8. Mai 1945: "Konsens, dass es auch ein Tag der Befreiung war"

Die Zeitungen L'Union, l'Ardennais, Stars and Stripes Extra und L'Éclair verkünden die Kapitulation Nazideutschlands. Bild: Gérald Garitan, CC BY-SA 3.0

Der Historiker Ernst Piper über den 8./9. Mai 1945, die Veränderung des Gedenkens durch den Krieg in der Ukraine und Hitler-Putin-Vergleiche

Herr Piper, am Sonntag und Montag wird des Sieges über das Hitlerregime 1945 gedacht. Was ist anders in diesem Jahr, angesichts des russischen Kriegs in der Ukraine?
Ernst Piper: Kurz gesagt: Alles ist anders. Die Feier in Moskau am 9. Mai – einen Tag später als bei uns – wird die große Isolation zeigen, in die Russland sich durch den brutalen Krieg gegen die Ukraine gebracht hat.
Ernst Piper, geboren 1952 in München, lebt heute in Berlin. Von 1982 bis 2002 war er als Verleger tätig. Er ist apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und hat zahlreiche Bücher zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts veröffentlicht.
Ausländische Gäste sind diesmal nicht eingeladen, aber sie wären ohnehin nicht gekommen. Der ursprüngliche Sinn dieser Veranstaltung, der Sieg über Hitler-Deutschland, tritt immer mehr in den Hintergrund. Putin wird vermutlich vor allem versuchen, den Russen ein neues Narrativ für den Krieg gegen die Ukraine zu präsentieren.
In Berlin wurde in einer Allgemeinverfügung der Polizei das Zeigen von Sowjetfahnen untersagt. Ist das für Sie nachvollziehbar?
Ernst Piper: An insgesamt 15 Gedenkorten dürfen keine russischen und ukrainischen und auch keine sowjetischen Fahnen gezeigt werden. Auch Kriegssymbole wie das "Z" und Militärmusik sind untersagt.
Das ist der Versuch, zu verhindern, dass die Gemüter zu sehr in Wallung geraten. Da in der gegenwärtigen Situation gerade auch die Sowjetfahne extrem unterschiedliche Emotionen auslöst, kann ich die Entscheidung nachvollziehen.
Am Sonntag will Bundeskanzler Olaf Scholz eine Fernsehansprache halten. Was sollte er sagen?
Ernst Piper: Er sollte deutlich machen, dass er gewillt ist, die Führung, von der er gerne spricht, auch wirklich zu übernehmen. Scholz ist kein Freund lauter Töne. Er bereitet seine Entscheidungen gerne diskret und sorgfältig vor. Das ist nichts Schlechtes, reicht in Zeiten wie diesen aber nicht aus. Er muss den Menschen im Lande eine klare Orientierung bieten, das erwarten sie mit Recht von ihm.
Wie wird der Krieg in der Ukraine das Bild der Deutschen vom 8. Mai verändern?
Ernst Piper: Das muss man differenziert beantworten. Es gibt ja noch immer in West- und Ostdeutschland sehr unterschiedliche Erinnerungskulturen. Das Geschichtsbild der Westdeutschen wird sich durch diesen Krieg nicht sehr verändern, während es im Osten noch immer eine Menge Sowjetnostalgie gibt, wie Tino Chrupalla (AfD) sie kürzlich auch im Bundestag artikuliert hat. Man darf hoffen, dass dieser Krieg Denkprozesse anstößt, die zu mehr gemeinsamer deutsch-deutscher Erinnerung an den 8. Mai 1945 führen.

