"Russland verfügt immer noch über die Eskalationsdominanz"

Reiner Schwalb über die Perspektiven nach fünf Monaten Krieg in der Ukraine, den Sinn von Waffenlieferungen und warum wir das Ende des Krieges nicht untätig abwarten sollten.
Herr Schwalb, fünf Monate nach Kriegsbeginn hat sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor knapp einer Woche siegessicher gezeigt. Teilen Sie seinen Optimismus?
Reiner Schwalb: Sein Optimismus ist sicherlich wichtig und notwendig, alleine um die Motivation und den Kampfeswillen der ukrainischen Streitkräfte und auch der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Die Frage nach Siegessicherheit ist nicht so einfach zu beantworten. Was bedeutet für Präsident Selenskyj Sieg? Ist es eine Rückeroberung des gesamten ukrainischen Territoriums, ein militärisches Erreichen des Zustandes vor dem 24.02. und dem russischen Überfall? Sind es Friedensverhandlungen, die eine Option auf eine Wiedereingliederung aller besetzten Gebiete ermöglicht?
Einer der großen strategischen Denker des letzten Jahrhunderts, Lidell Hart, schrieb: "The object in war is a better state of peace -- even if only from your own point of view." (Etwa: "Das Ziel im Krieg liegt in einem besser ausgestalteten Frieden – wenn auch nur vom eigenen Standpunkt aus betrachtet.") Deswegen sei es wichtig, den Krieg immer unter der Berücksichtigung zu führen, welchen Frieden man erreichen will.
Reiner Schwalb ist Brigadegeneral a.D. und ehemaliger Militärattaché an der Deutschen Botschaft in Moskau.
Wie soll der Zustand nach einem Krieg aussehen? Dies gilt sowohl für einen Aggressor als auch für denjenigen, der sein Land legitim verteidigt. Einen stabileren und besseren Frieden kann es meiner Meinung nach nur im Kontext der den Krieg überwölbenden Fragen geben.
Wir haben hier ja drei Ebenen zu betrachten. Erstens geht es um einen USA-Russland Konflikt um strategische Stabilität. Zweitens um einen Nato-Russland Konflikt um Sicherheitsarchitektur in Europa. Und drittens um einen Russland-Ukraine-Krieg mit nicht ganz klaren russischen Zielen.
Siegessicher kann sich Präsident Selenskyj dann fühlen, wenn alle drei Ebenen behandelt und in eine für die Ukraine positive Richtung zeigen werden. Rein militärisch betrachtet teile ich Selenskyjs Optimismus nicht. Russland verfügt immer noch über die Eskalationsdominanz.
Wenn man derzeit deutsche Zeitungen liest, kann das durchaus verwirren. In der Berliner Zeitung hieß es: "Russland: Der Westen verhindert Friedensverhandlungen mit Ukraine". Das Redaktionsnetzwerk Deutschland titelt hingegen: "Lawrow lehnt Friedensverhandlungen ab und weitet Kriegsgebiete aus". Wo liegt die Wahrheit?
Reiner Schwalb: Das ist eine Frage der Betrachtungsweise. Russische Propaganda suggeriert gegenüber den Bürgern der Russischen Föderation, dass die westliche Unterstützung der Ukraine den Krieg verlängern würde. Den Krieg, den der Kreml "Spezialoperationen" nennt und den Russland zu seinen Bedingungen beendet sehen möchte.
In Deutschland sehen wir, dass selbst Lawrow beim G-20-Gipfel keine Gespräche gesucht hat. Allerdings wäre es auch eine Fehlannahme zu glauben, dass Friedensverhandlungen dadurch beginnen, dass Präsidenten oder Außenminister sich treffen. Dies sind doch erst die letzten Schritte, um Verhandlungen abzuschließen. Substanzielle Verhandlungen beginnen nicht durch öffentliche Rhetorik, sondern in vertraulichen Gesprächen.
