USA prüfen Lieferung von Tomahawk-Marschflugkörpern an Ukraine

(Bild: e-crow / Shutterstock.com)
Trump will der Ukraine Waffen mit Reichweite bis Moskau geben. Doch fehlende Startsysteme und hohe Kosten bremsen die Pläne aus.
"Volodymyr, can you hit Moscow? Can you hit St. Petersburg too?" Diese brisante Frage stellte US-Präsident Donald Trump seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj während eines Telefonats am 4. Juli. Wenige Tage später erwog die Trump-Regierung nach Angaben der Kyiv Post Tomahawk-Lieferungen – Waffen mit einer Reichweite, die theoretisch das Herz Russlands erreichen könnten.
Die Überlegungen markieren eine Kehrtwende in der nach außen kommunizierten amerikanischen Ukraine-Politik. Noch Anfang Juli hatte Washington mehrere sehr kleine Waffenlieferungen, einschließlich einer Handvoll Patriot-Raketen und einer Tagesration 155-Millimeter-Artilleriemunition, gestoppt.
Als Grund wurden Bedenken über schwindende US-Lagerbestände und eine Neubewertung der Militärhilfe-Prioritäten genannt. Doch am 14. Juli kündigte Trump einen Kurswechsel an: Ein neues Unterstützungspaket im Wert von zehn Milliarden Dollar soll über Nato-Partner als Zwischenhändler abgewickelt werden, um eine direkte Zustimmung des US-Kongresses zu umgehen.
Die entscheidenden Gespräche: Trump und Selenskyj
Trump beschrieb die "Hit Moscow"-Strategie als Mittel, um Russland "Schmerz fühlen" zu lassen und den Kreml an den Verhandlungstisch zu zwingen, berichteten zwei mit dem Gespräch vertraute Personen gegenüber der Financial Times.
Öffentlich präsentierte Trump jedoch eine andere Linie. Vor Reportern im Weißen Haus erklärte er, Selenskyj "sollte Moskau nicht angreifen" und die USA würden "nicht beabsichtigen", Langstreckenraketen nach Kiew zu liefern. Stattdessen drohte er mit Zöllen und Sanktionen gegen Russland, falls innerhalb von 50 Tagen kein Friedensabkommen erreicht werde.
Ukrainische Tomahawk-Anfragen: Von 2024 bis heute
Die Ukraine hatte bereits im Oktober 2024 Tomahawk-Marschflugkörper angefragt. Selenskyj inkludierte die Waffen in seinen "Five-Step Victory Plan", doch Washington lehnte ab. Nach Angaben der Eurasian Times waren US-Beamte nicht überzeugt, wie diese Langstreckenraketen den Kriegsverlauf ändern könnten.
Hinzu kam ein praktisches Problem: Die von der Ukraine vorgelegte Zielliste überstieg die verfügbaren Raketen, ohne amerikanische Bestände für den Nahen Osten und Asien zu gefährden.
Nach dem Trump-Selenskyj-Gespräch änderte sich die Dynamik. Selenskyj erhielt in Rom eine Liste potenzieller Waffensysteme, wie die Financial Times berichtete. US-Verteidigungsbeamte und Nato-Vermittler präsentierten ihm Langstrecken-Angriffssysteme, die über Drittparteien-Transfers verfügbar werden könnten.
Diese Konstruktion ermöglicht es Trump, die Kongress-Zustimmung für direkte Militärhilfe zu umgehen: Washington verkauft die Waffen an europäische Verbündete, die sie anschließend an Kiew weiterleiten.
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Das Tomahawk-System: Ältere Technologie mit großer Reichweite
Die Tomahawk-Plattform ist alles andere als eine moderne Waffe. Das BGM-109-System wurde bereits 1983 eingeführt und ist damit über 40 Jahre alt. Seit 1991 feuerten die US-Streitkräfte mehr als 2.300 dieser Raketen ab – ein Zeichen für ihre weite Verbreitung, aber auch für ihr Alter.