Krieg als Erinnerungsort

In Ihrem Buch weisen Sie wiederholt auf die Singularität des Holocausts hin. Im Ukraine-Krieg gibt es viele Vergleiche mit den damaligen Verbrechen, Angefangen von Putins Darstellung einer "Entnazifizierung" bis hin zu Selenskyjs These, Putin gehe es – gleich den Nazis – um die "Endlösung". Warum solche Vergleiche?
Ernst Piper: Putin geht es nicht um den Holocaust, der interessiert ihn nicht, sondern um den Großen Vaterländischen Krieg, in dem Hitler-Deutschland besiegt worden ist. Und da dieser Krieg nach wie vor ein Erinnerungsort von überragender Bedeutung für die Russen ist, spielt er darauf an.
Ernst Piper
"Diese Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sich selbst nicht zu kennen. Deutsche Geschichte im Zeitalter der Extreme"
Hardcover mit Schutzumschlag
Erschienen im Verlag Ch. Links
336 Seiten
26 Euro
Ob Selenskyj von Endlösung gesprochen hat, weiß ich nicht. Ich glaube, er sprach von Auslöschung, und das ist es ja, was Putin will.
Werden wir also Zeugen eines Kampfes um die Deutungshoheit des Holocausts und des Sieges über Hitler-Deutschland, bei dem jeder beansprucht, auf der Seite der Guten zu stehen?
Ernst Piper: Diskussionen über die Genese, den Charakter und die Bedeutung des Holocaust gab es in den letzten Jahrzehnten immer wieder, vom Historikerstreit des Jahres 1986 bis hin zu den Angriffen der Postkolonialisten. Um Gut und Böse ging es dabei meist nicht, eher um die Deutung des Geschehens und die Instrumentalisierung der jeweiligen Interpretation.
Was macht das mit dem historischen Gedächtnis?
Ernst Piper: Das kulturelle Gedächtnis der Nachfahren der Opfer, der Täter ist im Laufe der Zeit immer wieder Veränderungen unterworfen. Dabei spielen neue Narrative wie das der Postkolonialisten eine Rolle, die einen israelbezogenen Antisemitismus propagieren, aber auch die wachsende zeitliche Distanz, neue Forschungsergebnisse, neue mediale Darstellungsformen und anderes mehr.
Präsident Selenskyj hat den russischen Angriffskrieg in einer Videobotschaft an die Knesset mit dem Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht verglichen, Russlands Außenminister Lawrow hat mit antisemitischen Verbalattacken auf Selenskyj reagiert. In Deutschland zumindest wurde politisch und medial nur Lawrows Fauxpas wahrgenommen. Warum?
Ernst Piper: Da Putin die Ukraine erklärtermaßen von der Landkarte tilgen will und behauptet, dass es ein ukrainisches Volk gar nicht gibt, war Selenskyjs Vergleich durchaus nachvollziehbar. In Tschetschenien haben die Russen nach dem gewonnenen Krieg große Teile der Bevölkerung durch Prüf- und Filtrationslager des NKWD geschleust, viele Menschen ermordet und den Rest zwangsrussifiziert. In den russisch besetzten Gebieten der Ukraine geschieht dasselbe. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Ukraine bei ihrem Widerstand gegen die russische Aggression entschlossen unterstützen.
Auf Demonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine werden in Wort und Schrift häufig Nazi-Vergleiche vorgenommen. Wenn das ukrainische Teilnehmer machen, ist das ja nachvollziehbar. Aber bei Deutschen?
Ernst Piper: Welche Nazi-Vergleiche meinen Sie? Dass Putin mit Hitler verglichen wird? Auf Demonstrationen mag das vorkommen, da kann ja jeder auf sein Plakat malen, was ihm gerade durch den Sinn geht. Aber in der seriösen Debatte spielt das eigentlich, soweit ich sie wahrnehme, keine Rolle. Putin muss man in der Tradition des russischen Imperialismus sehen.

Kein pauschales Gedenken an "Opfer totalitärer Regime"

Sie beschreiben in Ihrem Buch die Konkurrenz des Gedenkens, wie Adenauer etwa die Vertriebenen an die Stelle der, wie Sie unter Bezug auf den SPD-Politiker Rolf Wernstedt schreiben, "primären Nazi-Opfer" traten; ebenso die deutschen Kriegsgefangenen. Später wurde der 17. Juni in Westdeutschland zum Feiertag, nie aber der 8. Mai. Erleben wir erneut eine solche Palimpsestierung des Gedenkens?
Ernst Piper: Die von Ihnen angesprochenen Vorgänge sind Phänomene des Kalten Kriegs, gerade auch die Erhebung des 17. Juni zum Feiertag. Konsequenterweise gibt es diesen Feiertag seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Der 8. Mai ist der Tag der deutschen Kriegsniederlage.
Daraus kann man kaum einen deutschen Feiertag machen. Aber es gibt seit Jahrzehnten große Gedenkveranstaltungen. Und spätestens seit Richard von Weizsäckers Rede 1985 ist es weithin Konsens, dass es eben auch ein Tag der Befreiung war.
Das Europäische Parlament hat schon vor 13 Jahren den 23. August, den Tag, an dem 1939 der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt unterzeichnet worden war, zum "europaweiten Gedenktag an die Opfer aller totalitären Regime" erklärt. Wohin geht diese Entwicklung, wer treibt sie an – und warum?
Ernst Piper: Dieser Beschluss geht auf eine Initiative einiger rechtsstehender osteuropäischer Politiker wie Viktor Orbán zurück. Dieser Gedenktag ist bis heute weithin unbekannt. In Deutschland und, soweit ich sehen kann, auch in den allermeisten anderen europäischen Ländern wird er von der überwältigenden Mehrheit der Wissenschaft, aber auch der gesellschaftlichen Kräfte abgelehnt.
"Die Russen" – als Synonym für die Soldaten der multiethischen Roten Armee – waren in Deutschland stets als diejenigen akzeptiert, die zum Ende des Hitler-Regimes entscheiden beigetragen haben. Das wirkte sich stets auch auf die Haltung gegenüber Moskau aus. Was hat sich seit dem 24. Februar geändert?
Ernst Piper: Da sprechen Sie einen wunden Punkt an. Noch heute fällt es vielen Deutschen schwer, zwischen Russland und der Sowjetunion zu unterscheiden. Die Sowjetunion bestand aus 15 verschiedenen Sowjetrepubliken. Und die Ukrainer waren diejenigen von allen Völkern, die in Relation zu ihrer Größe im Zweiten Weltkrieg am meisten Opfer zu beklagen hatten. Auch Auschwitz wurde von einem ukrainischen Bataillon befreit. Ich fürchte, den allermeisten Menschen hierzulande ist das alles nach wie vor viel zu wenig bewusst. Da hat sich noch nicht viel geändert seit dem 24. Februar.
Wie werden Sie am Sonntag oder Montag des Geschehnisses vor 77 Jahren gedenken?
Ernst Piper: Ich fahre am Sonntag in den Urlaub und werde deshalb dieses Jahr nur durch die Vermittlung der Medien am Geschehen teilnehmen. Aber da versäume ich nicht wirklich etwas, weil der Berliner Senat sich angesichts des Kriegs in der Ukraine für ein stilles Gedenken entschieden hat und alle offiziellen Veranstaltungen ausfallen.

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