Kriminalbiologie: Mit Maden, Käfern und Schmeißfliegen dem Mörder auf der Spur
Einer der weltweit bekanntesten Experten für forensische Entomologie gibt Einblick in seinen unheimlichen Arbeitsalltag
Versteckte punktuelle Informationen aus Maden, Würmern und anderen Krabbeltieren herauslesen und damit verweste, verbrannte, zerstückelte und verscharrte Leichen wieder zum Reden zu bringen, um scheinbar unlösbare Kapitaldelikte aufzuklären - dies ist eines der Aufgabenfelder des Kölner Kriminalbiologen Mark Benecke. Wenn Leichen übermäßig stark zersetzt sind und herkömmliche kriminalistische Methoden oder alle gängigen DNA-Analyseverfahren versagen, schlägt die Stunde des weltweit gefragten Experten für forensische Entomologie.
Der fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Kopf der Toten war übersät von schwersten Gesichts- und Schädelverletzungen. Die Verwesung war bereits derart fortgeschritten, dass die Gerichtsmediziner ber den Todeszeitpunkt der im Wald aufgefundenen jungen Frau nur rätseln konnten. Trotzdem reichten die Indizien nicht aus, um den Hauptverdächtigen, den Ehemann der Ermordeten, der für die Tatzeit kein Alibi hatte und in dessen Wohnung die Ermittler Gummistiefeln fanden, unter denen die gleiche Erde und dasselbe Laubstreu wie am Fundort haftete, festzunehmen.
Ameise entlarvte den Täter
Der Fall wäre sicherlich nie restlos aufgeklärt worden, hätte nicht die Kriminalpolizei den Kölner Experten für forensische Entomologie Dr. Mark Benecke und den Ameisenforscher Dr. Bernd Seifert vom Staatlichen Museum für Naturkunde in Görlitz zu Rate gezogen. Beide Forscher hatten an der Auflsung des 1997 als "Pastorenmord" in die Schlagzeilen geratenen Falls entscheidenden Anteil. "Aus der Größe dreier Schmeißfliegenmaden zu schließen, konnte die Frau nicht länger als drei Tage tot sein", stellte der Kölner Kriminalbiologe damals fest.
Als wichtigstes Indiz entpuppte sich eine einzige Ameise, die an den Stiefeln des beschuldigten Geistlichen klebte. Verdächtig war dies deswegen, weil auch auf dem Mordopfer etliche Ameisen der selben Art krabbelten. Als der Ameisenexperte dann nachweisen konnte, dass die offensichtlich "zertretende" Ameise höchstwahrscheinlich von einer Ameisenart stammte, die nur in der Nähe des Tatortes heimisch war, schien der Fall sonnenklar. In einem aufwändigen Indizienprozess wurde der Ehemann der Ermordeten wegen Totschlags zu acht Jahren Haft verurteilt.
Quell der Wahrheit
Versteckte punktuelle Informationen aus Maden, Würmern und anderen Krabbeltieren herauslesen und damit verweste, verbrannte, zerstückelte und verscharrte Leichen wieder zum Reden zu bringen, um scheinbar unlösbare Kapitaldelikte aufzuklären - dies ist eines der Aufgabenfelder des Kölner Kriminalbiologen Mark Benecke, der weltweit zu den wenigen Spezialisten auf dem Gebiet der forensischen Entomologie zählt: der Insektenkunde im Dienst der Gerichtsmedizin.
Wenn Leichen übermäßig stark zersetzt sind und herkömmliche kriminalistische Methoden oder alle gängigen DNA-Analyseverfahren versagen, schlägt die Stunde des weltweit gefragten Experten, der auch dem FBI hin und wieder als Berater zur Seite steht und der in New York zuweilen sogar offiziell als "Office of Chief Medical Examiner Forensic Biology" fungiert.
Zu den ersten Aufgaben eines zu Rate gezogenen Entomologen gehört es gewöhnlich, möglichst genau zu berechnen, seit wann der Leichnam an der Fundstelle liegt. Weit über 100 Arten von Insekten - besonders Fliegen und Käfer - und etwa Milben, nutzen Kadaver als Lebensraum, Nahrungsquelle oder Brutstätte.
Dass diese wenig appetitlich aussehenden Gliedertiere vor allem Mördern nicht schmecken, hängt mit einem Charakteristikum zusammen, das Kriminalbiologen hingegen an Insekten ausgesprochen schätzen. Denn anhand der Insekten-Besiedlung in einer Leiche lässt sich der Todeszeitpunkt recht präzise eingrenzen - oft auf den Tag genau. "Die verschiedenen Insekten, die eine Leiche nacheinander besiedeln, und zwar besonders die Fliegen und hauptsächlich ihre Maden, stellen regelrecht eine lebende Uhr dar", erklärt Benecke. Ob jemand am Fundort ermordet wurde oder woanders - für das geübte Argusauge des Kriminalbiologen sind Maden und Schmeißfliegen der Quell der Wahrheit. Denn die Kleintiere besiedeln in der Regel die Kadaver artgerecht in zeitlich gestaffelten Wellen und unterschiedlichen Phasen. Aus dem Besiedlungsmuster sowie der Larvengröße kann dann der Experte die so genannte Liegezeit der Leiche an einem Ort oder die gesamte seit der Insektenbesiedlung abschätzen.
