Syrienheimkehrer: Unterschied zwischen "Tourist" und "Terrorist"
Das Amtsgericht Pirna hat eine weitreichende Entscheidung im Falle eines Syrienrückkehrers getroffen
Am 21. Januar 2016 traf der Vorsitzende Richter des Jugendschöffengerichts in Pirna (Sachsen) eine weitreichende Entscheidung: Gegen den Syrienrückkehrer Samuel W. wird kein Strafverfahren eröffnet. Aus dem Terrorverdächtigen wurde so ein einfacher Syrientourist. Mit diesem "Urteil" werden die Aufklärungsdefizite der deutschen Sicherheitsorgane und die Fragwürdigkeit der neuen deutschen Anti-Terror-Gesetze offengelegt.
Er nannte sich "Abu Salah", hieß aber mit bürgerlichem Namen Samuel W. und wohnte in Dippoldiswalde, einem 10.000-Einwohner Dorf bei Dresden. Hier besuchte er das Gymnasium und spielte ansonsten Tischtennis beim Postsportverein. Nach dem Abitur im Jahr 2012 zog er um nach Jena, wo er am Institut für Sportwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Sportpädagogik studierte. Aber irgendwas ist dann im Leben des Samuel W. schief gelaufen. Im Herbst 2013 konvertierte er zum Islam und besuchte zumindest gelegentlich das - durchaus gemäßigte - Islamische Kulturzentrum in Jena-Damen (Wagnergasse 25).
Irgendwann befreundete er sich mit Max P.. Dieser stammt auch aus Dippoldiswalde, wohnte zuletzt in Dresden und konvertierte ebenfalls zum Islam. In Dresden machte Max P. im "VEM Sachsenwerk" eine Ausbildung zum Werkzeugmacher. Gelegentlich besuchte er die Alfaruq-Moschee in Dresden (Flügelweg 8). Außerdem war Max P. ein Sportschütze und Waffennarr.
Am 7. oder 11. September 2014 reisten beide nach Syrien, um sich am Dschihad zu beteiligen. Daraufhin meldeten Samuels Eltern ihren Sohn als vermisst, woraufhin die Staatsanwaltschaft Dresden ein Ermittlungsverfahren gegen Samuel W. einleitete. Zunächst reisten beide nach München und von dort mit einem Überlandbus über Istanbul nach Syrien. Dort angekommen landete das Duo zunächst in einem Auffanglager bzw. in einer Koranschule des "Islamischen Staates" (IS). Wann sich die beiden trennten, was Samuel W. dort in den folgenden drei Monaten machte und wann er sich wo aufgehalten hat, wurde öffentlich nicht bekannt. Jedenfalls soll er im November 2014 vorübergehend in Dscharabulus gewesen sein.
Anscheinend war das Leben eines Dschihadisten im "Islamischen Staat" aber nicht so, wie sich das Samuel W. vorgestellt hatte. Als er einem "Kameraden" erzählte, er wolle zu seiner Familie, die sich angeblich in der Türkei aufhielt, landete er für mehrere Tage in einem IS-Gefängnis. Nach seiner Knastentlassung ergriff Samuel W. die Flucht und setzte sich nach Gaziantep in der Türkei ab. Dort stellte er sich am 3. Dezember 2014 den türkischen Behörden, die ihn für zwei Wochen in Abschiebehaft nahmen und am 17. Dezember nach Deutschland ausflogen. Den "Deal" hatte vor Ort sein Vater eingefädelt.
Die Familie von Samuel W. besteht auf folgender Darstellung, die wir gerne veröffentlichen:
"Samuel W. ist weder Sympathisant des IS noch Dschihadist im Islamischen Staat gewesen. Durch seine Auswanderung nach Syrien als gläubiger Moslem wollte er im Bürgerkrieg notleidenden Menschen helfen. Weil ihm das nicht gelungen ist und er in die Fänge des IS geraten ist, kam er unter schwersten Bedingungen zurück zu seiner Familie nach Deutschland."
Juristisches Hin und Her
Bei seiner Einreise über den Flughafen in München wurde Samuel W. festgenommen, aber bereits nach drei Wochen wieder aus der U-Haft entlassen, da das Amtsgericht Pirna am 6. Januar 2015 feststellte, dass keine Fluchtgefahr bestehen würde.
