Lateinamerika: Die Ukraine ist weit weg, der Russland-Handel wichtig

Monument in Gedenken an den US-gestützten Putsch in Chile am 11. September 1973. Bild: Frederico Valido, CC BY-NC-ND 2.0

Regierungschefs südlich der USA erklären sich solidarisch mit der Ukraine und Opfern des russischen Angriffs. In die Phalanx gegen Moskau werden sie sich nicht einreihen

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine bemüht sich die US-Diplomatie um eine kontinentale, gesamtamerikanische Position, allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Dass sich die erklärten linken Regierungen wie Kuba, Venezuela, Nicaragua und Bolivien weigerten, die russische Invasion zu verurteilen und Sanktionen zu erlassen, war keine Überraschung.

Allerdings belegen auch die Reaktionen in Mexiko, Brasilien und Argentinien den seit Längerem schwindenden Einfluss des "großen Bruders". Washington hat längst kein Projekt mehr für den amerikanischen Kontinent, weder politisch noch ökonomisch. Kein Wunder, dass man dort eigene Wege geht, die vom Dollar wegführen und den Weg hin zu neuen Partnern wie Russland und die Volksrepublik China ebnen.

Nach den Ereignissen in Butscha nördlich von Kiew wollte die US-Regierung unter Präsident Joseph Biden die Russische Föderation aus dem UN-Menschenrechtsrat ausschließen und machte sich auf Stimmenfang. US-Außenminister Anthony Blinken drängte in einem Telefongespräch seinen argentinischen Amtskollegen Santiago Cafiero zur Zustimmung – mit dem wenig vornehmen Hinweis auf die Verschuldung des Landes. Am Ende bekam Blinken die Stimme aus Buenos, der Antrag für den Ausschluss ging mit 93 Stimmen durch.

So begründet die EU Sanktionen gegen russische Politiker und Journalisten (23 Bilder)

Sergej Schoigu ist Verteidigungsminister der Russischen Föderation. Er hat sich öffentlich behauptet, die Krim sei russisch und bleibe dies. Unter seinem Kommando und Befehl haben russische Truppen Militärübungen auf der rechtswidrig annektierten Krim durchgeführt und wurden an der Grenze stationiert. Er ist für jede militärische Aktion gegen die Ukraine verantwortlich. Er ist daher auch verantwortlich für die aktive Unterstützung und Umsetzung von Maßnahmen und Richtlinien, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine sowie die Stabilität oder Sicherheit in der Ukraine untergraben und bedrohen. Bild: Mil.ru / CC-BY-SA-4.0

Allerdings bleibt die argentinische Regierungspartei in der Russland-Frage gespalten. Vizepräsidentin Cristina Kirchner hatte die Ernennung ihres Vertrauten Eduardo Zuaín für den Botschafterposten in Moskau durchgesetzt, um die guten Beziehungen zu pflegen.

Zuaín verurteilte die russische Invasion nicht. Und ihr Sprecher Oscar Parrilli beschwerte sich nach dem Massaker in Butscha öffentlich: Die Vorwürfe hätten erst einmal überprüft werden müssen: "Argentinien hätte sich enthalten sollen und nicht diejenigen unterstützen, die gegen uns sind."

Die Putin-Regierung unterstütze die Haltung von Buenos Aires in der Frage der Malwinen (Falkland-Inseln), erinnerte Parrilli, um zu einem "ethischen Anti-Kolonialismus" aufzurufen.

Die frühere argentinische Botschafterin in London und Caracas, Alicia Castro, ebenfalls aus dem Dunstkreis Kirchners, bezeichnete die argentinische Regierung auf Twitter als Handlanger ("peón") der USA.

Und die regierungsnahe Tageszeitung Página12 schimpfte über die Beiteilung der argentinischen Regierung an der "russenfeindlichen Kampagne".

Brasilien und Mexiko hatten sich bei der Sanktionsabstimmung in der UNO übrigens enthalten – wohlgemerkt; das Brasilien des ultrarechten Jair Bolsonaro. Der Grund ist einfach: Russland liefert Kali- und Stickstoffdünger, und von ihm sind die Landwirtschaften dieser beiden Länder abhängig.

Bolsonaro hatte Putin erst im März seine Aufwartung gemacht; es ging nicht nur um die Sicherstellung der Düngemittelgeschäfte. Russland unterstützt die Souveränität Brasilias über das Amazonas-Gebiet.

Ausschluss Russlands aus der G20? Lateinamerika hält sich zurück

Washington will Moskau von der G-20-Konferenz ausschließen, die am 15. und 16. November in Bali (Indonesien) stattfinden wird. Mexiko und Brasilien werden kaum zustimmen, und selbst der argentinische Botschafter in Washington, Jorge Argüello, ist dagegen.

Zu viel steht auf dem Spiel, und die Ukraine ist weit weg. Argentinien musste gerade auf massiven US-Druck die Bedingungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) akzeptieren und den Staatshaushalt zusammenkürzen.

