Jüdische Wissenschaftlerin Judith Butler verurteilt Israels "Völkermord" in Gaza
Seite 2: Israelischer Politiker fordert "Dresden" für Gaza
- Jüdische Wissenschaftlerin Judith Butler verurteilt Israels "Völkermord" in Gaza
- Israelischer Politiker fordert "Dresden" für Gaza
- Auf einer Seite lesen
Der israelische Politiker Moshe Feiglin fordert ein "Dresden" für Gaza und bezog sich dabei auf die Bombardierung der deutschen Stadt Dresden im Zweiten Weltkrieg, bei der etwa 25.000 Menschen getötet wurden. Ein Feuersturm auf ganz Gaza. Naftali Bennett, der ehemalige Premierminister, antwortete auf die Frage nach der Tötung von mehr als 1.400 israelischen Zivilisten am 7. Oktober dem Sky-Moderator: "Reden Sie ernsthaft über palästinensische Zivilisten?"
Judith Butler: Eines der Probleme ist, dass palästinensische Zivilisten nicht als solche anerkannt werden. Wenn man es rhetorisch und mithilfe der Medien geschafft hat, Palästina mit Terrorismus und alle Palästinenser mit Terrorismus, Barbarei und Feindseligkeit zu identifizieren, dann gibt es in der Vorstellung derer, die ihnen Gewalt antun, keine Zivilisten.
John Kirby, der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates in den USA, sagte letzte Woche bei einem Pressebriefing im Weißen Haus: "Das ist Krieg. Es ist ein Kampf. Er ist blutig, er ist hässlich, und er wird chaotisch sein. Und unschuldige Zivilisten werden verletzt werden, auch in Zukunft. Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas anderes sagen. Ich wünschte, das würde nicht passieren. Aber das wird es. Es wird passieren." Das Töten von Zivilisten wird also einfach passieren. Judith Butler, was sagen Sie als jüdische Professorin in Reaktion auch auf das, was in der israelischen Regierung, wie von Naftali Bennett, verlautet wird: "Sprechen Sie ernsthaft über palästinensische Zivilisten?" Sie werfen denjenigen vor, die wie Sie Ihre Besorgnis über die Palästinenser zum Ausdruck bringen, dass sie das, was am 7. Oktober geschah, die Ermordung von 1.400 Israelis, dem schlimmsten Massenmord an Juden seit dem Holocaust, verharmlosen.
Judith Butler: Wenn der nationale Sicherheitssprecher also behauptet, es sei lediglich zu bedauern, dass Zivilisten in Gaza ihr Leben verlieren, und Kirby sich wünscht, dass es nicht geschehe, dann lügt er tatsächlich. Zivilisten werden gezielt angegriffen. Seit langer Zeit behauptet der israelische Staat, dass all die zivilen Ziele, die man zerstört, Schutzschilde für militärische Einrichtungen sind. Das ist eine sehr bequeme Erklärung. Aber sie erklärt nicht die Bombardierung von Wohnhäusern und die gezielte Bombardierung von Menschen, die aus dem Norden in den Süden fliehen. Es ist bestenfalls böse Absicht und letztlich eine brutale Lüge, wenn wir ehrlich sein wollen.
Es gibt leider einige jüdische und zionistische Gruppen, denen das jüdische Leben völlig, ausschließlich oder in erster Linie am Herzen liegt. Ihre Position ist, dass die Zerstörung jüdischen Lebens das Schlimmste auf der Welt ist – und es ist schrecklich. Es ist absolut schrecklich.
Aber jüdisches Leben ist nicht wertvoller als palästinensisches Leben. Man wird eine Reihe von Menschen finden, die dem abstrakt zustimmen, aber sie halten die massiven Angriffe, die Massaker gegen Gaza für gerechtfertigt, weil kein Ausmaß der Gewalt ihr Gefühl der Verletzung kompensieren kann.
Ich möchte nur hinzufügen, dass es äußerst schwierig ist, die Medien und die Presse dazu zu bringen, anschauliche und detaillierte Beschreibungen des Leids in Gaza zu liefern. In der New York Times hören wir viel mehr über das Leben der Israelis und die Verluste, die sie erlitten haben. Aber über Palästina wird nie auf dieselbe Weise berichtet.
Manchmal bekommen wir nur Zahlen. Und wie Sie gesehen haben, können diese Zahlen angezweifelt werden, sogar von Biden, auch wenn sie von UN-Organisationen oder seriösen Organisationen vor Ort geliefert werden. Es gibt also viele Möglichkeiten, die Zahl der palästinensischen Todesopfer zu minimieren und zu de-realisieren, d.h. sie zu fälschen oder zu verschleiern.
Es ist unsere Aufgabe als Wissenschaftler, Aktivisten und Journalisten, das ans Licht zu bringen und das Leben und Sterben für die breite Öffentlichkeit bedeutsam zu machen.
Was ist Ihrer Meinung nach eine mögliche Lösung für die derzeitige Krise? In Ihrem Buch aus dem Jahr 2020 "The Force of Nonviolence: An Ethico-Political Bind" fordern Sie zur Gewaltlosigkeit auf, es ist eine komplexe Argumentation. Wie können wir das anwenden, um zu verstehen, wie diese Situation möglicherweise zu einem Ende kommen könnte?
Judith Butler: Zuallererst ist ein sofortiger Waffenstillstand notwendig. Aber es wird keine Lösung geben, wenn es den Menschen im Gazastreifen nicht erlaubt wird, in ihre Häuser zurückzukehren, sie wieder aufzubauen, die Trauerarbeit und das Leben, das ihnen zusteht, fortzusetzen. Ich denke, die Besatzung muss beendet werden. Ich schließe die Belagerung des Gazastreifens als Teil der Besatzung ein.
Manchmal wird behauptet, dass der Gazastreifen nicht mehr besetzt ist, dass die Besatzung 2005 endete. Das ist nicht wahr. Es mag sein, dass die Truppen zurückgezogen wurden, aber jeder Teil der Grenze, mit Ausnahme vielleicht des Rafah-Übergangs, wird von israelischen Behörden patrouilliert und kontrolliert.
Das bedeutet, dass Waren und Menschen nicht ohne israelische Erlaubnis kommen und gehen können. Unter diesen Bedingungen kann man also nicht von politischer Autonomie sprechen.
Die Art von Deportationen, die wir jetzt erleben, begannen bereits 1948 mit der Nakba. Die Nakba ist nicht nur ein einzelnes Ereignis, das 1948 stattfand. Sie ist ein andauernder Zustand.
Die Gewalt, die wir jetzt erleben, das Töten, das Massaker und die Vertreibung sind also eine Fortsetzung der Nakba. Dieses Verbrechen ist im Moment vielleicht am drängendsten. Aber wir sollten uns nicht einbilden, dass wir das Problem an der Wurzel packen, wenn wir das jetzt lösen.
Die Wurzel des Problems besteht darin, einen Weg zu finden, damit die Palästinenser das volle Selbstbestimmungsrecht erhalten, in einer demokratischen Gesellschaft leben können – und damit die Enteignung ein Ende hat, gestohlenes Land zurückgegeben oder Wiedergutmachung geleistet wird. Es braucht auch ein Rückkehrrecht für viele Menschen, die unter schrecklichen Umständen gezwungen wurden, das Land zu verlassen.
Das Interview erscheint in Kooperation mit dem US-Medium Democracy Now. Hier geht es zum englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.