Selenskyj vs. Saluschnyj: Vertrauen in ukrainische Politik bröckelt, nicht aber in die Armee

Selenskyj begrüßt Saluschnyj während einer Auszeichnungszeremonie im September 2022. Bild: president.gov.ua, CC BY 4.0
Wie wurde ein General zum politischen Rivalen Selenskyjs? Welche politischen Strömungen spielen eine Rolle in der Ukraine? Über eine Gesellschaft im Krieg.
Die ukrainische Politik ist ein schnelllebiges und mehr von Personen, als von Parteien geprägtes Geschäft. Eine stabile Parteienlandschaft entstand in der nachsowjetischen Geschichte nie.
Persönlichkeiten wichtiger als Parteien
Hinter vielen Kräften stehen politische Persönlichkeiten, Oligarchen oder andere Drahtzieher. Parteien entstanden und verschwanden je nach deren Bedarf.
Lange Zeit wurde diese Gemengelage gerade in der Berichterstattung überlagert vom Bild der prowestlichen Liberalen und Nationalisten, die vor allem im Westen des Landes ihre Hochburgen hatten und einem mehrheitlich prorussischen Landesosten.
Doch dieses Tauziehen wurde schon 2014 beendet, als im Zuge des Euromaidan und der faktischen Abspaltung der Rebellengebiete im Donbass und der Halbinsel Krim die prorussischen Kräfte ihre wichtigsten Hochburgen und damit die Mehrheitsfähigkeit im Restgebiet verloren.
Der Niedergang der "Prorussen"
Den endgültigen Stoß in die Bedeutungslosigkeit versetzte den Kräften, die sich unter den Ukrainern mit Russland gut stellen wollten, Putin mit seiner Ukraine-Invasion 2022. Viele prorussisch gesinnte Ukrainer waren geschockt – es war oft ihre persönliche Heimatregion, die durch die Invasion in Schutt und Asche gelegt wurde, zivile Opfer kamen aus der eigenen Stadt oder Gegend.
Viele flüchteten. Die Ostukrainer, sofern sie keine Anhänger der Kiewer Regierung waren, befanden sich nun zwischen den Fronten eines Konflikts, den sie unbedingt hatten vermeiden wollten.
Ihre politische Vertretung geriet durch den Verdacht, ein Hort von "Verrätern" zu sein, in Kiew in starke Bedrängnis, die bis zu Verboten mehrerer Parteien und einer weiteren Unterdrückung alles Russischen ging.
Prorussische Bewegung auch auf Westkurs
Die Stimmung im Osten und Süden der Ukraine kippte angesichts des Krieges zuungunsten der Invasoren. In einer Umfrage des Kiyv International Institute of Soziology Ende 2023 sprachen sich im Süden und Osten der Ukraine trotz verschlechternder militärischer Lage über zwei Drittel der Bewohner gegen territoriale Zugeständnisse an Russland aus. Der ins Land getragene Krieg wog schwerer als die Repression danach.
Dennoch existiert die einstmals prorussische Bewegung weiter, im ukrainischen Parlament als "Plattform für Leben und Frieden" mit nur noch 25 von insgesamt 450 Abgeordneten. Sie versteht sich immer noch als Vertretung russischsprachiger Ukrainer, bekennt sich aber nun offiziell zum ukrainischen Westkurs, sogar zu einem Beitritt zur Nato.
Politisch spielt sie kaum eine Rolle. Von ihr losgesagt haben sich Politiker, die sich offen zu Russland bekennen und nun teilweise als Kollaborateure den Besatzungstruppen in den russisch besetzten Gebieten dienen.
Selenskyjs Kurswechsel nach rechts
Beherrschend in Kiew sind durch den Niedergang des einstigen Gegenpols seit 2014 die Kräfte, die schon immer den ukrainischen Drang nach Westen unterstützten. Auch hier gab es zahlreiche Strömungen und Unterschiede. Prägend ist unter vielen von ihnen ein marktliberales Element.
Der aktuelle Präsident Wolodymyr Selenskyj trat 2019 ursprünglich als Vertreter derer an, die innerhalb der prowestlichen Kräfte einen eher gemäßigten Kurs gegenüber Russland vertraten. "Wir müssen mit Russland verhandeln, mit dem Schießen aufhören" beschreibt der Politologe Nikolai Davidyuk in der ukrainischen Ausgabe von Forbes Selenskyjs anfänglichen Kurs. Dieser hatte ihn gegen den offen antirussischen Vorgänger und Süßwarenoligarchen Poroschenko an die Macht gebracht.
