Gasausstieg der EU: Russlands cleverer Schachzug mit der Türkei

Pipeline mit der Aufschrift „TURKISH STREAM“ vor rotem Sonnenuntergang

(Bild: Lisic / Shutterstock.com)

Russland nutzt Streit in der EU und stärkt Gasdeals mit der Türkei. Neue Wege sichern weiter Lieferungen nach Europa trotz Ausstiegsplänen.

Der Gegenwind in den eignen Reihen gegen die Ausstiegspläne der EU aus russischen Gasimporten sorgt in Russland für Aufwind. Dazu ist die Türkei immer für ein gutes Geschäft zu haben, damit der Strom von russischem Gas nicht abreißt.

In einem Interview mit RIA Novosti gibt Alexej Belogorjew, Direktor für Forschung und Entwicklung am Institut für Energie und Finanzen, Ende Juni einen Überblick, wie sich die Lage für Russland mit Blick auf den europäischen Ausstiegsfahrplan aus russischen Energieträgern bis Ende 2027 darstellt.

Ausnahmen bestätigen die Regel

Belogorjew stellte fest:

Ich glaube nicht, dass es der Europäischen Kommission gelingt, ihren radikalen Vorschlag, bis Ende 2027 vollständig auf russisches Gas zu verzichten, direkt zu vereinbaren, da die Slowakei und Ungarn, wahrscheinlich auch Österreich, Frankreich und Belgien, entschieden dagegen sind. Eine einheitliche Position wird hier nicht möglich sein. Daher sucht die Europäische Kommission nun nach Umgehungslösungen.

Dies könnte eine Art Importquotenregelung sein.

Der Legislativvorschlag der Kommission zum schrittweisen Gasimportausstieg vom 17. Juni sieht für bestehende kurzfristige Verträge eine Auslaufphase bis zum 17. Juni 2026 vor. Im Dokument ist nachzulesen:

Importeure mit langfristigen Verträgen benötigen möglicherweise mehr Zeit, um alternative Lieferwege und -quellen zu finden, auch da diese in der Regel erheblich größere Mengen betreffen als kurzfristige Verträge. Deshalb wird eine Übergangszeit eingeführt, bevor das Einfuhrverbot in Kraft tritt.

Um einen Ansturm auf neue Verträge zu vermeiden, sollten für Verträge, die nach dem 17. Juni 2025 geschlossen werden, keine Übergangsbestimmungen wie bei den bestehenden kurz- und langfristigen Verträgen gelten. Es gehe darum, sicherzustellen, dass die Gasimporte aus Russland infolge der vorgeschlagenen Verordnung nicht steigen, sondern sinken.

Ungarn und die Türkei wollen festhalten

All dies soll Ländern wie Ungarn und die Slowakei den Weg ebnen, ihre russischen Gasbezüge sukzessive herunterzufahren. Die europäischen Ausstiegspläne lehnen die Regierungsspitzen der beiden Länder indessen kategorisch ab und begründen dies mit steigenden Energiekosten.

Im Juni reiste der ungarische Außenminister Péter Szijjártó wie auch der türkische Energieminister Alparslan Bayraktar zum diesjährigen Internationalen Petersburger Wirtschaftsforum, um mit dem russischen Gaskonzern Gazprom Fragen zu aktuellen und Perspektiven zu künftigen Gaslieferungen auszuloten. Sowohl die Türkei als auch Ungarn wollen an Gaslieferungen aus Russland festhalten.

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Was die Schwarzmeergasleitung Turkstream und die Anschlussleitung Balkanstrom in Bulgarien betrifft, mutmaßt Belogorjew daher, dass sich die Lieferungen dort bis Ende 2025 auf etwa 15–16 Milliarden Kubikmeter belaufen und bis 2028 im Basisszenario auf zwölf Milliarden Kubikmeter sinken.

"Ich glaube nicht, dass sie vollständig zum Erliegen kommen werden. Auch wenn die EU ein Embargo auf russisches Gas verhängt, wird dieses Gas mit ziemlicher Sicherheit weiterhin physisch in die Türkei fließen", bekräftigte der Experte.

Russische Gasströme formalisieren

Im Sitzungsprotokoll der zwischenstaatlichen russisch-türkischen Kommission für Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit vom 27. Juni bekundeten Russland und die Türkei ihr Interesse an einer Verlängerung der Verträge über die Lieferung und den Export von Erdgas zwischen BOTAŞ und Gazprom Export zu Bedingungen, die für beide Unternehmen vorteilhaft sind. Auch von russischen LNG-Lieferungen in türkische Häfen war im Protokoll die Rede.

Zur Disposition stehen aktuell die Verträge über die Lieferung von 16 Milliarden Kubikmetern Gas im Jahr über die Schwarzmeergasleitungen Blue Stream und 5,75 Milliarden Kubikmeter Gas über Turkstream, die zum Jahresende auslaufen. Im vergangenen Jahr importierte die Türkei etwas mehr als 21 Milliarden Kubikmeter Gas. Insgesamt können die zwei Leitungsstränge von Turkstream 31 Milliarden Kubikmeter im Jahr an den türkischen Bosporus transportieren.

Im ersten Quartal nutzte die Türkei bereits freie Kapazitäten und leitete nach Daten der europäischen Gastransportnetzbetreiber ENTSOG am Tag höhere Gasmengen von Turkstream nach Bulgarien durch, die rechnerisch ein Jahresvolumen von rund 20 Milliarden Kubikmeter Gas ergeben. Ein Teil der weggefallenen Transitmengen der Ukraine ließ sich dadurch kompensieren. Die Durchleitungskapazität an der bulgarisch-türkischen Grenze umfasst derzeit etwa 26 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr.

Bei den Vertragsverhandlungen jetzt steht der Turkish Blend, ein Gemisch mit Gas aus türkischer Produktion, LNG-Importen aus USA oder Katar und Gas aus dem Iran nach dem Modell für Ölprodukte aus Indien, für einen kontinuierlichen Strom russischer Gasmoleküle nach Europa hoch im Kurs. Ungarn und die Slowakei verfügen derweil kraft ihres Vetorechts bei Sanktionsentscheidungen gegen Russland über ein wirksames Instrument, damit das geplante Gaseinfuhrverbot der EU Schlupflöcher aufweist.