Die Artbestimmung - vor allem der Fliegen - erfolgt heute mittels einfacher Bestimmungsschlüssel, die für den routinierten Experten relativ leicht zu handhaben sind, wobei auch rasterelektronenmikroskopische Photos und "genetische Fingerabdrücke" (DNS-Typisierung) als ergänzende Maßnahmen zum Einsatz kommen.
Mordopfer nehmen Geheimnisse selten mit ins Grab
Bei den Recherchen und Analysen am Tatort muss Benecke akribisch vorgehen und die äußeren Faktoren, etwa die Wetter- und insbesondere die Temperaturverhältnisse, stets im Hinterkopf haben, zumal die Entwicklungszeit der Kleintiere auch von Lichteinfall und der Luftfeuchtigkeit abhängt.
Im Falle der Pastorenfrau herrschte zum Beispiel am Tag der Tat Nieselregen. Das - wie auch die Temperatur an den anderen Tagen musste ich bei der Berechnung der Larvenalter berücksichtigen.
In der Regel fliegen zuerst schwangere Schmeißfliegenweibchen den Kadaver an. Bereits eine Viertelstunde nach dem Verbrechen schlüpfen die ersten millimetergroßen Larven hervor. Eigentlich fühlen sich Schmeißfliegenmaden erst bei schwülheißer Witterung mit gelegentlichem Regen so richtig wohl. Dann können sie einen kleinen Körper binnen zwei Wochen freiskelettieren. Zum Vergleich: Unter kühlen Bedingungen bräuchten sie dafür glatte zwei Jahre.
Selbst Leichen, die von dem Täter vergraben wurden, nehmen nicht alle Geheimnisse mit ins Grab. Mitunter können Entomologen sogar noch nachträglich feststellen, wie viel Zeit zwischen Tod und Beerdigung verstrichen ist und in welchem Zustand der Leichnam bei der Grablegung war.
Auf begrabenen Leichen wohnen oft vor allem Buckelfliegen, die bis zu einem halben Meter tief Gänge in die Erde graben,
so Benecke. Aber aus Insektenbefunden lassen sich noch viel mehr Informationen heraussaugen. Mal enttarnen sie Selbstmorde oder entlasten zu Unrecht Beschuldigte. Ein anderes Mal decken sie auf, ob das Mordopfer vergiftet worden ist oder drogenabhängig war. Manchmal lässt sich mittels einer Larve sogar die Art des Giftes, das am Toten selbst jedoch nicht mehr nachweisbar ist, feststellen. Hierzu Benecke: "Opiate halten sich relativ gut in Maden", so der 32-Jährige. "Nach neuen Erkenntnissen könnte es in Einzelfällen sogar möglich sein, auf die Giftmenge zurückzuschließen, die der Tote im Körper hatte".
Columbo lässt grüßen
Angesichts der enormen Fortschritte auf dem Gebiet der Kriminaltechnik und aufgrund der effizienten Arbeitsweise der Kriminalbiologen werden potenzielle Mörder wohl immer schwerer die Spuren ihrer Untaten beseitigen können. Denn neben den klassischen und genetischen Fingerabdrücken, gibt es (gottlob) einfach zu viele Unbekannte, die kaum vorhersehbar sind. Auch in der Praxis erweisen sich die von Columbo verklärten kleinen "Details", mit denen der fiktive TV-Inspektor ausnahmslos jeden Mord aufklärte, oft als ausgesprochen verräterisch.
Dazu zählen nicht nur die Insektenspuren auf dem Opfer, sondern auch jene, die der Täter unbemerkt am Tatort "aufgelesen" hat. Da Insekten in nahezu allen Bereichen des Lebens eine Nische besetzt haben, hinterlassen sie auch bei den Tätern unverhofft Spuren - wie etwa in und auf dessen Kleidung oder Haaren. Mal kann eine einzige Ameise, ein anderes Mal sogar nur eine einzige Milbe den Mörder entlarven, wie Benecke zu berichten weiß:
Selbst Milbenbisse können einen Täter verraten. Nämlich dann, wenn sie von Milben stammen, die nur am Leichenfundort leben.
Über die Effektivität der forensischen Tier- und Pflanzenkunde bei der Ermittlungsarbeit vor Ort und im Labor wissen die überführten derweil hinter schwedischen Gardinen vegetierenden Täter ein Liedchen zu siegen. Es bleibt zu hoffen, dass deren Gesang auch in Zukunft nicht so schnell wieder verstummt. Denn dies könnte darauf hindeuten, dass sich die forensische Zoologie neben den klassischen rechtsmedizinischen und kriminalistischen Disziplinen endlich einen festen Platz erobert und langfristig etabliert hat - so wie es vor jüngst die Gentechniker mit ihrem innovativen DNA-Analyseverfahren vorgemacht haben.
Auf jeden Fall ist die forensische Entomologie im interdisziplinären Konzert der Kriminalwissenschaften die bislang wohl einzige Teildisziplin, die in der Lage ist, mithilfe von Maden den Tätern das Leben madig zu machen.