Dieser Kurs Selenskyjs änderte sich bereits vor der russischen Ukraine-Invasion. Sie brachte dann seinen endgültigen Wandel hin zum Nationalliberalismus.
"Die Ideologie von Selenskyj ähnelt überhaupt nicht der, die ihn an die Macht gebracht hat. Jetzt ist er ganz militanter Anführer" meint dazu Davidyuk. Selenskyjs tatsächliche politische Richtung bleibe unbestimmt.
Polarisierung und Polit-Frust
Sein Kollege Wladimir Fesenko meint, er habe mittlerweile die rechte Ideologie seines Vorgängers Poroschenko übernommen. Zu unterscheiden ist sie jedoch weiter vom offenen Rechtsradikalismus anderer ukrainischer Kräfte, die im Folgenden noch geschildert werden.
Die von der Invasion schockierten Ukrainer folgten Selenskyjs Kurswechsel zunächst in überwältigender Mehrheit – er baute seine Unterstützung zu dieser Zeit massiv aus. Der Krieg führte zu einer allgemeinen, nationalen Polarisierung, einem neuen Patriotismus und einer Solidarisierung des Volkes. Im Dezember 2022 betrug Selenskyjs Unterstützungsrating 84 Prozent.
Doch mit zunehmendem Kriegsverlauf, vor allem im für die Ukraine militärisch erfolglosen Jahr 2023, bröckelte die Einheitsfront zwischen Politik und Volk. Letzteres steht eben aus den Erfahrungen früherer Jahrzehnte seinem oft korrupten politischen Establishment eher distanziert gegenüber, wobei der Machtmissbrauch stets über alle politischen Richtungen ging.
Diese Erfahrung haben die Ukrainer nicht vergessen, sie wurde nur vom russischen Angriff zeitweise überrollt.
Die Unterstützung des Volkshelden bröckelt
Die Unterstützung Selenskyjs sank bis Ende 2023 auf 60 Prozent. Dem ukrainischen Parlament, beherrscht von seiner Partei, trauen sogar nur 11 Prozent, Selenskyjs Regierungsmannschaft 14 Prozent.
Völlig unberührt von diesem Vertrauensverlust blieb jedoch das ukrainische Militär, dem auch im Dezember 2023 96 Prozent der Ukrainer vertrauten und dessen damaligem Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj, der mit 88 Prozent auf eine weiter überwältigende Vertrauensbasis kam.
Die brenzlige Lage der Ukraine aktuell lastet die Bevölkerung also vor allem ihrer Politik und nicht der Armee an. Selenskyj verfügt infolge seiner radikalen Kurswechsel über keine ideologisch durch seine Ziele überzeugte Wählerbasis.
Armeechef Saluschnyj wurde unversehens zum populären, politischen Rivalen. Aufgrund des Kriegsrechts sind Wahlen in der aktuellen Ukraine ausgesetzt, Selenskyjs aktuelle Amtszeit wäre sonst momentan gerade zu Ende.
Mehr Zustimmung für General Saluschnyj
Just zu diesem Zeitpunkt erbrachte eine Umfrage, dass im Falle von Präsidentschaftswahlen wesentlich mehr Leute für Saluschnyj als für Selenskyj gestimmt hätten.
Wohl nicht zufällig wurde Saluschnyj zur Zeit, als die Umfrage lief, aus dem Amt des Oberbefehlshabers der Streitkräfte entfernt und auf einen Botschafterposten in Großbritannien ins ferne Ausland versetzt. Sein Nachfolger Oleksandr Syrskyj verfügt über viel militärische Erfahrung, aber keine annähernd gleich große Vertrauensbasis im ukrainischen Wahlvolk.
Selenskyj hofft so, einen politischen Rivalen in der unruhigen ukrainischen Politik weniger zu haben. Da viele andere Politgrößen etwa des Euromaidan schon wieder vom Politsumpf verschluckt wurden, könnte diese Strategie aufgehen, sofern es militärisch für Kiew in den nächsten Monaten nicht katastrophal läuft.
Es gibt zwei ukrainische Linke
Wer sich wundert, warum in einem Artikel über die ukrainische Politik weder die politische Linke noch die gerade in Russland viel zitierten ukrainischen Rechtsextremen eine Rolle spielen, dem seien am Ende noch entsprechende Informationen nachgeliefert. Natürlich sind beide politische Richtungen in der Ukraine vorhanden.
