Lagebericht aus Israel: "Wir sind im Krieg"

Befreiung eines Grenzposten durch die israelische Armee. Bild: IDF (Screenshot)
Nach dem Angriff vor eine Woche stand Israel unter Schock. Nun ziehen die Menschen in den Krieg. Warum das eine Zäsur ist, zeigen Stimmen aus Jerusalem.
Es herrscht gespannte Ruhe in Jerusalem. Um mich herum feiern die Juden den Beginn des Schabbat mit Freunden und mit Schalom aleichem, auch diejenigen, die überhaupt nicht gläubig sind. Nur wenige Meter von mir entfernt sitzen junge Israelis an einer Bartheke und singen gemeinsam den Text der Lieder mit, die im Radio gespielt werden.
Zur gleichen Zeit marschieren Araber durch den Osten Jerusalems und betrauern einen Palästinenser, der gestern Abend am Damaskus-Tor erschossen wurde, als er Molotow-Cocktails auf Polizisten warf. Ich war nur wenige Stunden vorher an derselben Stelle.
Die meisten Gespräche drehen sich um den Krieg, aber anders, als man sich das vermutlich in Deutschland denkt. Viele kennen jemanden, der im Süden Israels wohnt oder dort Verwandte hat.
Heute am Mittag wurden am Herzlberg Opfer arabischer Gewalttaten beerdigt, darunter der 23-jährige Dekel Swissa, ein Nachbar Aviel Schneiders, dem Chefredakteur von Israel heute, mit dem ich verabredet bin. Ich bekam gestern ein Anruf aus Berlin: Ein Freund schilderte, dass seine Verwandten ihn informiert hätten, seine greise Tante, die in einem Kibbuz fast in Sichtweite von Gaza lebte, sei im letzten Moment gerettet und evakuiert worden. Ihre Nachbarn wurden bestialisch ermordet.
Aus dieser Perspektive erscheinen viele Medienberichte und Kommentare aus Deutschland wie aus einer anderen Galaxis, geradezu absurd. ZDFheute twitterte, die Menschen in Gaza seien nicht mehr sicher und klagte, dass Israel "die nächsten Militäraktionen" vorbereite. Ich wage gar nicht, diese Aussagen jemandem hier zu zeigen und zu übersetzen.
Am letzten Sonntag stand das Land noch kollektiv unter Schock. In Tel Aviv waren die Banken geschlossen, fast alle Restaurants und Cafés. Man zeigte mir im Hotel zuerst den Bunker, in den ich mich bei Alarm zu flüchten hätte.
Eine blutjunge israelische Soldatin, die gerade eingezogen worden war, schilderte mir im Zug nach Jerusalem in gebrochenem Englisch in rührender Fürsorge, wie ich mich auf den Boden werden sollte, falls die Sirenen ertönten. Dann telefonierte sie unter Tränen mit ihrem Freund, der in einer anderen Einheit auf dem Weg an die Front war.
Am Anfang der Woche kehrte das Leben zurück, aber auf Sparflamme. Die labyrinthische Altstadt von Jerusalem ist fast ausgestorben. Deutsche findet man kaum, nur noch asiatische Touristengruppen, ein paar aus den USA, und welche aus Lateinamerika. Ich traf im arabischen Viertel ein paar hart gesottene Briten, die auf die Frage, ob sie sich gefährdet fühlten, nur grinsten.
Israel hat so viele Reservisten eingezogen wie noch nie seit der Staatsgründung. Im Vergleich zur Bevölkerungszahl müsste die Bundeswehr fast eine halbe Million Soldaten aktivieren. Das ist zu spüren: Es fehlen Busfahrer, das öffentliche Leben ist reduziert, Angebote für Touristen fast komplett eingestellt.
"Wir sind im Krieg", ist immer die lapidare Antwort, und der Tonfall suggeriert: Wir wissen, was und wie das ist. In der Negev findet man keine Unterkunft, weil die Hotels jeden Platz brauchen, um die Flüchtlinge aus den Orten südlich von Gaza unterzubringen, deren Häuser zerstört wurden.
Das, was die sogenannten "kleinen Leute" sagen, ist oft nicht in deutschen Medien zitierfähig. In Tel Aviv kam ein orthodoxer Jude mit typischem Outfit dem Inhaber eines winzigen Elektronik-Geschäfts zu Hilfe, weil der kein Englisch verstand.
Was man über den Krieg denke und was das Ziel sein könne? Der Mann stammte aus dem Irak und gestikulierte mit den Händen, als hielte er eine Maschinenpistole: Gaza müsse komplett zerstört werden: "Und dann werden wir es wieder aufbauen."
