Hitlers "letzte Bastion"

M4-Sherman-Panzer bei Westkapelle, mit spielenden holländischen und deutschen Kindern. Der Panzer war bei der Operation Infatuate im Sand steckengeblieben. Später als Monument aufgestellt. Bild: AK 2009
Die Schlacht um die Westerschelde Ende 1944 ist außerhalb Hollands aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Dabei zählen deutsche Urlauber zu den stabilsten Gästegruppen in Zeeland, einem beispiellosen Schau- und Erinnerungsplatz des II. Weltkriegs
Die niederländische Provinz Zeeland ist unter Deutschen bekannt und begehrt als nahegelegenes Urlaubsziel. Von den Rheinmetropolen Nordrhein-Westfalens, vom Ruhrgebiet oder vom Münsterland (NRW) aus sind die begehrten Strände im Süden des Nachbarstaats in kaum mehr als 300 Kilometern Autofahrt zu erreichen. Das nutzen Jahr für Jahr Millionen Reisende. Deutsche zählen mit knapp 4,3 Millionen Übernachtungen (allein Zeeland, Stand: 2018) zu den stabilsten Gästegruppen.
Nur wenige der Zeeland-Begeisterten aus deutschen Landen indes sind sich bewusst, dass sie beim verdienten Urlaub auch historische Reminiszenzen mit im Gepäck tragen. Unverblümt formuliert, wer von den deutschen Sommerfrischlern denkt schon daran, dass vor einigen Jahrzehnten Deutschland als brutaler Eroberer auf dem Weg nach Hollands Küsten unterwegs war. Das Vergangene ist vorüber. Oder nicht?
Manchmal bekommt man es unverhofft zu spüren. Mir erging es vor etwa zehn Jahren so.
Wir waren zum Kaffee bei guten Bekannten eingeladen, Niederländern aus Middelburg, der Hauptstadt Zeelands, ehemals Sitz der Niederländischen Westindien- und Ostindienkompanie (WIC/VOC) und schon Ende des 17. Jahrhunderts ein blühender Handelsplatz mit weitreichenden internationalen Beziehungen. Eine wunderbare Stadt mit markanten Zeugnissen ihrer sprichwörtlich reichen Vergangenheit. Flaniert man im Sommer über den Marktplatz, um den herum sich Bistro an Bistro reiht, kommt es einem nicht in den Sinn, dass das bombastische mittelalterliche Stadthaus (Stadhuis), das als Blickfang an der Stirnseite des Platzes prangt, von den deutschen Invasoren bombardiert wurde.
Middelburg im Bombenhagel
Und das kam so. Die Wehrmacht griff am 10. Mai 1940 die Benelux-Staaten an, Auftakt des nazideutschen Westfeldzuges. Nach der Bombardierung von Rotterdam am Nachmittag des 14. Mai - ein brachiales Geschehen, das bereits die niederländische Kapitulation nach sich zog - zeigte sich jedoch im Süden, d.h. auf Zeeland, beharrlicher Widerstand. Die deutsche Luftwaffe bombardierte daraufhin zur "Belehrung" der Widerspenstigen am 17. Mai 1940 Middelburg, wobei die Innenstadt fast komplett zerstört und das spätgotische Rathaus, ein Werk des flämischen Baumeisters Rombout Keldermans, in Brand gesetzt wurde, dem Erdboden gleich gemacht wurde. Seitens des Aggressors eine pure Machtdemonstration, zugleich ein Zeugnis abstruser Kulturbarbarei.
Nach einer langen Zeit der Restaurierung steht das "Stadhuis" heute im Herzen der Stadt, als wäre nichts geschehen; man hat Tausende Trümmerteile nummeriert und wieder verwendet, wie mir ein niederländischer Freund detailreich schilderte; aber die Auferstehung des alten Rathauses gelang nur mittels einer großen Menge Beton, wobei der mittelalterliche Charakter weitgehend verloren ging (im Innern kann man das gut erkennen). Deutsche Touristen bestaunen die Fassade, als wäre nichts geschehen: Auf den ersten Blick steht das Gebäude da in alter gotischer Pracht.
Ich dachte doch auch, hier lebt der Geist des Mittelalters. Bis mich besagter Freund aus Amsterdam eines Besseren belehrte.
Die Wiederkehr des Verdrängten
Zurück zu besagter Kaffeerunde. Wie gesagt, wir saßen mit "echten" Holländern zusammen; man kannte sich seit geraumer Zeit, man mochte und respektierte sich - aber dennoch, irgendwie nahm das Gespräch bei koffie met gebak nicht so recht Fahrt auf. Die sprachliche Verständigung war nicht das Problem; wir unsererseits hatten es bei vielerlei Begegnungen im Nachbarland gelernt, uns absolut tauglich (hin und wieder auch für beide Seiten amüsant) über alles Gewünschte zu unterhalten und auszutauschen.
