Russlandpopanz statt Realismus: Westen verbaut sich Friedenschancen

Der Westen zeichnet ein verzerrtes Bild von Russland. Dies erschwert Verhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Kriegs. Ein deutscher Ex-Diplomat erheben schwere Vorwürfe.
Um den Krieg in der Ukraine durch Verhandlungen zu beenden, ist ein realistisches Bild der Positionen und Möglichkeiten aller Akteure nötig. Doch der westliche Diskurs zeichnet sich durch Unklarheit und Unschärfe aus, kritisiert der frühere Diplomat Hellmut Hoffmann in einem Gastbeitrag. Dies könne Missverständnisse und Fehlkalkulationen begünstigen und eine Konfliktlösung erschweren, so Hoffmann in der Berliner Zeitung.
Hoffmann sieht zwei konkurrierende Deutungsmuster im Westen: Manche unterstellen Russlands Präsident Wladimir Putin, nicht nur den sowjetischen Machtbereich wiederherstellen, sondern eine Hegemonie über ganz Europa errichten zu wollen – notfalls mit militärischen Mitteln.
Andere glauben, Putin wolle vor allem verhindern, dass an Russlands Grenze ein hochgerüstetes "Anti-Russland" in Gestalt der Ukraine entsteht. Dafür nutze er die Gelegenheit, sich mehrheitlich russisch besiedelte Gebiete in der Ostukraine einzuverleiben.
Westen baut Russland-Popanz auf
Hoffmann fragt, ob der Westen sich den Weg aus dem ihn selbst massiv schädigenden Krieg verbaue, indem er zur Legitimation weiterer Waffenlieferungen einen "Russlandpopanz" aufbaue. Stattdessen müssten Putins tatsächliche Positionen genau erkundet werden.
So werde Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 fälschlich als Erklärung eines "neuen Kalten Krieges" gedeutet. Tatsächlich habe Putin den Westen vor problematischen Schritten wie Regelung von Konflikten unter Missachtung des Völkerrechts, fehlende Kooperationsbereitschaft und Nato-Erweiterung gewarnt.
Auch ein Essay Putins aus dem Jahr 2021 werde verkürzt interpretiert. Er anerkenne den Wunsch der Ukrainer nach einem eigenen Staat, warne aber vor einem "Anti-Russland".
Russland zu Verhandlungen bereit – unter Bedingungen
Laut Hoffmann hat Russland Ende 2021 erfolglos versucht, Verhandlungen über den Verzicht auf einen Nato-Beitritt der Ukraine und anderer Ex-Sowjetrepubliken anzustoßen. Im aktuellen Krieg erkläre sich Moskau zu einem Waffenstillstand bereit, sofern zentrale Fragen einer Friedensregelung geklärt würden. Kiew lehne dies ab, da ein reiner Waffenstillstand für die Ukraine vorteilhafter wäre.
Tatsächlich hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Moskau unlängst selbst ein Angebot für Friedensverhandlungen unterbreitet. Aber auch Kiew will, gestützt von den westlichen Partnern, eigene Bedingungen diktieren. Die Frage ist, ob militärischer Zwang oder diplomatisches Geschick hier die Lösung bringt. Dass dies zugunsten des militärischen Weges beantwortet wird, ist eine Zäsur auch in der deutschen Geschichte.
Hoffmann hat eine klare Meinung dazu: Entgegen einer Behauptung von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) habe Putin das Existenzrecht der Ukraine nicht bestritten. Er habe vielmehr deren Recht auf Unabhängigkeit anerkannt, zugleich aber auf die 1991 erklärte Neutralität verwiesen. Russlands Ziel sei keine "Kapitulation", sondern die Anerkennung "territorialer Realitäten" durch die Ukraine.
Nato Russland haushoch überlegen
Hoffmann hält die These für abwegig, Russland könnte einen Angriff auf Nato-Staaten wagen. Die Allianz sei Moskau militärisch haushoch überlegen. Dies zeige sich schon an den Verteidigungshaushalten und Waffenbeständen der europäischen Nato-Staaten im Vergleich zu Russland.
Das auf dem jüngsten Nato-Gipfel beschlossene Fünf-Prozent-Ziel für die Verteidigungsausgaben habe daher keine sachliche Begründung, sondern solle nur US-Präsident Donald Trump besänftigen. Ironischerweise bemühe sich Trump um bessere Wirtschaftsbeziehungen mit Russland, während er den Verbündeten ein Wettrüsten aufzwinge.
Viel wäre laut Hoffmann für den Frieden in Europa gewonnen, wenn sich Politik und Medien statt eines Freund-Feind-Denkens auf eine genaue Analyse der Motive, Interessen, Ziele und Mittel aller Akteure konzentrierten.
Telepolis hatte jüngst ein sicherheitspolitisches Papier aus dem Umfeld des Kremls in drei Teilen veröffentlicht. Die darin vorgestellten Positionen werden in Folge auf Telepolis von journalistischer und sicherheitspolitischer Seite eingeordnet.