Atomare Bedrohung: Russlands radikalisierte Sicherheitspolitik

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Russlands Nukleardoktrin verschärft sich. Ein Expertenpapier zeigt die wachsende Gefahr eines Atomkriegs. Lesen Sie hier, was der Kreml plant. (Teil 3 und Schluss)
Das vorliegende Dokument, von dem Telepolis in Kooperation mit dem Potsdamer Welttrends-Verlag erstmals wesentliche Teile in deutscher Übersetzung veröffentlicht, bietet einen tiefen Einblick in die aktuelle russische Nukleardoktrin und ihre sicherheitspolitischen Implikationen. Das Papier verdeutlicht die Radikalisierung der russischen Haltung und die wachsenden Gefahren eines atomaren Schlagabtauschs. Dieses exklusive Werk, das auf einer breiten russischen Expertenanalyse basiert, sollte Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit sensibilisieren und zur Abrüstungsdebatte beitragen. Die Vollversion ist bei unserem Kooperationspartner, dem Welttrends-Verlag, erhältlich.
Im ersten und zweiten Teil wurde der Ukraine-Krieg aus russischer Sicht als indirekter Konflikt mit dem Westen eingeordnet und die nukleare Abschreckung kritisch beleuchtet. Hier nun der dritte und letzte Teil.
Neben der Stärkung der militärischen Abschreckung/Zügelung des Gegners (einschließlich der Einschüchterung durch unsere Verfügung über Kernwaffen sowie die Bereitschaft und Entschlossenheit zu deren Einsatz) ist es notwendig, ein System der geopolitischen (räumlichen) Abschreckung/Zügelung wiederherzustellen.
Die geopolitische Abschreckung/Zügelung ist neben der militärischen (und der koalitionären Abschreckung/Zügelung, auf die wir weiter unten eingehen werden) ein wesentlicher Bestandteil der strategischen Abschreckung/Zügelung. Es ist davon auszugehen, dass in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts die geopolitische Abschreckung/Zügelung des Gegners, also seine Rückdrängung aus dem nahen Ausland für Russland von existenzieller Bedeutung sein wird.
Die Bedrohungen in diesem Bereich sind heute nicht weniger aktuell als die Bedrohung durch einen nuklearen Überfall in der Ära des Kalten Krieges oder eine großmaßstäbige militärische Aggression in der Zeit vor 1945.
Die tektonischen Verschiebungen im System der internationalen Beziehungen erfordern eine aktive Politik, um eine neue Welle von Konflikten und deren Hinüberwachsen zu einem weiteren (und wahrscheinlich für die Menschheit letzten) Weltkrieg zu verhindern.
Geopolitische Abschreckung/Zügelung wird in erster Linie durch politische, wirtschaftliche, informationelle und andere nicht-militärische Mittel realisiert, jedoch in enger Verbindung mit militärischer Abschreckung/Zügelung, sowohl nuklearer Einschüchterung als auch mit nicht-nuklearer.
Ziel der geopolitischen Abschreckung/Zügelung ist die Aufrechterhaltung oder Schaffung eines Sicherheitsgürtels entlang der Grenzen der Russischen Föderation, vor allem zu den GUS-Staaten. Der Sicherheitsgürtel ist ein Territorium, das sich außerhalb ausländischer Militärblöcke befindet und frei von ausländischen Militärstützpunkten ist.
Nicht alle Staaten, die in diesem Gebiet liegen, müssen notwendigerweise Moskaus militärische Verbündete sein oder werden; aber enge, "bündnisartige" Beziehungen zu den Nachbarn und deren grundsätzliche Loyalität zu Russland sind notwendig. Das unmittelbare Ziel der russländischen geopolitischen Abschreckung/Zügelung besteht darin, den Gegner daran zu hindern, der Ukraine auf dem Fuße folgend eine "zweite Front" zu eröffnen, sei es in der Arktis, in Kasachstan, Mittelasien, Transkaukasien oder im Fernen Osten. Russlands Strategie der geopolitischen Abschreckung/Zügelung muss aktiv sein.
Die Lehre aus der Ukraine zeigt, dass selbst ein hoher Grad ethnischer und kultureller Nähe, engster wirtschaftlicher Verflechtungen, stärkster familiärer Bindungen, gegenseitiger Interessen der Eliten und enormer finanzieller Zuwendungen an die Nachbarn keine Garantie für die Aufrechterhaltung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den neuen Staaten und der Russischen Föderation sind.