Am 9. September erhob die Staatsanwaltschaft Dresden Anklage beim Amtsgericht Pirna gegen Samuel W.. Allerdings erklärte sich das Amtsgericht Pirna für nicht zuständig und übergab den Fall an das Landgericht Dresden. Doch dort erklärte sich die Staatsschutzkammer für nicht zuständig und überwies im Herbst 2015 das Verfahren zurück nach Pirna. Obwohl Samuel W. bei seiner Ausreise nach Syrien bereits 20 Jahre alt war, landete der Fall schließlich beim Jugendschöffengericht des Amtsgerichts.
Samuel W. war in der Zwischenzeit nach Berlin umgezogen, wo er sich mit Walter Venedey aus der Anwaltskanzlei "Venedey, Gysi, Höfler" einen erfahrenen "Terroristenanwalt" besorgt hatte. Dieser hatte schon die BfV-Agentin in der RAF Verena Becker in ihrem Strafverfahren erfolgreich verteidigt. Rechtsanwalt Venedey beantragte sogleich eine Einstellung des ganzen Verfahrens gegen Samuel W..
Am 21. Januar 2016 folgte der Vorsitzende Richter des Jugendschöffengerichts Jürgen Uhlig dem Antrag der Verteidigung und entschied, dass der Fall nicht zur Hauptverhandlung zugelassen wird (Aktenzeichen: 24 Ls 215 Js 46931/14)! Für Samuel W. war dies ein "Freispruch zweiter Klasse", ohne dass er sich jemals vor Gericht hätte verantworten müssen.
Zur Begründung erklärte der Richter, nach seiner Ansicht entspräche der von der Staatsanwaltschaft Dresden erhobene Vorwurf der "Vorbereitung einer staatsgefährdenden Straftat im Ausland" (§ 89a StGB) nicht den Ermittlungsergebnissen der Anklage. Zwar sei Samuel W. nach Syrien gereist, um dort eine Ausbildung zum Dschihadisten zu machen, aber dazu sei es nicht gekommen, so dass Samuel W. schließlich freiwillig nach Deutschland zurückkehrt sei.
Gerichtssprecher Andreas Beeskow bemühte sich pflichtgemäß, die richterliche Entscheidung zu rechtfertigen. Würde man Samuel W. wegen seiner Syrienreise verurteilen, so würde dies in Zukunft verhindern, dass sich andere Personen in einer ähnlichen Situation für eine Rückkehr nach Deutschland entscheiden könnten.
Dabei ignorierte der Gerichtssprecher, dass bereits über 400 Dschihadisten in den letzten Jahren - trotz Strafandrohung - aus Syrien nach Deutschland zurückgekehrt sind. Im Dezember 2015 waren beim Generalbundesanwalt immerhin 135 Ermittlungsverfahren gegen rund 200 Beschuldigte anhängig. Außerdem blieb bei der richterlichen Entscheidung unberücksichtigt, dass Samuel W. zumindest ein Sympathisant des IS ist.
Die vorliegende Entscheidung ist ein Präzedenzfall. Zwar endeten bereits drei Terrorverfahren gegen Islamisten mit einem Freispruch (Samir Karimou, Gabriel David K. und Abdelghani Mzoudi), aber noch nie wurde eine Hauptverhandlung gegen einen islamistischen Terrorverdächtigen von vornherein "gecancelt".
Gegen die richterliche Entscheidung legte die Staatsanwaltschaft Dresden Sofortige Beschwerde ein. Damit landet das Verfahren nun wieder beim Landgericht Dresden, das über das weitere Vorgehen zu entscheiden hat.
Bei einer Verurteilung drohen Samuel W. bis zu zehn Jahren Haft, allerdings scheint die Beweislage eher begrenzt zu sein. Ein mildes Urteil gegen den vermeintlichen IS-Kämpfer erscheint nicht ausgeschlossen. Eine Schätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutzes (BfV) aus dem Jahr 2014 ergab, dass nur 52 Prozent der Syrienreisenden tatsächlich dschihadistische Kämpfer waren; die Hälfte der Kriegsfreiwilligén wollte gar nicht kämpfen sondern lieber in Krankenhäusern helfen oder Hilfsgüter verteilen.