Seine Feinde seien aber nicht nur die arabischen Terroristen, sondern auch die einheimische "Elite" und "die Aschkenasim. Sie hätten Israel verraten, als das seit dem Sechstagekrieg besetzte Sinai, Gaza und das Westjordan 1979 geräumt wurden.
Keine Chance mehr für Zwei-Staaten-Lösung
Beim Namen Mosche Dajan, dem damals einflussreichen General und Politiker, schüttelt er nur verächtlich den Kopf. Und er gab die Warnung mit, man müsse in Deutschland mit Einwanderern aus arabischen Ländern vorsichtig sein. So denken offenbar viele. Und das, obwohl sich die hippe und bei Europäern beliebte Hauptstadt Tel Aviv vom Rest Israels unterscheidet wie New York von Ohio.
Am Donnerstag machte der arabische Inhaber einer Pizzeria in Huwara im Westjordanland, das von den meisten Israelis Judäa und Samaria genannt wird, Werbung mit dem Bild einer jüdischen Geisel der Hamas.
Binnen kurzer Zeit versammelte sich eine wütende Menge, und das Militär demolierte das Gebäude mit einem Bulldozer.
Der Verkäufer eines "Spätis" in Jerusalem, ein sehr junger Mann mit Kippa, erklärte, es gebe keine palästinensische Nation, und die Israelis seien auch Palästinenser. Niemand gibt der Zwei-Staaten-Lösung mehr eine Chance. Das Thema ist durch.
Das wirkt sich auch innenpolitisch aus. Schon bei den letzten Wahlen wurden Parteien, deren Programme dem der deutschen Grünen ähneln – wie die Ale Jarok ("Grünes Blatt") – zur bedeutungslosen Politsekte herabgestuft.
Es herrscht eine grimmige Entschlossenheit, die sogar die Ultraorthodoxen teilen, die vom säkularen Staat Israel rein gar nichts halten. In der landwirtschaftlichen Genossenschaft Beit Halkiya in der Nähe des Luftwaffenstützpunkts Tel Nof, in der streng religiöse Juden leben, wurde eine Lichtshow installiert. Die Piloten der abhebenden Maschinen sehen in riesige Leuchtbuchstaben die Worte "Toda raba" (Vielen Dank).
Yaron Burgin, der Jura und Ökonomie an der Hebräischen Universität in Jerusalem studiert, ist ein Globetrotter, die die ganz Welt gesehen hat. "Ein Problem, was man für Jahre ignoriert, wird nur größer", sagt er: "Das haben wir getan, und jetzt muss es gelöst werden."
Wie aber soll das aussehen? Jeder erwartet, dass die Hamas und ihre Sympathisanten vernichtet werden, und zwar im Sinne des Wortes.
Die Umfragewerte für Netanjahu sind abgestürzt, weil die Menschen ihn dafür verantwortlich machen, dass das größte Morden an Juden seit dem Holocaust geschehen konnte.
Es könnte sein, dass ihm das gleiche Schicksal droht wie der Ministerpräsidentin Golda Meir, die bei den Wahlen nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 abgestraft wurde, weil sie die Warnungen vor einem arabischen Angriff nicht ernst genug genommen hatte und die wenig später zurücktrat.
Die "liberalen" Israels unterscheiden zwischen der bewaffneten Organisationen Hamas und der Fatah, die im Westjordanland "regiert." Yaron Burgin sagt: "Die Fatah ist keine Terrorgruppe, sondern eine politische Organisation."
Gaza sei aber immer schon etwas Besonderes gewesen. "Auch die Ägypter wollen damit nichts zu tun haben." Man müsse letztlich eine Lösung finden, man könne die Araber in Israel nicht ignorieren. Aber was genau diese Lösung sein könnte, darüber will sich zurzeit niemand Gedanken machen. Man hört auch keine Kritik an Verteidigungsminister Yoav Galant, der sagte: "Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und entsprechend handeln wir."
In Israel wird weniger darüber diskutiert, wer was wie sagen "darf" als in Deutschland. "Die Tore der Hölle haben sich geöffnet", sagte ein israelischer Soldat aus einer Sondereinheit auf Arabisch: "Das ist keine Drohung, sondern eine Tatsache."
Was folgt jetzt? Einige Ex-Militärs und Geheimdienstler haben sich schon konkret geäußert, wie Israel vorgehen könnte. Amos Yadlin, der ehemalige Chef des israelischen Militärgeheimdienstes, sagte in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt:
Am Ende ist es uns egal, wer Gaza kontrolliert. Entscheidend ist, dass wir anders als in den vergangenen 15 Jahren niemandem mehr erlauben werden, dort militärische Kräfte aufzubauen. Ich denke, es wird eine viel breitere Grenze zwischen Israel und Gaza geben, die schwieriger zu überschreiten ist.
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