Ukraine-Krieg: Die unterschätzte Waffenschmiede im angegriffenen Land

Hrim-2-Startfahrzeug der ukrainischen Armee im Jahr 2018. Bild: VoidWanderer / CC BY-SA 4.0 Deed
Kiew hat heimlich ein eigenes Raketenarsenal aufgebaut. Die Hrim-2 fliegt weit, trifft hart – und braucht kein grünes Licht aus Washington. Wie ist diese Entwicklung einzuschätzen?
Fast 300 Kilometer flog die Rakete durch die Nacht, bevor sie ihr Ziel traf – einen russischen Kommandoposten irgendwo hinter den Frontlinien. Was diesen Angriff im Mai 2025 von zahllosen anderen unterscheidet: Zum ersten Mal hatte Ukraine eine selbst entwickelte ballistische Rakete im Kampf eingesetzt.
Einen Monat später, am 6. Juni, verkündete Kiew dann offiziell, was Militärexperten bereits vermuteten - das Land verfügt mittlerweile über ein Lager eigener ballistischer Raketen.
Mit der Hrim-2 verfügt die Ukraine erstmals über eine selbst entwickelte ballistische Rakete, die ihr ermöglicht, ausgewählte Ziele eigenständig zu bekämpfen – unabhängig von westlicher Unterstützung.
Technische Spezifikationen
Die Hrim-2 gehört zur Klasse der taktischen ballistischen Raketen. Mit einer Reichweite von 280 bis 300 Kilometern und einem Sprengkopfgewicht von über 400 Kilogramm übertrifft sie mehrere westliche Vergleichssysteme deutlich, wie Ukrinform erläutert. Der amerikanische ATACMS Block IA beispielsweise trägt lediglich einen 160 Kilogramm schweren Sprengkopf.
Das Führungssystem der Hrim-2 kombiniert Trägheitsnavigation mit GPS-Korrekturen und soll eine Zielgenauigkeit von etwa 50 Metern erreichen.
Die Rakete wird von einer mobilen Startplattform auf Radfahrgestell abgefeuert, was schnelle Verlegung und Tarnung ermöglicht. Das System soll typischerweise 40 bis 50 Kilometer hinter der Frontlinie operieren, um außerhalb der gegnerischen Reichweite zu bleiben.
Das Gesamtgewicht der Rakete beträgt schätzungsweise zwei bis drei Tonnen. Im direkten Vergleich erreicht die russische Iskander-M eine ähnliche Reichweite von bis zu 500 Kilometern, während die nordkoreanische KN-23 sogar 800 Kilometer schafft, allerdings mit schwankender Treffergenauigkeit, wie Bulgarian Military berichtet.
Entwicklungsgeschichte
Die Wurzeln der Hrim-2 reichen zurück in die sowjetische Ära. Das Projekt baut auf jahrzehntelanger ukrainischer Raketentechnik auf, die einst Systeme wie die R-12 und R-16 hervorbrachte – die ersten Raketen, die Atomsprengköpfe tragen konnten, wie aus Berichten von Bulgarian Military hervorgeht.
Entwickelt wird die Hrim-2 vom Yuzhnoye Design Bureau und produziert von Yuzhmash in Dnipro, denselben Unternehmen, die während des Kalten Krieges Interkontinentalraketen wie die RS-36M fertigten.
Das aktuelle Hrim-Projekt startete bereits 2006, kam jedoch aufgrund von Finanzierungsproblemen und politischer Instabilität kaum voran. Eine Version wurde in den 2010er Jahren für Saudi-Arabien entwickelt, die heimische Produktion stockte jedoch bis zum russischen Einmarsch 2022.
Bereits im August 2024 hatte Präsident Selenskyj den erfolgreichen Test einer ukrainischen ballistischen Rakete angekündigt. Ukrainische Behörden bestätigten später positive Ergebnisse bei Flugtests mit Plänen für die Vollproduktion bis Mitte 2025.
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Dokumentierte Einsätze
Der erste bestätigte Kampfeinsatz der Hrim-2 fand nach Angaben von United24 Media im Mai 2025 statt, als eine Rakete einen russischen Kommandoposten in knapp 300 Kilometern Entfernung traf.
Das ukrainische Fachportal Defense Express vermutet jedoch, dass die Hrim-2 bereits zuvor heimlich eingesetzt worden sein könnte.
Das Portal verwies auf eine auffällige Zunahme zerstörter russischer Kommandoposten Anfang Mai sowie auf einen Angriff auf ein russisches Iskander-System in der Region Brjansk, bei dem möglicherweise nicht die zunächst vermutete US-amerikanische Himars-Munition zum Einsatz kam.