Es musste an etwas Anderem liegen, dass es "hakte". Und in der Tat, es lag, wie sich herausstellte, an Unausgesprochenem aus der deutsch-niederländischen Vergangenheit. Genauer: An Reminiszenzen aus der Zeit von 1940 bis 1945. Die Wiederkehr des Verdrängten.
Die Besatzung
Drei Tage bevor die Bomben auf das Zentrum von Middelburg fielen, hatte Holland bereits kapituliert. Das machte die angerichteten Zerstörungen erst recht zu einem überflüssigen Willkürakt, der kein anderes Ziel verfolgte, als auch den letzten noch möglichen Widerstandswillen zu brechen. Der allerdings lag wohl in der Luft; man sagt den Leuten auf Walcheren ihren eigenen Kopf schon immer nach. Königin Wilhelmina (1880-1962) floh noch im Mai 1940 mit der niederländischen Regierung in das Exil nach London. Das aus neun Divisionen bestehende niederländische Heer sowie 125 meist ältere Flugzeuge waren der modern ausgerüsteten Wehrmacht nicht gewachsen.
Die Deutschen errichteten in Den Haag ein Besatzungsregime mit dem österreichischen Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart an der Spitze. Der Wiener Anwalt hatte sich schon im Zuge des Anschlusses Österreichs für das Dritte Reich "verdient" gemacht, in den Niederlanden amtierte er nun als "Reichskommissar". Die etwas älteren Niederländer kennen seinen Namen ganz genau.
Walcheren und das Wasser
Nun muss man wissen, dass ganz Walcheren 1944 und 1945 monatelang unter Wasser stand, und das nicht als Folge einer Sturmflut (wie 1953), sondern infolge des Bombardements der Deiche. Selbst viele der ansässigen Einheimischen (wir haben viele von ihnen gesprochen) sind bis heute der Meinung, die Zerstörung der Deichbefestigungen mit der Folge katastrophaler Überschwemmungen Ende 1944 ginge auf das Konto der deutschen Besatzer, doch stimmt das nur in dem indirekten Sinne, wonach die Okkupation der Niederlande auch für die Kriegstaktik der Alliierten mit allen daran geknüpften Folgen haftbar gemacht wird. Verständlicherweise.
Die Deiche jedenfalls wurden de facto von alliierten Fliegern (also nicht seitens der Deutschen) bombardiert, und zwar mit dem taktischen Zweck, es den nachfolgenden Landungsbooten zu ermöglichen, bis weit auf die Insel zu gelangen. Dass sich dieser Plan im Großen und Ganzen als Fehlschlag herausstellte, steht auf einem anderen Blatt. Der Untergrund erwies sich als viel zu heikel, um so ohne weiteres mit Mannschaften und schwerem Gerät zu tiefer gelegenen Zielen im Inselinneren vordringen zu können. Man hatte auch die zerstörerischen Wassermassen (und deren gewaltiges Kraftpotenzial) unterschätzt.
Jedoch bleibt hinzuzufügen: Auch Deutsche fluteten Gebiete. Als Generalfeldmarschall Erwin Rommel Anfang 1944 verschiedene Hindernisse an der Küste errichten ließ, befahl er nicht nur, Minenfelder, Erdwälle, Schützen- und Panzergräben anzulegen und überall an der Küste schräg eingegrabene Holzpfähle zu platzieren, die mit Stahldraht verbunden und mit Minen bestückt wurden. Um alliierte Luftlandungen zu erschweren, fluteten die Deutschen bereits ab Februar 1944 auch teils große Gebiete in Südholland und Zeeland. Diese Ereignisse haben mit Sicherheit dazu beigetragen, Wut, Verzweiflung und Ressentiments zu schüren.
Das Trauma der Überflutung 1944 -1946
Am 2. Oktober 1944, als Einstieg in die alliierte Operation, wurden vorsorglich über der Insel Handzettel abgeworfen mit der Empfehlung an die Bewohner, Walcheren zu verlassen. Genau das hatten die deutschen Besatzer strikt untersagt. Einen Tag später, am 3. Oktober, begann das angekündigte alliierte Bombardement, und zwar bei Westkapelle.