Die verschiedenen Tomahawk-Varianten erreichen Reichweiten zwischen 400 und fast 2.600 Kilometern, abhängig von der Version. Die aktuellen Block-IV- und Block-V-Varianten kosten etwa 2,4 Millionen Dollar pro Stück. Die Raketen fliegen mit etwa Mach 0,75 - rund 880 Kilometern pro Stunde – und halten sich in niedriger Höhe zwischen 30 und 45 Metern, um der Radarerfassung zu entgehen.
Technisch bieten die neueren Varianten durchaus Raffinessen: Der Block IV kann während des Flugs das Ziel wechseln und stundenlang über einem Gebiet kreisen. Der seit 2020 produzierte Block V kann bewegliche Marineziele angreifen und verfügt über verbesserte Navigation und Kommunikation. Dennoch bleibt es ein System aus den 1980er Jahren, mit entsprechenden Limitierungen.
Die hohen Stückkosten machen jede Lieferung zu einem kostspieligen Unterfangen – besonders angesichts der ukrainischen Anfrage nach größeren Mengen für strategische Ziele in Russland.
Militärische Herausforderungen für die Ukraine
Die Ukraine steht vor einem grundlegenden Problem beim Einsatz von Tomahawk-Raketen: Sie besitzt keine geeigneten Startplattformen. Wadym Skybitsky, stellvertretender Leiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR, erklärte nach Angaben der New Voice of Ukraine, die Raketen seien "nicht einfach zu verwenden". Ihre primären Plattformen seien Kriegsschiffe oder strategische Bomber – "wir haben keine strategischen Bomber", so Skybitsky.
Diese technische Hürde ist erheblich. Tomahawks werden normalerweise von Lenkwaffenkreuzern, Zerstörern oder U-Booten abgefeuert. Die Ukraine verfügt über keine dieser Plattformen in ausreichender Zahl oder Qualität.
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Eine mögliche Lösung könnte in bodengestützten Systemen liegen, doch diese erfordern erhebliche technische Anpassungen. Die Eurasian Times weist darauf hin, dass Tomahawks "primär Schiffsraketen sind und wahrscheinlich erhebliche technische Unterstützung und Infrastruktur benötigen würden, um sie für den Bodenstart anzupassen".
Strategische Implikationen und russische Reaktionen
Mit einer Reichweite von bis zu 2.500 Kilometern könnten Tomahawk-Raketen theoretisch Moskau und St. Petersburg erreichen – genau das, was Trump in seinem Telefonat mit Selenskyj thematisierte. Russische Militärbasen haben sich nach Angaben des ukrainischen Geheimdienstes bereits über 500 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, um den bestehenden ukrainischen Waffen zu entgehen.
Russland reagierte prompt auf die Diskussionen über Langstreckenwaffen-Lieferungen. Dmitri Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrats, bezeichnete Trumps Ultimatum als "theatralisch" und erklärte: "Russland kümmert es nicht."
Bereits im November hatte Moskau nach ersten ATACMS-Angriffen auf russisches Territorium gedroht. Russland testete als Antwort die experimentelle Mittelstreckenrakete Oreshnik gegen die ukrainische Stadt Dnipro. Russland aktualisierte zudem seine Nukleardoktrin und senkte die Schwelle für einen möglichen Ersteinsatz von Atomwaffen.
Die neue Doktrin könnte einen russischen Nuklearschlag gegen die USA, Großbritannien und Frankreich – die drei Nato-Atommächte – als Antwort auf ukrainische Angriffe mit westlichen Waffen vorsehen. Ob diese Drohungen ernst gemeint sind oder primär der Abschreckung dienen, bleibt unklar.
Deutsche und europäische Perspektive
Deutschland verfolgt eigene Pläne für Langstreckenwaffen und hat bereits konkrete Schritte unternommen. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bat Washington um Typhon-Launcher-Systeme, die sowohl SM-6-Raketen als auch Tomahawk-Marschflugkörper abfeuern können, berichtete Hartpunkt. Diese Systeme könnten theoretisch auch für die Ukraine relevant werden, erfordern jedoch komplexe Logistik und Ausbildung.