Die Zeit für zunächst Waffenstillstandsverhandlungen und dann auch Friedensverhandlungen wird spätestens kommen, wenn eine militärische Erschöpfung eintritt, wenn also der "Kulminationspunkt" des Angreifers erreicht wird. Nach Clausewitz, der Pflichtlektüre in der russischen Generalstabsausbildung ist, wird dieser dann erreicht, wenn die Kraft des Angriffes so weit abnimmt, dass er nicht weiter erfolgreich fortgesetzt werden kann und dass die militärische Stärke gerade noch für eine Verteidigung des Gewonnenen ausreicht.
Dies wird für Russland unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen – kein Einsatz von Kräften aus Garnisonen, die direkt an Nato-Staaten angrenzen und keine Generalmobilmachung – bald erreicht sein. In einer ähnlichen Situation dürfte sich bei größeren Gegenangriffen allerdings schnell auch die Ukraine befinden.
Sind die inzwischen erheblichen Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine dazu geeignet, ein Ende dieses Krieges herbeizuführen?
Reiner Schwalb: Aus meiner Sicht verschaffen Sie – zumindest theoretisch – der Ukraine eine bessere und stärkere Verhandlungsposition. Wenn aber Waffenlieferungen, die sich über Jahre hinziehen, ein Ende des Krieges herbeiführen sollen, dann würde dies ja suggerieren, dass noch Jahre Krieg geführt werden wird. Dies kann weder im Interesse der Ukrainer noch der Russen oder auch der Europäer sein. Also geht es um potenziell bessere Verhandlungspositionen und auch darum, den Willen zu Verhandlung zu erzwingen.
Prognosen zum Krieg: "Russland folgt einer anderen Logik"
Und was bedeutet es militärisch wie politisch, wenn ukrainischer Streitkräfte nun Ziele in Russland attackieren?
Reiner Schwalb: Bisher habe ich nur einzelne Meldungen dazu aus dem Dreiländereck Belarus-Ukraine-Russland sowie und Belgorod, nördlich Charkiw, betreffend gesehen. Russland scheint diese Angriffe oder Anschläge bewusst herunterzuspielen. Würde dies öffentlich diskutiert, zeigte es ja die Schwäche und den schlechten Verlauf der propagandistisch präsentierten angeblich erfolgreichen Spezialoperation.
Es ist völkerrechtlich vollkommen legitim und legal, wenn die Ukraine den Krieg auch nach Russland trägt. Allerdings sehe ich gegenwärtig in der Ukraine keinen großen Willen, dies zu tun, weil es eine Eskalation Russlands nach sich ziehen würde. Insofern vermute ich, bleibt es zunächst bei einzelnen solcher Aktionen.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow sagte unlängst, das Ziel seiner Regierung sei, ein Regime-Change in Kiew herbeizuführen. Ist das ernst zu nehmen oder geht es hier nur darum, den Preis für einen Verhandlungsfrieden hochzutreiben?
Reiner Schwalb: Manche Experten sagen, es sei ernst zu nehmen. Insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass für Russland eine moskaufreundliche Regierung in der Ukraine einen "besseren Frieden" bedeuten würde. Ich denke, dass es in Russland und hier speziell im Nationalen Sicherheitsrat genügend Realpolitiker gibt, die sehen, dass dieses Ziel gegenwärtig nicht zu erreichen sein wird.
Daraus folgt, dass sich Russland auf das, was Putin am 9. Mai sagte, konzentrieren wird: die – aus seiner Sicht – Befreiung des Donbass. Dies spiegelt sich so ja auch im militärischen Handeln Russlands wider. Es treibt nur insofern den Preis für einen Verhandlungsfrieden in die Höhe, als man intern in Russland argumentiert, dass man mit dieser illegitimen Regierung nicht verhandeln könne.
Nun lagen westliche Experten schon vor dem 24. Februar und auch danach mehrfach daneben, vor allem ja, weil sich kaum jemand vorstellen konnte, dass Russland sein westliches Nachbarland tatsächlich angreift, obwohl die CIA davor gewarnt hatte. Ist Russland unberechenbarer geworden oder sind die westlichen Experten schlechter geworden?