Umstrittener Terrorparagraph
Die Gerichtsentscheidung offenbart, dass die deutschen Sicherheitsorgane Schwierigkeiten haben, den Syrienreisenden irgendwelche konkreten Straftaten nachzuweisen, zumal das Auswärtige Amt zu Beginn des Bürgerkrieges die Deutsche Botschaft in Damaskus und damit die dortige BND-Residentur schloss. Angesichts seiner beschränkten Aufklärungsmöglichkeiten spricht das BfV von einer "begrenzten Empirie".
Damit sind die deutschen Geheimdienste bei der Aufklärung der Taten deutscher Dschihadisten auf die Nachrichtenlieferungen der amerikanischen, türkischen und israelischen Nachrichtendienste angewiesen. Allerdings funktioniert dies nicht immer. Im Juni 2014 beklagte BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen, "dass es Rückkehrer gibt, die wir nicht auf dem Radarschirm haben, wo unsere Partner im Ausland uns mal keinen Hinweis geben".
Außerdem bestätigte die Gerichtsentscheidung, dass die neuen deutschen Anti-Terror-Gesetze höchst fragwürdig sind. Im vorliegenden Fall geht es um den § 89a StGB mit dem hochtrabenden Titel "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat":
(1) Wer eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Eine schwere staatsgefährdende Gewalttat ist eine Straftat gegen das Leben (…), die nach den Umständen bestimmt und geeignet ist, den Bestand oder die Sicherheit eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beeinträchtigen oder Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben.
(2) Absatz 1 ist nur anzuwenden, wenn der Täter eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet, indem er
1. eine andere Person unterweist oder sich unterweisen lässt in der Herstellung von oder im Umgang mit Schusswaffen, Sprengstoffen, Spreng- oder Brandvorrichtungen, Kernbrenn- oder sonstigen radioaktiven Stoffen, Stoffen, die Gift enthalten oder hervorbringen können, anderen gesundheitsschädlichen Stoffen, zur Ausführung der Tat erforderlichen besonderen Vorrichtungen oder in sonstigen Fertigkeiten, die der Begehung einer der in Absatz 1 genannten Straftaten dienen,
2. Waffen, Stoffe oder Vorrichtungen der in Nummer 1 bezeichneten Art herstellt, sich oder einem anderen verschafft, verwahrt oder einem anderen überlässt oder
3. Gegenstände oder Stoffe sich verschafft oder verwahrt, die für die Herstellung von Waffen, Stoffen oder Vorrichtungen der in Nummer 1 bezeichneten Art wesentlich sind.
(2a) Absatz 1 ist auch anzuwenden, wenn der Täter eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet, indem er es unternimmt, zum Zweck der Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat oder der in Absatz 2 Nummer 1 genannten Handlungen aus der Bundesrepublik Deutschland auszureisen, um sich in einen Staat zu begeben, in dem Unterweisungen von Personen im Sinne des Absatzes 2 Nummer 1 erfolgen.
(3) Absatz 1 gilt auch, wenn die Vorbereitung im Ausland begangen wird. Wird die Vorbereitung außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union begangen, gilt dies nur, wenn sie durch einen Deutschen oder einen Ausländer mit Lebensgrundlage im Inland begangen wird oder die vorbereitete schwere staatsgefährdende Gewalttat im Inland oder durch oder gegen einen Deutschen begangen werden soll. (…)
(7) Das Gericht kann die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn der Täter freiwillig die weitere Vorbereitung der schweren staatsgefährdenden Gewalttat aufgibt und eine von ihm verursachte und erkannte Gefahr, dass andere diese Tat weiter vorbereiten oder sie ausführen, abwendet oder wesentlich mindert oder wenn er freiwillig die Vollendung dieser Tat verhindert. Wird ohne Zutun des Täters die bezeichnete Gefahr abgewendet oder wesentlich gemindert oder die Vollendung der schweren staatsgefährdenden Gewalttat verhindert, genügt sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, dieses Ziel zu erreichen."
Der Paragraph war ursprünglich 2009 mit dem "Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (GVVG)" geschaffen und Anfang 2015 noch einmal verschärft worden. Er war dazu gedacht, extremistische Einzeltäter schon präventiv bekämpfen zu können, bevor sie ihre Taten verüben konnten. Damit schloss die neue Regelung eine gesetzliche Lücke.
Allerdings diente der neue Paragraph in seiner praktischen Anwendung "als Türöffner für weitreichende Ermittlungen gegen Personen, die sich noch keiner terroristischen Vereinigung zuordnen ließen", um ein Ermittlungsverfahren mit dem ganzen Instrumentarium der Strafprozessordnung ersteinmal in Gang zu setzen.