Der Gegner nutzt den Nationalismus dieser Staaten geschickt aus und lenkt ihn gegen unser Land. Versuchen, die sogenannte multivektorale Außenpolitik unserer Nachbarn in eine eindeutig antirussländische Richtung zu lenken, muss rechtzeitig entgegengewirkt werden. Genau das ist mit der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion geschehen. Der Westen hat versucht, Belarus auf denselben Weg zu drängen, und versucht nun aktiv, Moldawien zu ködern. Die USA [Vereinigten Staaten] und ihre europäischen Verbündeten ermutigen Armenien, sich von Russland abzuwenden, und versuchen, Kasachstan und die mittelasiatischen Staaten von Russland zu entfremden.
Die Strategie der geopolitischen Abschreckung/Zügelung beinhaltet nicht nur die Bereitschaft, sich gegen "farbige Revolutionen", von außen geschürte Konflikte, Provokationen aller Art usw. zu wehren, auch wenn dies alles äußerst wichtig ist. Sie erfordert eine systematische Arbeit mit den politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Eliten der Nachbarländer, unabhängig von ihrer Einstellung zur bestehenden Machtstruktur in den jeweiligen Ländern. Eine geduldige und kreative Arbeit mit der jungen Generation ist notwendig, um ihr Interesse an Russland, an der russischen Kultur und an der russischen Sprache zu entwickeln.
Von besonderer Bedeutung ist die Informationsarbeit, sowohl auf der Ebene der Massenmedien als auch der sozialen Netzwerke, vor allem in den Nationalsprachen der Nachbarländer. In diesem Zusammenhang ist es erforderlich, umfassende Regional- und Länderkundestudien über die Nachbarstaaten zu entwickeln und das Niveau der einheimischen Expertise in diesen Bereichen zu erhöhen.
Die Strategie der geopolitischen Abschreckung/Zügelung setzt voraus:
- die Vertiefung der umfassenden Integration innerhalb des Unionsstaates Russland und Belarus;
- die Stärkung der Integrationsverbindungen – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch, kulturell, wissenschaftlich und technisch u. a. – innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU);
- das enge Zusammenwirken auf dem Gebiet der Sicherheit und Verteidigung zwischen den Teilnehmerstaaten der Organisation des Vertrages über Kollektive Sicherheit (OVKS);
- die kulturelle, sportliche, informationelle, humanitäre Zusammenarbeit im Rahmen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).
Flexible Koalitionsstrategie – das dritte Element
Schließlich – und nicht zuletzt – muss eine dritte Richtung der strategischen Abschreckung/Zügelung entwickelt werden: die Formierung flexibler internationaler Koalitionen, um der globalen Hegemonie der USA [Vereinigten Staaten] entgegenzutreten und sie zu konterkarieren sowie generell die internationale Sicherheit zu stärken und ein Abgleiten in den Dritten Weltkrieg zu vermeiden. Eine erweiterte strategische Partnerschaft zwischen Russland und China wird den Kern dieser Koalition bilden. De facto formiert sich eine solche Koalition bereits.
Von ihrem russländisch-chinesischen Kern werden Belarus in Europa, der Iran im Nahen Osten und die DVRK in Ostasien angezogen. Mehrere andere Länder der Weltmehrheit befinden sich auf der gleichen Linie: Syrien, Venezuela, Kuba, Nicaragua, Eritrea und die Länder der Sahel-Konföderation.
Diese Koalition kann nicht nur die Versuche der USA [Vereinigten Staaten] vereiteln, insbesondere nach dem Beginn der SMO, Russland in der Welt zu isolieren, was bereits geschehen ist, sondern auch den Einfluss des US-amerikanischen Hegemons im Osten, Westen und Süden des eurasischen Kontinents erheblich einschränken, seine Kräfte binden oder ihn zwingen, sie zu zersplittern (zerstäuben) u. ä. Moskau und Peking sind auch reif für eine engere Koordinierung ihrer Politik in verschiedenen regionalen Richtungen (z. B. Naher und Mittlerer Osten, Zentral- und Nordostasien).
Von besonderer Bedeutung ist die Entwicklung der russländisch-chinesischen Zusammenarbeit in funktionalen Bereichen – militärstrategisch, militärtechnisch, logistisch und im Bereich der Cyber-Sicherheit. Parallel zum Ausbau der Beziehungen zu China muss Russland das strategische Zusammenwirken mit Indien beharrlich intensivieren. Dabei geht es nicht nur darum, die Bemühungen der Länder des Westens zu neutralisieren, die Zusammenarbeit zwischen Moskau und Neu-Delhi zu unterminieren.
