36 Sekunden bis zur Katastrophe: Der Todesflug AI171 und Boeing

Boeing 777 im Sinkflug entlang sich erholender Kurve

Die Air-India-Katastrophe wird für Boeing gefährlich. Die Boeing 787 stürzte kurz nach dem Start ab. 274 Menschen starben. Was ging schief?

Flug AI 171 war kein Unfall – er war eine Konsequenz. Der Absturz muss zu grundlegenden Reformen führen ...
Deccan Herald, Indische Tageszeitung, 23. Juni 2025

Die Katastrophe nahm in den Mittagsstunden des 12. Juni ihren Lauf. Ganze 36 Sekunden dauerte der Horrorflug Air India 171 vom Betätigen der Schubhebel um 13:38 Ortszeit bis zum Zerschellen der Boeing 787-8 mit 242 Personen an Bord – in Sichtweite des International Airport Ahmedabad.

Die Reise des "Dreamliner" mit dem Kennzeichen VT-ANB endete unmittelbar nach dem Start abrupt in einem gigantischen Feuerball. Air India betreibt mehr als 30 Maschinen des Typs.

Fliegendes Grab

Wie durch ein Wunder überlebte ein einziger Passagier das Inferno, bei dem auch am Boden Menschen starben: Der Jet strandete in der Wohnanlage einer medizinischen Hochschule und angrenzenden Gebäuden, in der Kantine stand gerade das Mittagessen auf dem Tisch. Um die 50 Tonnen Treibstoff für den Weg von Ahmedabad nach London waren in den Tanks der Boeing 787; der Flug nach Gatwick sollte neun Stunden dauern. Der Dreamliner, ein fliegendes Todesgrab.

241 tote Passagiere und Crewmitglieder, drei Dutzend Todesopfer an der Einschlagstelle: Medien auf aller Welt sprachen alsbald vom tödlichsten Flugzeugunfall seit 2014. Doch wie konnte es dazu kommen? Wieso hielt sich die Maschine nicht in der Luft, wieso konnte die Crew offenbar nichts tun, um die Maschine auf Höhe zu halten?

War anfangs von Rätselhaftigkeit die Rede, so kursierten bald erste Mutmaßungen, befeuert durch dramatisch anzusehende Videos, die den kurzen Steigflug und sein abruptes Ende dokumentieren: Air India 171 gerät kurz nach dem Abheben (shortly after take-off) für jedermann sichtbar in einen offensichtlich unausweichlichen Niedergang.

Rätselraten

Zu den herumgereichten Theorien gehörten alsbald Vogelschlag, verunreinigter Treibstoff, Sabotage oder sogar "Absicht" der (oder eines) Piloten.

Ein Großteil der Experten hielt sich aber zurück, wobei die getauschten Posts gestandener Berufspiloten und Flugkapitäne sich zunehmend auf einige Auffälligkeiten fokussierten. Dazu zählen: Die Maschine kam nicht über eine Flughöhe von 190 Metern hinaus. Das Fahrwerk der Boeing und Vorflügel an der Tragflächen-Vorderkante blieben offenbar ausgefahren. Unter dem Rumpf ragt vermutlich die RAT (Ram Air Turbine) hervor, ein Hilfsaggregat für den Notfall.

Das Wall Street Journal schrieb knapp eine Woche nach dem Unfall, das Emergency-Power-System sei ersten Untersuchungen zufolge "wahrscheinlich aktiv" gewesen.

RAT – vergeblich im Einsatz?

Auch Videoaufnahmen, die immer wieder aufgerufen werden, zeigen Air India 171 nach der initialen Startphase mit vermutlich aktiviertem RAT.

Die RAT, ausgestattet mit einer Luftschraube, kommt nur zum Einsatz, wenn elementare Systeme versagen: Schlimmstenfalls die Haupttriebwerke (Turbinen), damit insbesondere die elektrischen und hydraulischen Funktionen sowie die Cockpit-Systeme. Fallen solche Primärsysteme aus, kann der Notgenerator helfen, die Energieversorgung und damit die Steuerung des Flugzeugs vor dem totalen Kollaps zu bewahren.

Und damit scheint der Knackpunkt im Fall AI 171 angesprochen: Ein moderner Passagierjet könnte mit nur einem funktionierenden Triebwerk auf jeden Fall den Flug fortsetzen und auch sicher landen. Vogelschlag konnte mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlossen werden. Unspektakuläre Wetterbedingungen wurden dem Startzeitpunkt attestiert, alles sah nach Routine aus.

"Quälende Sekunden"

Hat es einen doppelten Schubverlust gegeben? Einen Totalausfall der Triebwerke (double engine failure)? Das wäre eine zumindest plausible Antwort. Beobachter vom Boden berichteten, man habe während des Sinkflugs nicht mehr die üblichen Turbinengeräusche wahrgenommen. Die Plattform AeroNewsGermany stellt klar:

Doppelter Schubverlust in der Flughöhe (…), da gibt es keine Chance, rauszukommen.
AeroNewsGermany

Beide Flugschreiber wurden geborgen, die Daten ausgelesen. Sekunden vor dem Aufprall hatte der Pilot über Funk einen "Mayday"-Notruf abgesetzt:

Mayday, mayday, mayday, no thrust, losing power, unable to lift.