Fortan genügte den Ermittlern, dass ein Salafist den Willen zum bewaffneten Kampf erkennen ließ und sich in ein Krisengebiet aufmachen wollte. Allein auf dieser Grundlage wurden dann Autos und Wohnungen verwanzt und Telefonate abgehört. Dabei ergaben sich auch Anhaltspunkte für andere, weitergehende Straftaten wie die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Aber nach dem ursprünglichen Anfangsverdacht fragte dann kaum noch jemand nach. Allerdings kam das neue Anti-Terror-Gesetz in den ersten fünf Jahren nur fünfmal zur Anwendung.
Die Schwierigkeit für alle juristischen Praktiker bestand darin, dass sie seither Taten zu bestrafen hatten, die sich zu einem wesentlichen Teil ausschließlich in den Köpfen der Menschen abspielten. Außerdem war die neue Norm unter Juristen höchst umstritten. So bezweifelte der Strafrechtsprofessor Mark Zöller aus Trier, dass das Gesetz mit der Verfassung vereinbar sei und sprach stattdessen von einer "billigen Law-and-Order-Politik".
Auch Praktiker wie der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Kriminaloberrat Andreas Neumann vom BKA, kritisierten das Gesetz: "Es kann nicht sein, dass Ermittler in die Köpfe der Menschen hineinsehen müssen, um zu erkennen, was die vielleicht einmal Strafbares vorhaben." Außerdem widersprach es dem rationalen Menschverstand, warum ausgerechnet durch die bloße Ausreise eines Dschihadisten aus Deutschland nach Syrien die Existenz der Bundesrepublik akut gefährdet sein sollte.
Auch der Bundesgerichtshof musste sich in den letzten Jahren wiederholt mit Urteilen auf Basis des Paragraphen 89a kritisch auseinandersetzten. Im Strafverfahren gegen Keramat G. machte der BGH am 8. Mai 2014 zwar "gewichtige Bedenken" gegen die "weite Fassung des objektiven Tatbestands" und die "Vorverlagerung der Strafbarkeit" geltend, entschied dann aber dennoch, dass die neue Norm bei verfassungskonformer Auslegung noch verhältnismäßig und ausreichend bestimmt sei. Dabei sollten elementare Verfassungsgrundsätze wie das Tatstrafrechts und das Schuldprinzip unbedingt gewahrt bleiben (Aktenzeichen 3 StR 243/13) (Anti-Terror-Paragraf 89a muss einschränkend ausgelegt werden).
Im letzten Jahr verschärfte der BGH seine Rechtsauffassung: Um die allzu breite Auslegung einzuschränken, stellte der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs am 7. Oktober 2015 im Revisionsverfahren auf Antrag der Terrorverdächtigen Andrea Bauer fest, dass der Paragraph "überdehnt und entgrenzt" worden war. In ihrem Urteil mahnten die Richter eine "zurückhaltende, die konkreten Umstände angemessen in den Blick nehmende" Anwendung des Paragrafen 89a an (Aktenzeichen: 3 StR 218/15). Die Richter betonten, dass die Anwendung des 89a nur noch dann zulässig sein, wenn es um den Schutz der Bundesrepublik und der hier lebenden Menschen ging. Fortan sollen Sachverhalte im Ausland, obwohl diese im Gesetzeswortlaut explizit einbezogen sind, juristisch irrelevant bleiben.
Somit folgte das Jugendschöffengericht in Pirna der neuen Rechtssprechung des BGH. Welche juristischen Konsequenzen für Staatsschutzverfahren gegen Terrorverdächtige ergeben, bleibt abzuwarten. Trotz der nicht unberechtigten, aber dennoch fragwürdigen Weigerung des Amtsgerichts Pirna, gegen einen Terrorverdächtigen ein Terrorismusverfahren einzuleiten, darf man hoffen, dass (Staats-)Terrorismus in der Bundesrepublik weiterhin verboten ist.
Bleibt zum Schluss nachzutragen, was aus dem Syrienterrortouristen Max P. geworden ist. Dieser terroristische Sportschütze hat sich zwischenzeitlich eine Armverletzung zugezogen. Möglicherweise hielt er sich zumindest eine zeitlang in Mossul (Irak) auf. Sein gegenwärtiger Aufenthaltsort ist unbekannt.