Dieses Zusammenwirken ist absolut notwendig, um die Effektivität der Brics und der SCO zu erhöhen, die Arbeit der RIC-Gruppe (Russland, Indien, China) wiederherzustellen, die Große Eurasische Partnerschaft [Greater Eurasian Partnership] und das Sicherheitssystem in Eurasien zu formieren. Zweckmäßig wäre, mit Indien einen Dialog über militärstrategische Fragen aufzunehmen, vielleicht zunächst auf Expertenebene.
Der gleiche Dialog sollte auch mit Pakistan aufgenommen werden. In Zukunft sollten wir zu trilateralen und dann zu quadrilateralen Gesprächen über Wege zur Stärkung der nuklearen Abschreckung/Zügelung [Einschüchterung] und zur Verringerung des Risikos von Kriegen, die drohen, auf die nukleare Stufe der Konfrontation überzugehen. Längerfristig (in zwei bis drei Jahren) sollten auch andere Länder (DVRK, Israel, Iran, Saudi-Arabien u. a.) in diese Gespräche einbezogen werden. In der Zukunft könnte auch Frankreich, eine europäische Macht mit autonomistischen Tendenzen, in dieses Format einbezogen werden.
Derzeit sind Russland, China und Indien die Hauptpfeiler des entstehenden Groß-Eurasiens, zumindest solange, bis die Länder Europas einen Prozess des Wechsels der herrschenden Eliten und ein tiefgreifendes Umdenken in Bezug auf globale Tendenzen durchlaufen und sich so aus der Vasallenabhängigkeit von den USA befreien. In dieser Hinsicht könnte die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit [SOZ] zum Prototyp eines kontinentalen Sicherheitssystems in Eurasien werden – bisher ohne "Halbinsel Europa".
Eine solche Zusammenarbeit und das Zusammenwirken der Länder der Weltmehrheit könnte angesichts der Vereinigung des Westens um die USA [Vereinigten Staaten] die Positionen sowohl der RF [Russlands] als auch der VRCh [Chinas] erheblich stärken. Der SOZ gehören vier Nuklearmächte an, von denen drei komplizierte Beziehungen (China–Indien, Indien–Pakistan) zueinander haben.
Russland, das sich in dieser Hinsicht in einer vorteilhafteren Position befindet, könnte einen Prozess des Dialogs und – langfristig – der Verhandlungen zur Entwicklung eines kontinentalen Abkommens zur Stärkung der strategischen Stabilität in Eurasien einleiten.
Es liegt im Charakter der internationalen Beziehungen, dass das Problem einer strategischen Abschreckung/Zügelung Chinas für Russland auf lange Sicht potenziell besteht. Es ist nicht sinnvoll, im Detail über mögliche Faktoren der Aktualisierung der Abschreckung/Zügelung in der Chinesischen Richtung zu sprechen, aber es ist notwendig, die bestehenden Elemente der strategischen Position Russlands in Bezug auf die VRCh [China] punktartig aufzuzeigen. Zu diesen Elementen gehören:
- strategische Stabilität in den bilateralen Beziehungen, um hypothetische Anreize für einen politischen und bewaffneten Konflikt zwischen den beiden benachbarten Nuklearmächten zu beseitigen;
- strategisches Zusammenwirken – d. h. enge und gleichberechtigte militärpolitische und militärstrategische Zusammenarbeit zwischen Moskau und Peking in Sachen Gewährleistung der kontinentalen und globalen Sicherheit;
- Maßnahmen zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens. Die Struktur der russländischen Streitkräfte zur nuklearen Einschüchterung sollte so aufgebaut sein, dass selbst in ferner Zukunft für Chinas Führung die Anreize wegfallen, Russland unter Druck zu setzen. Der nukleare Faktor sollte dazu dienen, die langfristige freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern zu stärken.
Die Autoren:
Dmitrij Witaljewitsch Trenin – Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Globale Militärökonomie und Strategie,Forschungsprofessor an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik, Nationale Forschungsuniversität Higher School of Economics, Mitglied des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik. Hauptautor des Berichts.
Sergej Josefowitsch Awakjanz – Admiral, Direktor des Instituts für Globale Militärökonomie und Strategie, Nationale Forschungsuniversität Higher School of Economics, Mitglied des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik.
Sergej Alexandrowitsch Karaganow – "Verdienter Professor", Wissenschaftlicher Leiter der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik, Nationale Forschungsuniversität Higher School of Economics, Ehrenvorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik. Leiter des Autorenkollektivs verantwortlicher Mitredakteur des Berichts.
Der Artikel erscheint im Rahmen der Medienkooperation mit WeltTrends – Zeitschrift für Internationale Politik.