Freibad-Übergriffe: Versagen Medien bei der Wahrheit?

Freibad-Skandal zeigt Probleme im Journalismus auf: Zitate aus dem Kontext gerissen, Nationalitäten genannt. Medien heizen Debatte an, statt aufzuklären.
"Bei hohen Temperaturen liegen die Gemüter manchmal blank." Diese bei Welt als Überschrift verwendete Aussage eines Bürgermeisters als vermeintliche Einordnung sexueller Belästigung im Freibad seiner Stadt Gelnhausen wurde Anfang des Monats eifrig in den sozialen Medien geteilt.
Bereits am 22. Juni 2025 sollen in der hessischen Kreisstadt acht Mädchen im Alter von 11 bis 16 Jahren im Schwimmbecken von vier syrischen Männer im Alter von 18 bis 28 Jahren "am ganzen Körper angefasst worden" sein.
Gegen die Verbreitung seiner Aussage ging Gelnhausens Bürgermeister Christian Litzinger (CDU) zunächst anwaltlich vor. Er sah sich falsch dargestellt, das Zitat aus dem wahren Zusammenhang gerissen.
In einem inzwischen gelöschten Facebook-Post schrieb Litzinger, es sei "schon erstaunlich, was aus deutschen Leitmedien geworden ist". Es sei nicht zu entschuldigen, wenn eine Publikation "derart perfide die Ethik des Journalismus mit Füßen tritt".
Welt, 11. Juli 2025
Abmahnung zurückgezogen
Inzwischen hat Litzinger die Abmahnung durch seine Anwaltskanzlei zurückziehen lassen. Diese teilt mit, Litzinger habe sich an das Gespräch anders erinnert, als es tatsächlich gelaufen sei, wie Dokumente der Welt zeigten.
An dem im Auftrag des Mandanten kommunizierten Vorwurf der bewussten, verleumderischen Falschberichterstattung der Welt dergestalt, sie habe den zitierten Satz unseres Mandanten in den falschen Kontext mutmaßlicher sexueller Übergriffe gestellt, halten wir nicht mehr fest.
Tatsächlich ist es unter der Berücksichtigung des vollständigen Interviewtextes so, dass die Aussage unseres Mandanten durch die Welt so verstanden werden konnte, dass er die zitierte Äußerung auch im Hinblick auf sexuelle Übergriffe getätigt habe. Die Welt hat somit weder falsch berichtet noch das Zitat in einen falschen Kontext gestellt.
Höcker Rechtsanwälte
Litzinger hat sich auch selbst geäußert. Er habe die Vorfälle nicht relativieren wollen und sei "noch immer entsetzt über das, was in unserem Schwimmbad geschehen ist".
Also viel Aufregung um nichts? Das ginge am grundlegenden Problem vorbei.
Denn das liegt darin, dass von Medien wie auch einzelnen Mediennutzern immer wieder einzelne Aussagen skandalisiert und ohne oder mit falschem Kontext verbreitet werden. Regelmäßig sorgen winzige Schnipsel aus Interviews für Empörung, die sich vor allem aus individuellen Interpretationen speist.
Mehr recherchieren, weniger kolportieren
Zumindest Journalisten sollten an solchen Stellen nachfragen: Hat jemand das so gemeint, wie man es verstehen kann? Ist damit schon alles gesagt oder wird die Kürze eines Zitats vielleicht dem Thema gar nicht gerecht?
Doch auch im Fall von Christian Litzinger haben zahlreiche Medien den kleinen Zitatschnipsel zum Thema gemacht, ohne selbst nachzufragen, was er denn – abgesehen von einer gewissen Banalität – vermitteln wolle.
Hilferufe der Mädchen sollen ignoriert worden sein und Gelnhausens Bürgermeister Christian Litzinger (CDU) macht die Hitze für die Taten verantwortlich.
Berliner Zeitung
Johannes Boie, früher Chefredakteur der Welt am Sonntag und danach Vorsitzender der Chefredaktion der Bild, betitelte seinen NZZ-Newsletter mit "Schluss mit dem Gerede von der 'Sommerhitze': Die Taten muslimischer Migranten sollten nicht kleingeredet werden".
Damit spricht er allerdings auch ein zweites Empörungsthema aus der Berichterstattung zum Freibad-Vorfall an: die Nennung der Nationalität der Tatverdächtigen.
Pressekodex und Nationalitätsnennung
Im aktuellen Newsletter des Medienmagazins Übermedien schreibt Redakteurin Annika Schneider dazu:
Diverse Medien beschlossen daraufhin, den Pressekodex mal wieder links liegen zu lassen: Sie nannten die nichtdeutsche Staatsangehörigkeit und den Fluchthintergrund der Tatverdächtigen. Der HR begründete das "mit Blick auf das gewachsene öffentliche Interesse" – ein Argument, das den Pressekodex inzwischen völlig untergraben hat.
Annika Schneider (Links wie im Original)
In der Tat geht der Deutsche Presserat immer wieder gegen die Nennung von Nationalitäten vor. Zum Beispiel ganz aktuell:
Bild.de wurde wegen einer Veröffentlichung unter der Überschrift "Syrer (18) fährt 4 Menschen tot und bleibt frei" gerügt. (...) Zudem bestand kein begründetes öffentliches Interesse an der Nennung der Nationalität des Verurteilten gemäß Ziffer 12, Richtlinie 12.1 des Pressekodex.
Presserat
Weil die schriftliche Entscheidung des Presserats noch nicht veröffentlich ist, lässt sich die Begründung, weshalb kein öffentliches Interesse an der Nationalitätsnennung bestanden haben soll, noch nicht nachlesen.
Aber die Vielzahl vergleichbarer Fälle und Entscheidungen zeigt, dass in der Öffentlichkeit das Interesse unterschiedlich gesehen wird. Vor allem aber: wird keine Nationalität von Tätern oder Tatverdächtigen genannt, gedeihen stets Spekulationen und Falschbehauptungen, was einer verantwortungsvollen Meinungsbildung sicher mehr im Weg steht (siehe dazu: "Welchen Pass hat der Täter? Herkunftsnennungen im Journalismus").