Im Zentrum der technischen Analyse stünden derzeit die Treibstoffversorgung, elektrische Systeme und die Hydraulik, schreibt Wallstreet Online (01.07.2025).

Die Szenarien des Cpt. Steeeve

Ein populärer YouTuber namens Captain Steeeve, der als Kapitän einer Boeing 777 für eine große Fluggesellschaft tätig ist, postete ein Video über den Air-India-Crash.

Steeeve spielt Szenarien durch. Dabei erläutert er den Unterschied zwischen power loss (Leistungseinbruch) und lift loss (Auftriebsverlust). "Loss of lift" meint den Ausfall des Auftriebs.

Was hätte den – möglicherweise simultanen – Ausfall beider Triebwerke verursachen können?

"Komplexes technisches Fehlerszenario"

Von einem "komplexe(n) technische(n) Fehlerszenario" ist die Rede. Ein massiver Auftriebsverlust, Zusammenbruch elektrischer und hydraulischer Systeme, praktische Navigierunfähigkeit …? Statistisch gesehen, so die Experten, "highly unusual".

Der indische Staatsminister für Zivilluftfahrt, Murlidhar Mohol, kündigte in einer Mitteilung Ende Juni (am Sonntag, 29. Juni) an, dass die Behörde eine umfassende Untersuchung des Flugzeugabsturzes durchführen und dabei alle Aspekte untersuchen würde. Mohol bezeichnete den Vorfall als "beispiellos" und versicherte, dass die Ermittler nichts unversucht lassen würden.

Das indische Büro zur Untersuchung von Flugzeugunfällen (AAIB) untersuche, so heißt es, alle möglichen Ursachen – einschließlich Sabotage.

Ungute Erinnerungen

Der Vorfall lässt ungute Erinnerungen wach werden. Das Handelsblatt schrieb:

Nun rücken mögliche Ursachen in den Blick, die den Hersteller des Flugzeugs schon einmal beschäftigten (…)

Zur Erinnerung: Schon 2018 und 2019 machten zwei Boeing-Katastrophen Schlagzeilen rund um die Welt. Bei den Abstürzen starben 346 Menschen. Es offenbarten sich massive Probleme mit der Steuerung der 737 MAX.

Das "Maneuvering Characteristics Augmentation System" (MCAS), ein automatisches Stabilisierungssystem, sollte die Nase des Flugzeugs nach unten drücken, wenn sie gefährlich nach oben zeigte. Die Steuerungssoftware erwies sich jedoch als tödliche Falle.

Analysten sagten, der spezifische Einsatz und eine fatale Handhabung der neu installierten Air Craft Software stellte die jahrzehntelange Philosophie von Boeing auf den Kopf, laut der der Pilot in der Hierarchie über dem Rechner stehen muss. Mit der Abkehr von dieser Devise zeigte sich ein Desaster, das zum Kampf zwischen Mensch und Computer ausgeartet war.

Die Welt hatte sich verändert: Im Konkurrenzkampf der milliardenschweren Flugzeugentwicklung waren Softwarelösungen kein "Nebenkriegsschauplatz" mehr, sondern avancierten zum entscheidenden Unterschied. Allerdings hatte es den Anschein, als hätte Boeing-Konkurrent Airbus auf dem Sektor die Nase vorn. Hat Boeing an der falschen Stelle gespart?

Man wird sich auch im Falle AI 171 mit den Computersystemen befassen müssen (Looking for the ghost in the system).

Der Ikarus-Faktor

Ein Titan der US-Industrie, absturzgefährdet?

Boeing hat sich am Himmel der Wohlfahrt zweifellos bequem eingerichtet. Zu bequem? Ein gutes Drittel der Bestellungen kam 2023 von der US-Regierung.

Die 787 besteht zu 70 Prozent aus Teilen von Zulieferern. Damit verliere das Unternehmen die Kontrolle über Qualitäten und Lieferzeiten, erklärt das Content-Netzwerk funk in einem Beitrag von 2024. Das Magazin Krautreporter ergänzt:

Waren die genauen Anforderungen für Boeings Elektro-Zulieferer bei der 777 noch 2.500 Seiten lang gewesen, hatte das entsprechende Dokument beim Dreamliner 20 Seiten.

"Profit über Produkt"

Neben radikalem Outsourcing machte das Unternehmen durch milliardenschwere Aktienrückkäufe von sich reden. Mit den "buybacks" lässt sich der Aktienkurs aufblasen. Nochmal zig Milliarden flossen als Dividendenzahlungen an die Aktionäre – Geld, das für Investitionen nicht zur Verfügung steht. Das funk-Resümee lautet: "Profit steht über dem Produkt".

Die drastische Schrumpfung der Belegschaft trug auch ihren Teil zur Schieflage von Boeing bei. Nach der Jahrtausendwende ging auf die Weise viel Fachwissen ("many brains") verloren, gleichzeitig stiegen die Managergehälter. Während der Börsenwert in die Höhe kletterte, wurde an den falschen Stellen gespart.

Aber: "Die globale Flugzeugflotte wächst und wächst – trotz aller Probleme können die Fluggesellschaften nicht auf Boeing verzichten". Auch ein schlingernder Aktienkurs dürfte an dieser Einsicht nicht viel ändern. Der Riese Boeing – to big to fail.

Der Sturz des Ikarus wird also, anders als in der Mythologie, vorübergehender Natur sein.