Arbeiterkinder in Deutschland immer noch von Bildungschancen abgeschnitten

50 Jahre Bafög: Rufe nach einer grundlegenden Reform werden lauter

Als am 1. September 1971 das "Bundesausbildungsförderungsgesetz", kurz: Bafög, in Kraft trat, ging für viele Westdeutsche ein Traum in Erfüllung: Aufstieg durch Bildung schien auch für Arbeiterkinder möglich zu werden. Von dieser Hoffnung ist nur wenig geblieben - und Rufe nach einer grundlegenden Reform werden lauter.

"Vom ursprünglichen Ziel des Bafög, Chancengleichheit im Bildungssystem herzustellen, ist heute nicht mehr viel übrig", sagte jetzt die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Elke Hannack, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Die Bundesrepublik könne und dürfe es sich nicht leisten, Arbeiterkinder von ihren Bildungschancen abzuschneiden.

Sie machte damit auf ein Problem aufmerksam, vor dem Wissenschaftler seit Jahren warnen: Kinder aus Familien mit niedrigen Einkommen können sich ein Studium nicht leisten. Bei der Hans-Böckler-Stiftung hieß es zum Beispiel im Jahr 2010: Zwei Drittel der Kinder, deren Eltern selbst eine Hochschule besuchten, können sich auf das Geld ihrer Eltern verlassen. "Unter den Kindern ungelernter Arbeiter sind gerade mal 15 Prozent in dieser Situation, vom Nachwuchs der Handwerksmeister 20 Prozent."

Das Bildungssystem in Deutschland ist ungerecht und Bildungschancen hängen immer noch vom Geldbeutel der Eltern ab. Die Kinder aus Arbeiterfamilien werden oftmals lange vor dem Studium aussortiert. Von einhundert Kindern von "Nichtakademikern" schaffen es nur 21, ein Studium aufzunehmen. Von einhundert Akademikerkindern sind es dagegen im Schnitt 74.

An den Hochschulen setzt sich dieser Trend fort: Kinder von "Nichtakademikern" schaffen seltener den Bachelor-Abschluss. Von den anfänglichen 100 Kindern schaffen nur acht den Masterabschluss, während es bei denen aus Akademikerfamilien immerhin 45 sind. Bei der Promotion liegt das Verhältnis schon bei 1:100. Während die Zahl der Studenten in Deutschland in den letzten Jahren anstieg, sank die Zahl der Bafög-Empfänger absolut. Im Jahr 2012 erreichte sie einen Höchststand von 979.000, im Jahr 2020 erhielten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nur noch 639.000 die staatliche Unterstützung.

Die 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes (DSW) hatte ergeben, dass 2016 gerade einmal 18 Prozent der Studenten noch Bafög erhielten. Und die Zahl der Bafög-Empfänger geht von Jahr zu Jahr zurück, wie das DSW erst Anfang August mitteilte. Eigentlich hatte die Bundesregierung das Ziel ausgegeben, dass in diesem Jahr 100.000 Studenten mehr Bafög bekommen sollten, doch das Gegenteil ist eingetreten. Die Zahl der Bafög-Empfänger ging um fast 24.000 zurück.

Deutliche Kritik an der Entwicklung kam auch von den Oppositionsparteien im Bundestag. Statt der von Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) "versprochenen Trendumkehr geht in die kontinuierliche Talfahrt des Bafög weiter", sagte der hochschulpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Kai Gehring. Die letzte Reform, bei der die Freibeträge für Einkommen und Vermögen angehoben wurden, habe sich als "Voll-Flop" entpuppt.

Die Ministerin und ihre Vorgängerinnen hätten das Bafög herabgewirtschaftet, erklärte Nicole Gohlke, hochschulpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion. Studenten seien in unsichere Nebenjobs und in die Verschuldung getrieben worden. Dadurch würden bei vielen die Ausbildungszeiten länger und der Schuldenberg größer. "Wenn selbst in der Coronakrise die Förderquote weiter sinkt, sind die halbgaren Reformen aus dem CDU-geführten Ministerium endgültig gescheitert."

Statt Studierende in der Bildungskrise finanziell abzusichern, seien sie von der Ministerin mit überteuerten Krediten oder mageren Nothilfen abgespeist worden. Um wieder mehr Kinder von "Nichtakademikern" an die Hochschulen zu bringen, brauche es ein Bafög, das zum Leben und Wohnen reicht. Und es brauche eine "Bafög-Revolution".