Die linken Kräfte waren in der nachsowjetischen Ukraine von Anfang an gespalten. Altlinke Kommunisten hatten, ähnlich wie ihre Genossen in Russland, lange aktive Kader, wirkten jedoch auf die jüngeren Ukrainer sehr unattraktiv.
Ihren Todesstoß erhielt die prorussische Altlinke ebenfalls durch die russische Ukraine-Invasion. Es folgte ein Verbot der KPU, der Vorsitzende Symonenko ging ins weißrussische Exil.
Neue moderne Linke
Die Repression traf hier aber eine bereits aussterbende Kraft, einige ukrainische Kommunisten wechselten zu den separatistischen Rebellen, andere wanden sich von der Partei wie von Russland ab.
Neben den Altkommunisten gab es seit den 1990er-Jahren eine neue, modernere Linke, die mit den Kommunisten in deren Sowjetnostalgie nicht konform ging. Diese stellte sich bei Beginn des Krieges 2022 weitgehend hinter die Verteidigung ihres Landes.
Sie engagiert sich seitdem vor allem humanitär. Ihre Vertreter schockieren auf internationalen Gesprächszirkeln immer wieder kriegskritische internationale Linke mit der Forderung nach einer möglichst großen Unterstützung Kiews durch westliche Waffen. Sie wurden vom ukrainischen Liberalismus mehr oder weniger assimiliert.
Rechtsextreme beherrschen die Straße, aber nicht die Politik
Die Rechtsextremen in der Ukraine spielten eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei der Straßengewalt des Euromaidan, danach in militärischen Freiwilligeneinheiten und bis heute in ihren Einheiten in der ukrainischen Armee.
Sie gelten als harte Kämpfer, aber auch als offen faschistisch – ohne die Scham manch westlicher Rechtsextremer beim Bezug auf das Dritte Reich.
Mit Symbolen der Nazizeit hält man sich nach einigen Skandalen 2014 eher aus Rücksicht auf westliche Unterstützung zurück – die Leute sind, sofern nicht gefallen, noch die gleichen. Der Rechte Sektor oder das Bataillon Asow sind Neofaschisten mit internationaler Bekanntheit.
Auch die allgemeine Freude von Rechtsextremen an Militanz und Krieg führte zu ihrer Konzentration im Armee-Segment, wie man das ja auch deutschen Spezialeinheiten nachsagt.
Anders als Gesinnungsgenossen in vielen westlichen Staaten schafften die ukrainischen Rechtsextremen es jedoch nicht, ihre Straßen- und Schützengrabenaktionen in dauerhafte politische Erfolge zu verwandeln. Rechte Bewegungen versagten bei den letzten ukrainischen Parlamentswahlen 2019, nur ein einzelner Abgeordneter aus der einst starken Rechtspartei Swoboda sitzt seitdem über ein Direktmandat noch im Parlament.
Politisches System nicht gefestigt
Größer ist die Macht der Ultrarechten auf der Straße, auch gibt es keine "Brandmauer" im rechtsliberalen ukrainischen Mainstream. Die Neofaschisten verfügen aufgrund ihres Frontkampfes über ein gewisses Ansehen.
Obwohl Selenskyj ab dem dritten Jahr seiner Amtszeit die Pfade seines früheren Linksliberalismus verließ, ist es jedoch keinesfalls gerechtfertigt, ihn – wie es das offizielle Russland tut – als "ukrainischen Nazi" zu bezeichnen. Wie die exilrussische Onlinezeitung Meduza feststellt, hat die russische Propaganda das Ausmaß der Verbreitung nationalistischer Gefühle in der Ukraine immer übertrieben.
"Dafür wurden reale Fälle von Rechtsextremismus herangezogen", schreibt die Zeitung, "aber diese Fälle wurden so dargestellt, als wären sie etwas Alltägliches und Allgegenwärtiges im Land". Sie sind nicht allgegenwärtig, auch nicht an der Politikspitze.
Trotz alledem ist das ukrainische politische System weit von Stabilität entfernt, ebenso wie das einstige Volksheldentum von Wolodymyr Selenskyj, das nun gerade einmal zwei Jahre anhielt.
Maßgeblich wird es vom Fortgang des Krieges und der wirtschaftlichen Situation der Ukrainer abhängen, in welche Richtung sich das politische System in Kiew weiter bewegt. Denn die Verantwortung für beides sehen die Ukrainer vor allem in ihrer Politik, der sie mehrheitlich misstrauen.