Reiner Schwalb: Russland ist aus meiner Sicht nicht unberechenbarer geworden, es folgt nur einer anderen Logik – einer Logik, die unserer heutigen politischen Logik im Westen fremd zu sein scheint. Ich möchte dies an zwei Beispielen festmachen:
Winston Churchill wurde vor dem Überfall Deutschlands auf die UdSSR im Zweiten Weltkrieg gefragt, wie diese sich positionieren würde. Er antwortete, er könne das Handeln Russlands nicht vorhersagen: "Russland ist ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium, aber vielleicht ist das ein Schlüssel. Und dieser Schlüssel ist Russlands nationales Interesse."
Die nationalen Interessen hat Russland in seiner Nationalen Sicherheitsstrategie von Juli 2021 festgeschrieben. Wie diese zu erreichen sind auch: "Militärische Gewalt zum Schutz der nationalen Interessen darf (nur) dann angewendet werden, wenn alle ergriffenen Maßnahmen ohne Gewaltanwendung unwirksam geblieben sind."
Ohne direkte militärische Abschreckung, welche Präsident Biden öffentlich am 8. Dezember abgelehnt hat, oder Nato-Angebote, die in irgendeiner Form eine weitere Nato-Erweiterung ansprachen, war es also zu erwarten. Wir sind gut beraten, das zu lesen, was aufgeschrieben wurde.
Die mündlich geäußerten Ziele und Absichten von Autokraten können sich rasant ändern – solange das Handeln eigenen Interessen entspricht. Hier sei nur auf das russisch-türkische Verhältnis nach dem Abschuss des russischen Kampfflugzeuges durch die Türkei erinnert.
Der Kreml folgt häufig einer anderen Logik. Unsere vor dem Krieg angedrohten Sanktionen waren ohne Zweifel glaubwürdig und schaden nach der Implementierung Russland enorm. Nur in der Logik des Kremls haben sie nicht abgeschreckt.
Deutschland und Russland: "Sollten unserer Soft Power mehr zutrauen"
In der Europäischen Union hat die Losung viele Anhänger, man müsse sich wirtschaftlich, vor allem auf den Energiemärkten, von Russland trennen. Inwieweit verhindert die Verzahnung der Wirtschaft in diesen Bereichen denn aber eine weitere Eskalation dieses Konfliktes?
Reiner Schwalb: Ich bin wahrlich kein Wirtschaftsexperte. Aber ich halte diejenigen Positionen für überzeugender, die sagen, dass in einer globalisierten Welt eine vollkommene Unabhängigkeit von Nachbarn nicht funktioniert. Es geht also nicht nur um Energieabhängigkeiten, sondern insgesamt um wirtschaftliche Verzahnung.
Sicherlich ist eine Lektion, die wir gelernt haben, dass eine Diversifizierung in Zukunft notwendig sein wird. Eine Verzahnung von Wirtschaft hat aus meiner Sicht nur langfristig Konsequenzen, und zwar positive. Ein Beispiel bieten Menschen, die in von Deutschen geführten Unternehmen in Russland gearbeitet haben und die doch auch Positives von unserem Land aufgenommen haben. Etwa Kfz-Meister: Diese mussten nach deren Aussage immer wieder nach Deutschland für Weiterbildungen. Dies hat doch Auswirkungen.
Wir sollten langfristig hier unserer Soft Power mehr zutrauen. Wird dies das Putin-Regime zu Fall bringen oder den Kriegsverlauf ändern? Eher nicht. Es hat aber prinzipiell einen Einfluss auf eine Zeit nach Putin. Wesentliche Fragen unserer Zukunft, so wie unsere Außenministerin es im Kontext der Klimaveränderung sagte, können nur gemeinsam gelöst werden.
Was müsste für Friedensverhandlungen geschehen?