Diese Systeme sollen laut Pistorius "rein zur Abschreckung" dienen. Waffen mit dieser Reichweite gebe es in Europa derzeit nicht.
Pistorius bezeichnete Typhon als Brückenlösung, bis Europa in sieben bis zehn Jahren eigene Langstreckenwaffen entwickelt habe. Er verwies auf die ELSA-Initiative (European Long Range Strike Approach), in deren Rahmen unter anderem mit Großbritannien landgestützte Systeme entwickelt werden sollen.
Die Beschaffung soll über Foreign Military Sales erfolgen – ein ähnliches Konstrukt wie bei den Ukraine-Lieferungen. Deutschland wartet nun auf den "Letter of Offer and Acceptance" aus Washington, bevor eine endgültige Entscheidung über die Beschaffung fällt. Gleichzeitig prüft das US-Verteidigungsministerium die von der Biden-Regierung angekündigte temporäre Stationierung konventioneller Mittelstreckenwaffen in Deutschland ab dem kommenden Jahr.
Luftverteidigung: Angriff vs. Abwehr
Die Diskussion um Tomahawk-Lieferungen wirft eine zentrale Frage auf: Wie effektiv wären diese Waffen gegen moderne russische Luftverteidigung? Fabian Hoffmann berichtete in seinem Missile Matters-Substack über bemerkenswerte Erfolgsraten westlicher Abwehrsysteme.
Demnach demonstrierten westliche Marschflugkörper-Abwehrsysteme in der Ukraine angeblich "nahezu 100 Prozent Erfolgsquote", wobei "nicht mehr als eine Abfangrakete pro ankommender Rakete" benötigt wird.
Diese mutmaßlich hohe Abfangrate wirft die Frage auf, wie effektiv russische Systeme gegen westliche Marschflugkörper wären. Wenn westliche Systeme wie IRIS-T SLM und NASAMS russische Marschflugkörper so effektiv abfangen können, stellt sich die Frage nach der russischen Abwehrkapazität gegen Tomahawks.
Russische Luftverteidigung gilt in vielen Bereichen als der westlichen ebenbürtig oder überlegen. Mittlerweile können die europäischen Marschflugkörper vom Typ Scalp / Stormshadow zu fast 90 Prozent abgefangen werden, berichtet die Zeitschrift Osteuropa.
Gleichzeitig produziert Russland nach ukrainischen Geheimdienstschätzungen zwischen 1.260 und 1.560 Marschflugkörper jährlich – möglicherweise sogar bis zu 2.000 Stück.
Westliche Abwehrkapazitäten bleiben begrenzt: Deutschland produziert 500–600 IRIS-T-Abfangraketen jährlich, die USA etwa 400–600 AIM-120C-8 für NASAMS. Hoffman schätzt, dass russische Marschflugkörper-Produktion "wahrscheinlich die Anzahl verfügbarer westlicher Abfangraketen übersteigt", auch wenn sich diese Lücke in den kommenden Jahren verringern könnte.
Die Ukraine fordert seit Langem Langstreckenwaffen, doch die operative Umsetzung ist kompliziert: Ohne geeignete Startsysteme, mit hohem Anpassungsbedarf und enormen Kosten droht der symbolische Wert der Tomahawks ihren praktischen Nutzen zu übersteigen. Die Diskussion offenbart zudem ein größeres Dilemma westlicher Militärhilfe: Je weiter die Waffen reichen, desto stärker rücken Fragen nach Eskalation, politischer Kontrolle und nuklearer Schwelle in den Vordergrund.
Am Ende steht weniger die Frage, ob die Ukraine Tomahawks bekommt – sondern was ihr Einsatz bedeuten würde: für den Kriegsverlauf, für die Nato-Staaten, und für die fragile Balance zwischen Konvention und Eskalation.