Absturz Air India 171: War es Vorsatz?

Cockpit einer Boeing 787 Dreamliner. Bild: Peter Krocka / Shutterstock.com
Dramatische Sekunden im Cockpit des Dreamliner. Die Turbinen wurden kurz nach dem Start ab- und wieder eingeschaltet. Die Medien stürzen sich auf die Suizid-These, jedoch gab es technische Warnhinweise.
Diese Mitteilung macht fassungslos: Wie der vorläufige Bericht des indischen Aircraft Accident Investigation Bureau (AAIB) zum Absturz der Boeing 787 (Telepolis berichtete) nahelegt, wurde der Crash der Maschine der indischen Airline möglicherweise vorsätzlich herbeigeführt. So jedenfalls will es das mediale Interesse.
In den Fokus der Untersuchung war der nahezu parallele Ausfall beider Triebwerke (double engine failure) gerückt, was den massiven Auftriebsverlust und den Ausfall zentraler Systeme beim Flug AI 171 erklären würde.
Von "Run" auf "Cuttoff"
Jetzt, so sieht es aus, stimmen die Fakten zusammen: Offenbar wurde Sekunden nach dem Abheben des Boeing-Dreamliners vom indischen Flughafen Ahmedabad der Hauptschalter für die Kontrolle der Turbinen von "Run" auf "Cuttoff" gestellt. Diese Schaltvorrichtung ist unterteilt in zwei getrennte Schalter für je ein Triebwerk (fuel control switches). Die Aufgaben sind klar:
- Anlassen oder Abstellen von Triebwerken am Boden
- Manuelles Abstellen oder Wiederanlassen von Triebwerken während des Fluges im Falle eines Notfalls
Den zeitlichen Abstand beider CUTOFFS gibt der Untersuchungsbericht mit 01 Sekunde(n) an. Die Abschaltung isoliert das Triebwerk zugleich auch elektrisch und hydraulisch.
Aus dem Bericht des AAIB:
Das Flugzeug erreichte die maximale aufgezeichnete Fluggeschwindigkeit von 180 Knoten IAS um etwa 08:08:42 UTC (rd. 333 km/h) und unmittelbar danach gingen die Schalter für die Treibstoffabschaltung (fuel cutoff switches) von Triebwerk 1 und Triebwerk 2 nacheinander mit einem zeitlichen Abstand von 01 Sekunden von der RUN- in die CUTOFF-Position über. Die Triebwerke N1 und N2 begannen, von ihren Startwerten abzufallen, als die Treibstoffzufuhr zu den Triebwerken unterbrochen wurde.
Kampf gegen die Zeit
Beide Switches waren, so belegt der Report, beim Crash jedoch in der On-Position. Das bedeutet, die Schalter wurden erst abgeschaltet und dann wieder aktiviert. Es war augenscheinlich jedoch zu spät: Die Zeit reichte nicht aus für einen Neustart der (technisch intakten) Triebwerke.
Die aufgezeichneten und ausgelesenen Daten beider Triebwerke zeigen, dass sowohl Engine 1 als auch Engine 2 versuchten, die Verlangsamung umzukehren bzw. Treibstoff zuzuführen. Ein dramatischer Kampf gegen die zu dem Zeitpunkt schon sichere Katastrophe: Die eingeleitete Kernverlangsamung der sinkenden Maschine ließ sich nicht mehr umkehren. Der ganze Flug währte nur 36 Sekunden.
"Der verwundbarste Moment"
Pressemeldungen berichten nun mehr oder weniger eindeutig über den Fall als erweiterten Suizid. Viele Luftfahrtexperten schließen einen technischen Defekt nahezu aus. Damit erinnert der Vorfall an den Absturz der German-Wings-Maschine vor zehn Jahren. Damals steuerte der psychisch erkrankte Co-Pilot Andreas Lubitz den Airbus A320 mit 150 Menschen an Bord absichtlich gegen ein Felsmassiv in den französischen Alpen.
Zurück zum Fall AI 171: Der Berliner Tagesspiegel titelt: "Experten gehen von Absicht aus." Der deutsche Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt urteilt laut dem Magazin Spiegel: "Alles deutet darauf hin, dass es ein Suizid war".
Die Treibstoffzufuhr, so Großbongardt, sei in dem Moment unterbrochen worden, als das Flugzeug "am verwundbarsten" war.
Wurde zu früh gemunkelt?
Nicht nur Telepolis blickte in seiner Berichterstattung über die Katastrophe letzte Woche kritisch auf die vergangenen Jahre zurück und erinnerte an Boeing-Abstürze 2018/19. Manche könnten daher fragen: Wurde hier zu früh gemunkelt? Wie es aussieht, ist Boeing im Fall AI 171 zunächst einmal entlastet.