Produktionskapazitäten im Vergleich
Die ukrainische Hrim-Produktion steht einem massiven russischen Raketenarsenal gegenüber. Nach Angaben der Nachrichtenagentur RBC Ukraine verfügt Russland über mehr als 1.950 strategische Raketen verschiedener Typen, darunter bis zu 500 Iskander-M-Raketen und über 400 Kalibr-Marschflugkörper. Die Zahlen stammen vom ukrainischen Militärgeheimdienst HUR.
Russlands Produktionskapazität scheint erheblich: Moskau stellt monatlich angeblich bis zu 195 Raketen her, davon allein 60 Iskander-M-Systeme. Zusätzlich produziert das Land täglich bis zu 170 Angriffsdrohnen vom Typ Geran-2, mit Plänen einer Steigerung auf 190 Einheiten täglich bis Jahresende.
Die Ukraine plant dagegen eine deutlich bescheidenere Produktion von 40 bis 50 Hrim-Raketen pro Monat, wie das Fachportal Army Recognition berichtet. Diese Zahlen verdeutlichen das beträchtliche Ungleichgewicht, auch wenn ukrainische Beamte von einem raschen Produktionsausbau sprechen.
Europa kann der russischen Raketenproduktion nur begrenzt entgegenwirken. Nach Berechnungen von Fabian Hoffmann auf seinem Blog Missile Matters produzieren die USA und Europa zusammen etwa 850 bis 880 Patriot-Abfangraketen und zusätzlich 190 bis 225 Aster-Abfangraketen jährlich, bei einer geplanten Steigerung auf 1.130 Patriot bis 2027.
Allerdings gehen nur etwa 45 bis 55 Prozent der Patriot-Raketen nach Europa, da das System einen globalen Kundenstamm hat, während fast alle Aster-Raketen in Europa verbleiben.
Damit liegt Europas jährliche Abfangkapazität bei nur 235 bis 299 ballistischen Raketen – vorausgesetzt, dass für jede anfliegende Rakete zwei Abfangraketen eingesetzt werden, um eine hohe Trefferwahrscheinlichkeit zu erreichen. Das ist ein Bruchteil der russischen Jahresproduktion von 840 bis 1.020 ballistischen Raketen.
Westliche Reaktionen und Rüstungsdynamik
Die ukrainische Hrim-Entwicklung fällt zeitlich mit einer Intensivierung westlicher Rüstungsprogramme zusammen. Frankreich kündigte im Juli 2025 die Wiederaufnahme der Storm Shadow/SCALP-Produktion an – die erste neue Bestellung seit 15 Jahren laut Kyiv Post.
Der seit 2003 im Dienst stehende Marschflugkörper erreicht in der Exportversion eine Reichweite von über 250 Kilometern, während die für Großbritannien und Frankreich produzierten Versionen bis zu 560 Kilometer schaffen.
Die Wiederaufnahme der Produktion soll sicherstellen, dass die Bestände wieder aufgefüllt werden können. Ein Teil der neu produzierten Raketen könnte an die Ukraine geliefert werden. Frankreich stellte in seinem Verteidigungshaushalt 2025 bereits 1,9 Milliarden Euro für verschiedene Raketen bereit, einschließlich Storm Shadow/SCALP-Systemen.
Während Russland seine Raketenproduktion seit 2022 deutlich ausgebaut hat, können Europa und die USA mit der Produktion von Abfangraketen nicht Schritt halten. Die Kosten verstärken das Problem zusätzlich: Patriot- und Aster-Abfangraketen kosten zwischen zwei und vier Millionen Dollar pro Stück – deutlich mehr als die ballistischen Raketen Russlands.
Strategische Einordnung
Erstmals seit Kriegsbeginn verfügt die Ukraine über ballistische Raketen, die unabhängig von westlichen Lieferungen und deren politischen Beschränkungen eingesetzt werden können.
Während ATACMS und Storm-Shadow-Raketen oft Nutzungsbeschränkungen unterliegen, kann Kiew seine eigenen Systeme ohne externe Genehmigungen verwenden. Trotzdem wird die Wirkung der neuen Rakete vermutlich begrenzt bleiben.
Selbst Dutzende von Raketen können kaum einen strategischen Durchbruch bewirken. Nach Angaben von United24 hat Russland in den ersten beiden Kriegsjahren über 10.000 Raketen verschiedener Typen eingesetzt, ohne eine strukturelle Niederlage Ukraines zu erreichen.
Ob das ukrainische Produktionsziel von 40 bis 50 Raketen pro Monat überhaupt erreicht werden kann, erscheint fraglich – nicht zuletzt wegen der zunehmenden russischen Luftangriffe auf Rüstungsanlagen.