Frieden und der fehlenden Angst vor dem Krieg – gezeichnet sind, haben die Fähigkeit, strategisch zu denken, schließlich verloren. Da sie sich in einer komplexen Krise befinden und ihre Legitimität verlieren, haben sie ganz und gar "über die Stränge geschlagen". Die herrschenden Kreise Europas sind bereits mit politisch-moralischen und militärökonomischen Vorbereitungen für einen großen Krieg mit Russland beschäftigt.

Seit Ende 2023 ist es den Streitkräften Russlands gelungen, die Initiative auf dem Kriegsschauplatz zu übernehmen. Moskau steht nun vor der Aufgabe, die Initiative im Krieg insgesamt zu ergreifen. Der Gegner ist bestrebt, die materiellen Ressourcen Russlands zu erschöpfen und es psychisch zu zermürben. Unter Berücksichtigung wirtschaftlicher, sozialer, psychologischer und anderer Faktoren muss ein Sieg im Krieg innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums – von höchstens zwei Jahren – errungen werden. Unnötig jedoch ist, sich zu täuschen: Die Konfrontation mit dem kollektiven Westen, die eine innere – politisch-moralische – Mobilisierung erfordert, wird noch lange Zeit danach andauern.

Für die Erringung eines Sieges ist vieles erforderlich, und zwar nicht nur auf dem Gefechtsfeld. Da die Konfrontation Russlands mit dem kollektiven Westen ein integraler Bestandteil der globalen Krise ist, deren Hauptinhalt der schwierige und schmerzhafte Übergang von der Hegemonie des Westens unter Führung der USA [Vereinigten Staaten] zu einem neuen, ausgewogeneren Modell der Weltordnung ist, muss Moskau aktiv mit Partnern aus Asien, Afrika und Lateinamerika zusammenwirken.

Dies erfordert die Ausarbeitung und Umsetzung einer flexiblen Koalitionsstrategie zur Förderung übereinstimmender Interessen Russlands und der Länder, die die Weltmehrheit darstellen.

Die Übereinstimmung der Interessen allein ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Grundlage für die Formierung einer Koalition. Es muss eine gemeinsame Wertekomponente vorhanden sein. Russland hat nicht die Absicht, irgendjemandem seine Ideologie aufzuzwingen (die auf jeden Fall erst noch entwickelt werden muss – und das so schnell wie möglich).

Aber indem es sich offiziell zu einer "Staats-Zivilisation" erklärt hat, hat es dem westlichen Modell der globalen Verwestlichung seine Agenda der Formierung einer neuen Weltordnung als komplexen Blütenstand vieler Kulturen und mehrerer Zivilisationen von Weltrang entgegengesetzt.

Um auf Fragen im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Krieg zurückzukommen, sind wir der Meinung, dass die folgenden Schritte unternommen werden sollten.

Dmitrij Witaljewitsch Trenin, Sergej Josefowitsch Awakjanz, Sergej Alexandrowitsch Karaganow
Dmitrij Witaljewitsch Trenin, Sergej Josefowitsch Awakjanz, Sergej Alexandrowitsch Karaganow

Die Autoren:

Dmitrij Witaljewitsch Trenin – Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Globale Militärökonomie und Strategie,Forschungsprofessor an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik, Nationale Forschungsuniversität Higher School of Economics, Mitglied des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik. Hauptautor des Berichts.

Sergej Josefowitsch Awakjanz – Admiral, Direktor des Instituts für Globale Militärökonomie und Strategie, Nationale Forschungsuniversität Higher School of Economics, Mitglied des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik.

Sergej Alexandrowitsch Karaganow – "Verdienter Professor", Wissenschaftlicher Leiter der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik, Nationale Forschungsuniversität Higher School of Economics, Ehrenvorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik. Leiter des Autorenkollektivs verantwortlicher Mitredakteur des Berichts.

WeltTrends Cover

Der Artikel erscheint im Rahmen der Medienkooperation mit WeltTrends – Zeitschrift für Internationale Politik.