Reiner Schwalb: Ich hatte es vorher schon kurz erwähnt: Einer militärischen Erschöpfung werden Verhandlungen folgen. Ich habe keine Glaskugel, aus der ich lesen könnte, wann der Wille dazu gegeben sein wird. Es scheint mir aber entscheidend, dass wir davon ausgehen, dass dieser Zeitpunkt kommen wird und dass wir – Deutschland, die Nato, die EU und natürlich auch die USA – eine klare Vorstellung vom "Frieden nach dem Krieg" haben.
Ich halte es für wenig hilfreich, zu sagen: Warten wir erst einmal ab, wie der Krieg ausgeht und dann sehen wir weiter. Für uns sollte vielmehr handlungsleitend der Blick auf den Frieden danach sein. Dies sollte und wird vermutlich auch in der Unterstützung der Ukraine reflektiert sein.
Natürlich können und dürfen wir dem ukrainischen Präsidenten nicht sagen, wie und unter welchen Rahmenbedingungen er den Krieg beenden muss. Dennoch: Einfluss nehmen wir darauf sehr wohl – durch die Art unserer Unterstützung, militärisch, wirtschaftlich, politisch und hoffentlich auch durch stille Diplomatie.
Es macht wenig Sinn, jetzt eine große Verhandlungsinitiative zu beginnen, weder durch die UN noch durch die OSZE oder durch eine andere Staatengruppe. Jede dort geäußerte Idee würde vermutlich öffentlichen Propagandadisputen zum Opfer fallen. Verhandlungen sollten durch Gespräche in stiller Diplomatie beginnen.
Sie können sich dabei der vielfältigen etablierten sogenannten Expertengruppen bedienen, in welchen sich die Menschen kennen und grundsätzlich vertrauen: der Deep Cuts Commission, Nato-Russland-Track-II-Dialogue, trilaterales Mediationsprojekt, Normandie-Verhandler, also Kontaktgruppe, und andere etablierte Formate.
Es gilt allerdings alle drei von mir genannten und in gegenseitiger Abhängigkeit stehenden Bereiche auszuloten. Zum Glück scheint die Kommunikation zwischen US-amerikanischen und russischen Militärs und auch Experten hinsichtlich der strategischen Stabilität noch zu funktionieren. Die Nato-Russland-Gespräche müssten wieder reaktiviert werden. Es muss auf diesen beiden Ebenen der sicherheitspolitische Rahmen für einen stabilen Frieden geschaffen werden.
Nur in nicht öffentlichen Gesprächen scheint es mir möglich, ein Mindestmaß an Vertrauen zu erzeugen, um überhaupt festzustellen, was grundsätzlich möglich ist.
Für konkrete Waffenstillstands- und auch Friedensverhandlungen ist sicherlich eine internationale Mediationsgruppe oder auch Kontaktgruppe nötig, die das Vertrauen beider Seiten genießt. Alleine diese zu gewinnen, bedarf großen diplomatischen Geschicks, aber auch sofortigen Handelns.
Um es noch einmal zu sagen: Verhandlungen werden von unten informell beginnen. Diese Schritte haben hoffentlich schon begonnen oder werden schnell in Angriff genommen, damit auch frühzeitig relativ klare Vorstellungen gewonnen werden können, welcher Friede möglich ist.
Mich irritiert, wenn alleine das Wort "Verhandlungen" schon mit Appeasement gleichgesetzt wird. Im Kern geht doch jeder interessengeleitet in solche Verhandlungen hinein. Um Egon Bahr, der ja nicht im Verdacht steht, ein nationalistischer Hardliner zu sein, zu zitieren: "In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten."
Verhandlungen können erfolgreich sein, wenn sie die Kerninteressen der Kriegsparteien und anderer Involvierter reflektieren. Dies muss vor Verhandlungen in stiller Diplomatie unter Experten ausgelotet werden. Erfolgreich sein kann es durchaus, wie das Abkommen über die Getreidelieferungen gezeigt hat. Ob es letztlich auch problemlos läuft, muss sich zeigen. Wichtig scheint mir, dass der Friede, welchen wir wollen, den Krieg beeinflussen muss – und nicht umgekehrt.
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