Zwischen 11:56 und 15:05 Uhr führen 247 Lancasters und sieben Mosquitos des britischen Bomber Command, unter heftiger Luftabwehr der deutschen Stellungen, den Angriff aus. Der Westkapeller Deich wird aufgerissen, eine Bresche von ungefähr 100 Metern entsteht, eine Sturzflut beginnt landeinwärts zu strömen, die Stadt gerät unter Wasser. 152 Zivilisten sterben. Einige Dutzend fliehen in die Mühle De Roos, die anscheinend Schutz bietet. Auch die Mühle wird schwer getroffen, Schutt und der herabstürzende Mühlstein versperren den Verzweifelten den Ausgang. Als das Wasser hereinbricht, ertrinken 44 Einwohner. Nur drei, darunter ein Baby, können lebend aus den Trümmern geborgen werden.
Weitere Dammbrüche folgten im Norden bei der mittelalterlichen Festung Veere, im Süden bei der Hafenstadt Vlissingen sowie bei Fort Rammekens, wodurch 80 Prozent von Walcheren (die Insel liegt unter dem Meeresspiegel) von den Wassermassen der Nordsee überspült wurden.
Die monatelange Überschwemmung erwies sich für Tausende Inselbewohner ebenso wie für das Vieh, den Baumbestand, die Felder und die Häuser als absolute Katastrophe, die sich tief in das kollektive Gedächtnis eingeprägt hat. Es sollte bis Anfang 1946 dauern, die Deiche vollständig wieder zu schließen.
Die Deichbefestigung bei Vrouwenpolder wurde am 11. Oktober durchbrochen. Am 17. Oktober wurde die Bresche im Westkapeller Seedeich durch ein weiteres Bombardement vergrößert. Zwischen dem 10. und dem 30. Oktober gab es mehr als 1.000 Bombardierungsflüge auf die deutsche Küstenverteidigung zwischen Domburg und Vlissingen. Die in den schweren Bunkern aufgestellte deutsche Artillerie blieb allerdings fast völlig intakt.
Wir bekamen einige dieser Tatsachen - in behutsamer Form - beim Kaffee-Talk in Middelburg zu hören, aber dazu später noch mehr.
Kriegsnarben
Ein Großteil der deutschen Urlauber nimmt wohl, wie schon erwähnt, allenfalls beiläufig Notiz von den Spuren, die ihre Landsleute im Nachbarstaat hinterlassen haben (direkt Beteiligte sterben im Übrigen ja inzwischen aus). Die Kriegsnarben fügen sich nicht zur Urlaubsstimmung; andererseits mag das Desinteresse ein Stück weit dem Generationenwechsel geschuldet sein.
Mir fiel bei meinen Besuchen im Nachbarland auf, dass die Jüngeren (auf beiden Seiten) kein Problem mehr mit dem Thema verbinden, sondern mehr oder weniger im europäischen Alltag angekommen sind (natürlich auch im gemeinsamen eher unverbindlichen Freizeit- und Konsumalltag). Dennoch bleibt ein Rest von Verstörung. In einem speziellen Fall wurden meine Frau und ich vor einigen Jahren sehr direkt mit den Geschehnissen 1944 konfrontiert, als nämlich die Nachfahrin einer Bäuerin aus Vrouwenpolder (Nord-Walcheren) uns beim Frühstück in ihrer Pension eingängig damit konfrontierte, was die "von den Deutschen verursachte" (sic!) Überflutung im Schreckenswinter 1944/45 auf der Insel sowie an Haus und Hof angerichtet hatte.
In der Tat, etliche der verheerenden Folgen sind noch heute, 75 Jahre später, unübersehbar. Wir konnten uns auch andernorts auf Zeeland hiervon überzeugen, es finden sich überall noch Schäden an der Bausubstanz von Häusern (gerade der oft einfacheren), hervorgerufen durch das Salz der eindringenden Seewassermassen. Man sieht Einschusslöcher in den Fassaden von Bauernhöfen direkt hinter den Dünen oder erkennt noch Spuren der Munitionsbahn (eine Schmalspurbahn) im heutigen Naturschutzgebiet Oranjezoon, eine Wegstrecke, die die Deutschen rücksichtslos und im Eiltempo durch Walcherens Dünenlandschaft gezogen haben, um Granaten und die schweren Geschosse bis direkt an die Geschützstellungen zu befördern.
Walcheren und der Atlantikwall
Denn Walcheren war nicht irgendeine Insel. Die strategische Bedeutung war schon vor 1940 offenkundig, und zwar dank der Westerschelde: der Wasserweg nach Antwerpen. Die Scheldemündung, die südlich an Walcheren grenzt, wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung.