So begründet die EU Sanktionen gegen russische Politiker und Journalisten (0 Bilder)

Der Plan Russlands und Chinas, dem US-Dollar als Verrechnungseinheit im internationalen Handel streitig zu machen, wird nicht nur von der Türkei, Indien, Iran und Saudi-Arabien unterstützt. In Argentinien herrscht Devisenknappheit, und vor zwei Monaten verkündete Präsident Alberto Fernández in Moskau, dass er mit Putins Hilfe "die große Abhängigkeit vom IWF und den USA beenden will".

Kurz zuvor, am 4. Februar 2022, hatte Fernández mit der Volksrepublik China ein Memorandum unterzeichnet, das inzwischen im Amtsblatt veröffentlicht wurde. Danach soll künftig beim "gemeinsamen Handel und Investition in saubere Energie und Eisenbahn in nationaler Währung gezahlt werden".

Schon seit Jahren hat China Milliarden bei der argentinischen Zentralbank in Form eines Swap-Tauschgeschäftes hinterlegt, aus dem Investitionen gezahlt werden. Auch bei den Special Drawing Right, den Sonderziehungsrechten des IWF, will China dem hochverschuldeten Argentinien unter die Arme greifen.

Wirtschaftliche Folgen

Dass die USA vor kurzem wieder Gespräche mit dem in Washington verhassten Regime von Präsident Nicolás Maduro aufgenommen haben, um Erdöllieferungen sicherzustellen, die bislang aus Russland kamen, wurde in Lateinamerika mit Erstaunen zur Kenntnis genommen.

Chevron will dort investieren, falls die US-Sanktionen gegen Venezuela fallen. Die venezolanischen Oppositionspolitiker fühlen sich verraten. Der Maduro-Gegner Leopoldo López forderte die USA auf, ihre Verträge in Sachen Erdöl unbedingt "in freien Wahlen bestätigen" zu lassen. Aber die stehen aus Sicht der Opposition im Moment nicht auf der Tagesordnung.

Der Ukraine-Konflikt hat unterschiedliche Folgen für die lateinamerikanischen Volkswirtschaften. Einerseits leiden etwa die Karibikstaaten unter dem Einbruch des Tourismus. Die Blumenhändler Ecuadors bleiben auf ihren Waren sitzen. Und im gesamten Kontinent steigen rasant die Verbraucherpreise für Lebensmittel und Benzin. Etwaige Lohnsteigerungen fangen das nicht auf.

Auf der anderen Seite sind diese Länder Rohstoff-Exporteure, und Commodities erzielen zurzeit astronomische Preise, Mineralien, Futter- und Lebensmittel. Auch wenn sich die Bergwerke und die Plantagen oft im ausländischen Besitz befinden und somit der Profit auf der nördlichen Halbkugel bleibt, sieht die Makro-Ökonomie nicht schlecht aus.

Die veröffentlichte und die nicht veröffentlichte Meinung

Die großen Medien verurteilen die russische Invasion mit harten Worten. Und auch aus Chile meldete sich Präsident Gabriel Boric mit kritischen Worten und versicherte den Opfern des Angriffs seine Solidarität. Die Linke – etwa die Zapatisten in Mexiko – fordern ein Ende des Krieges – Sie distanzierten sich aber von Putin ebenso wie von der Selenskyi-Führung –, in Peru wird auch Solidarität mit dem Donbass gefordert.

In persönlichen Gesprächen aber bringen viele Lateinamerikaner ihre klammheimliche Freude über das russische Eingreifen zum Ausdruck – und zwar quer durch alle Bevölkerungsschichten. Süd- und Mittelamerika waren immer eine Art "Hinterhof" der USA, die die Nationen spalteten und eine kontinentale Einheit, wie sie einst die Befreier in Kampf gegen die Kolonisatoren anstrebten, verhinderten.

Die USA handelten stets aus eigenem Machtinteresse. Um dieses durchzusetzen, überfielen die Vereinigten Staaten etliche Länder des Südens und unterstützten blutige Militärdiktatoren. Das ist alles noch nicht so lange her, dass die Pinochets, Somozas, Videlas und Stroessners ihren Hut nahmen. Und ausgerechnet die USA reden jetzt von Menschenrechten, so die Vox populi. Jetzt hat denen einer mal gezeigt, dass die das auch können. Auch wenn das vom deutschen und westeuropäischen Standpunkt unverständlich erscheint: Bei Gesprächspartnern in Lateinamerika scheint Schadenfreude durch.

Vergleichbar ist die Stimmung mit den Tagen nach dem 11. September 2001. Als damals weltweit die Nachricht von dem Angriff auf die Zwillingstürme in den USA bekannt wurde, lief ich durch das Bankenviertel von Buenos Aires und machte eine schier unglaubliche Beobachtung, wenn auch nur eine Momentaufnahme: Die Fenster der Büros standen offen, aus einigen flog Konfetti. Man feierte den Fall der Türme in New York! In den Zeitungen wurden solche Reaktionen nicht erwähnt, aber in privaten Gesprächen machten einige Argentinier keinen Hehl aus ihrer Genugtuung über den Terrorangriff.

So ist das im Moment wieder. Denn ab Ende gilt: Die Ukraine ist weit weg. Russland spielt als Handelspartner eine essenzielle Rolle. Und die USA als globaler Gegenspieler Moskaus sowie Nato-Führungsmacht sind verhasst.