Man muss jedoch festhalten, dass handfeste Kritikpunkte am US-Titan keineswegs aus der Welt sind. Der Absturz AI 171 wirkt hier zweifellos als Brandbeschleuniger; massive gegen Boeing gerichtete Vorwürfe werden seit dem 12. Juni, dem Tag der Katastrophe von Ahmedabad, vehement kolportiert. Jedoch: Es geht um mehr als Meinungsmache. Die bedrohlich klingenden Stimmen kommen gehäuft aus den innersten Zirkeln – und sind nicht vom Tisch.
Es halten sich Vorwürfe, dass Probleme seit Jahren als Einzelfälle abgetan würden und Boeing bekannt gewordene Risiken unter Bürokratie und Schweigen verdecke, um die Marke abzuschirmen. Im Frühjahr 2024 machte Boeing-Ingenieur und Whistleblower Sam Salehpour lauthals Schlagzeilen, als er vor US-Senatoren massive Anschuldigungen erhob:
De facto stellen sie fehlerhafte Flugzeuge her.
Sam Salehpour, Flugingenieur und Whistleblower
So seien bei der Montage von Rumpfteilen des Dreamliner "erhebliche Fehler" toleriert worden. Salehpour berichtete unter anderem auch von einer Boeing-Schattenfabrik in South Carolina, einer speziellen Werkstatt für die Behandlung von 787-Rümpfen mit Qualitätsmängeln. Es soll dem Vernehmen zufolge mehrere solcher Werkhallen geben.
Salehpour: "Ich war Zeuge von schweren Montagefehlern beim Zusammenbau des Flugzeugs. Ich habe gesehen, wie Monteure auf den Flugzeugen herumsprangen, um Teile passend zu machen. Das war nur eine von vielen unsachgemäßen Methoden."
"Why did you cut off the fuel?"
Zum Stand AI 171: Herrschte im Cockpit "Verwirrung", als die Schalter plötzlich geschlossen waren, wie die Schweizer Handelszeitung vermutet?
Der Stimmenrekorder dokumentiert die Situation wie folgt:
"Why did you cut off the fuel?"
The other pilot replies:
"I didn't."
Diese knappe Gesprächsnotiz gibt letztlich keinen Aufschluss darüber, wie die Rollen verteilt waren, d.h. wann der Flugkapitän sprach und wann der Erste Offizier. Der Bericht der AAIB selber nennt auch keinen Grund für den CUTOFF. Der Bericht nüchtern:
In der Aufzeichnung der Cockpitstimmen (cockpit voice recording) ist zu hören, wie einer der Piloten den anderen fragt, warum er die Triebwerke abgestellt hat. Der andere Pilot antwortete, dass er dies nicht getan habe.
Warnhinweis: Bulletin vom 17.12.2018
Nicht alle wollen sich damit zufrieden geben, dass zum jetzigen Zeitpunkt – möglicherweise vorschnell – unterstellt wird, dass hier ein Pilot die Maschine mit Absicht zum Absturz gebracht und den Tod so vieler Menschen ins Kalkül gezogen bzw. in Kauf genommen hat. Der Medienrummel macht den Anschein einer Vor-Verurteilung.
Zur Wahrheit gehört ein Warnhinweis der US-Luftfahrtbehörde Federal Aviation Administration (FAA) im Dezember 2018. Die Warnung (Bulletin No NM-18-33 vom 17.12.2018) enthielt die "advisory" (Empfehlung), diese Schalter einer Inspektion zu unterziehen.
Es wurde auf die Möglichkeit der Entriegelung bzw. Ausrastung (disengagement) des Kraftstoffkontrollschalters hingewiesen.
Allerdings wurden diese Inspektionen nicht zwingend vorgeschrieben (mandatory). Dies hätte alle betroffenen Flugzeuge aus dem Verkehr gezogen, mit erheblichen Konsequenzen.
Ein technisches Versäumnis – nicht auszuschließen
Ob es mit diesen Schaltern also grundsätzlich technische Probleme gegeben haben könnte? Diese Frage muss offensichtlich mit "Ja" beantwortet werden. Nach Ansicht von Experten können sie nicht versehentlich umgelegt worden sein. Das Design des Treibstoffkontrollschalters, einschließlich einer Verriegelungsfunktion, ist bei verschiedenen Boeing-Flugzeugmodellen ähnlich, wie im AAIB-Bericht vermerkt wird.
Die Zeitung India Today zieht auch den folgenden Schluss aus den bisherigen Erkenntnissen:
Der Air India-Absturz macht deutlich, wie wichtig Treibstoffkontrollschalter in modernen Verkehrsflugzeugen wie der Boeing 787 Dreamliner sind. Obwohl die Schalter so konstruiert sind, dass sie nicht versehentlich betätigt werden können, deutet der (AAIB-)Bericht darauf hin, dass die kurze Aktivierung in der "CUTOFF"-Position katastrophale Folgen hatte.