Prähistorische Funde in Marokko enthüllen kulturelles Zentrum am Rande Afrikas

Felsezeichnung Menschlicher Figuren und gepunktete Komposition

Menschliche Figuren und gepunktete Komposition in Ghar Dchar Alouch.

(Bild: Hamza Benattia/The Conversation)

Neue Funde bei Tanger deuten auf ein komplexes rituelles Leben vor über 2500 Jahren hin. Nordafrikas Verbindung zum Rest der Welt ist wohl älter als gedacht.

Wenn von antiken Bestattungen in Nordafrika die Rede ist, denken die meisten Menschen an ägyptische Pyramiden. Doch neue Entdeckungen zeigen, dass auch der Nordwesten Afrikas eine tiefgreifende und faszinierende prähistorische Vergangenheit hat.

Die Halbinsel Tanger liegt am nordwestlichsten Zipfel Afrikas, wo das Mittelmeer auf den Atlantik trifft. Mit nur 14 Kilometern Entfernung zu Europa über die Straße von Gibraltar war diese Region seit langem eine natürliche Schnittstelle zwischen Kontinenten und Kulturen.

Archäologen haben dort in jahrelanger Feldforschung Dutzende neuer Fundstellen entdeckt, darunter prähistorische Gräber, Felskunst und Menhire. Die in der Fachzeitschrift African Archaeological Review publizierten Ergebnisse zeichnen das Bild einer üppigen und bisher wenig beachteten prähistorischen Landschaft, die ein komplexes rituelles Leben zwischen 3000 und 500 v. Chr. widerspiegelt.

"Unsere Entdeckungen zeigen, dass die Nordwestküste Marokkos vor über 4000 Jahren, in der Bronzezeit, ein bedeutendes kulturelles Zentrum war", sagt Hamza Benattia, der das Ausgrabungsprojekt leitet.

Vielfalt der Bestattungsformen deutet auf sozialen Wandel

Besonders bedeutsam ist der Fund dreier Gräberfelder, darunter eines mit einer Steinkiste, die mittels Radiokarbonmethode auf etwa 2000 v. Chr. datiert wurde. Es ist die erste derartige Datierung einer Steinkistenbestattung in Nordwestafrika – ein wichtiger Meilenstein für die Chronologie der frühen Bronzezeit in der Region.

Die Vielfalt der Grabtypen – Gruben, Hypogäen, Steinkisten und Hügelgräber – sowie die Lage der Monumente an prähistorischen Kreuzungen deuten laut den Autoren auf langfristigen sozialen Wandel und möglicherweise zunehmende Territorialität unter den prähistorischen Bevölkerungen hin.

Interessanterweise scheinen Steinkistenbestattungen in Tanger viel länger Bestand gehabt zu haben als im Mittelmeerraum, wo Brandbestattungen im ersten Jahrtausend v. Chr. weit verbreitet waren. Dies weist auf eine unterschiedliche kulturelle Entwicklung hin.

Felskunst und Menhire markieren rituelle Landschaft

Neben Gräbern fanden die Archäologen über ein Dutzend Felsunterstände mit Malereien, darunter geometrische Motive wie Punkte, Quadrate und Wellenlinien sowie anthropomorphe Figuren, die Menschen oder Gottheiten darstellen könnten.

An einigen Stellen waren in den Fels gehauene Schälchen in bewussten Mustern angeordnet. Manche Unterstände wiesen Bildmotive auf, die stilistisch der Felskunst in der Sahara und Südiberien ähneln, was auf interkulturelle Kontakte hindeutet.

Menhire, von denen einige über 2,5 Meter hoch waren, fanden sich sowohl im Kontext von Felskunst als auch von Gräbern. Diese Megalithen könnten als Gebietsmarkierungen oder spirituelle Bedeutungsträger gedient haben. Ihre Häufung an bestimmten Orten lässt auf eine umfassendere symbolische und rituelle Landschaft schließen.

Marokko als kulturelle Drehscheibe

Die Studie widerlegt bisherige Annahmen, die Halbinsel Tanger sei in der späten Vorgeschichte unbewohnt und isoliert gewesen. Stattdessen erweist sich die Region als wichtiges kulturelles Zentrum, das über Jahrtausende hinweg Verbindungen zu anderen Regionen unterhielt.

"Was wir entdeckten, übertraf alle Erwartungen. Die Halbinsel von Tanger ist keineswegs leer und isoliert, sondern voller Zeugnisse dafür, dass hier über Jahrtausende hinweg Menschen gelebt, gestorben und Zeremonien abgehalten haben", sagt Benattia.

So ähnelt der Steinkreis von Mzoura mit seinen 176 Menhiren stark anderen Steinkreisen im atlantischen Europa wie Stonehenge. Ein in den 1920er Jahren im Loukkos-Fluss gefundenes Bronzeschwert stammt vermutlich aus Britannien oder Irland und gelangte über atlantische Austauschnetze nach Afrika.

Die Deponierung des Schwerts im Fluss war wahrscheinlich eine rituelle Praxis, die auch entlang von Flüssen im atlantischen Europa dokumentiert ist. Dies deutet darauf hin, dass Gemeinschaften in Nordmarokko Teil einer breiteren kulturellen und symbolischen Welt waren, die den spätprähistorischen Atlantikraum verband.

Auch in der Vielfalt der Felssymbole und -szenen, darunter Punktmuster, geometrische Linien und menschenähnliche Figuren, sehen die Forscher starke Verbindungen zur prähistorischen Kunst der Iberischen Halbinsel, des Atlantiks und der Sahara.

Die Autoren hoffen, dass ihre Erkenntnisse Nordwestafrika als kulturelle Drehscheibe neu definieren, die über Jahrtausende hinweg Regionen miteinander verband.Angesichts der rasanten Stadtentwicklung, des wachsenden Tourismus und ausgedehnter Plünderungen in der Region seien weitere Schutzmaßnahmen erforderlich.

Das reiche und weitgehend undokumentierte spätprähistorische Erbe der Halbinsel Tanger verdiene mehr Aufmerksamkeit von Forschern, politischen Entscheidungsträgern und der breiten Öffentlichkeit, so die Archäologen. Sie wünschen sich, dass ihre Arbeit zu weiteren archäologischen Untersuchungen führt, darunter neue Ausgrabungen und Radiokarbondatierungen an Schlüsselstellen.