Der ganze amerikanische Vorstoß war unterdes abhängig von der Sicherung und Konstanz der materiellen Versorgung. Die Versorgungswege waren längst überdehnt, der Nachschub kritisch geworden. Der Hafen von Antwerpen als solcher war beim Vordringen der alliierten Truppen über belgisches Territorium am 4. September 1944 zwar bereits von der 2. Britischen Armee besetzt worden, und das auch ohne größere Schäden; dieser Trumpf konnte aber nicht ausgespielt werden. Was fehlte, war schlicht die Zufahrt. Oberste Direktive auf deutscher Seite war jetzt umso mehr, Walcheren - und damit die Scheldezufahrt - um jeden Preis zu verteidigen. Kriegsentscheidend.
Walcheren - aus deutscher Sicht ein enorm wichtiger Posten des deutschen Atlantikwalls. Der "Atlantikwall", dieses mit Hochdruck vorangetriebene Bollwerk, zwischen 1942 und 1944 mit ungeheurem Aufwand errichtet, erstreckte sich entlang der norwegischen Küste bis zur französisch-spanischen Grenze; so zumindest war er gedacht. Tausende von Bunkern und Barrieren sollten eine Invasion der Alliierten seeseitig verhindern. In Zeeland wurde Walcheren zusammen mit dem Seehafen Vlissingen ganz besonders stark befestigt, aber auch Zeeuws-Vlaanderen (Breskens) weiter Richtung Norden. Seit dem 6. September war Walcheren zur "Festung Walcheren" ausgerufen.
Auf das relativ kleine Territorium der Halbinsel klotzten die Deutschen rund 300 Bunker mit einer Wand- oder Deckenstärke von zwei Metern und mehr, zusammen mit Hunderten leichterer Bauwerke. Die hässlichen Betonmonster lassen sich teils bis heute nicht gefahrlos sprengen, man ließ sie nach dem Krieg einfach stehen. So gehören sie regelmäßig zu den ersten Eindrücken, die anreisenden Urlaubsgästen und Touristen ins Auge fallen; hinter der Küstenlinie bei Zoutelande etwa, bei Westkapelle, teils auch tiefer im Land ragen immer noch die schweren Geschützstellungen und -bunker dieser Jahre als abnorme Ungetüme aus den Feldern der zeeländischen Bauern.
Die Schlacht um die Scheldemündung
Den Herbst 1944 über litt Middelburg schwer unter den Bombardements der Westalliierten. Am 12. September fällt die Entscheidung: Die Kanadische Armee soll das Schelde-Mündungsgebiet erobern. Erste Attacken gegen die deutschen Stellungen verliefen allerdings wenig erfolgreich.
Bei Dishoek nahe Vlissingen - hier gibt es die mit Abstand höchsten Dünen auf Walcheren - überwachen die Deutschen mit ihrer stark befestigte Marinebatterie Nr. 8 (eine von neun Batterien der Marineartillerie) effektiv den gesamten Küstenabschnitt. Noch am 19. April 1944 hat Erwin Rommel hier dem Atlantikwall höchstpersönlich einen Besuch abgestattet. Die Deutschen arbeiten mit schwerem Küstengeschütz, vom Nachbarort Zoutelande aus beträgt dessen Reichweite 25 Kilometer; beim Seebad Domburg sind 22-cm-Mörser aus tschechoslowakischer Herstellung im Einsatz.
Die eigentliche Schlacht um die Scheldemündung stand noch aus. Sie nahm am 2. Oktober 1944 ihren Lauf. Einen äußerst langwierigen, äußerst blutigen Verlauf. Analysten werden später von einer fatalen Verschleppung der Operation sprechen.
Unter dem Kommando von General Henry D. G. Crerar rückt die 1. Kanadische Armee gegen die Deutschen vor, unterstützt von kleineren amerikanischen, niederländischen und belgischen Einheiten, eine Streitmacht von insgesamt 450.000 Soldaten. Zur kanadischen Armee gehören auch ein britisches Korps (das 1. Korps) und eine polnische Panzerdivision (die 1. Panzerdivision). Das weitgehend überschwemmte, morastige Gelände macht das Kampfgeschehen zu einer zermürbenden und verlustreichen Episode. Manche Historiker äußerten, hier habe die Schlacht mit den schwierigsten Geländebedingungen während des gesamten Zweiten Weltkriegs stattgefunden. General Crerar muss infolge einer schweren Erkrankung das Kommando an Lieutenant-General Guy Simonds übergeben.
Erbittert verteidigen die Deutschen das Mündungsgebiet der Schelde. An deren Südufer befindet sich flaches Polderland, zur Verteidigung gut geeignet. Die Kämpfe ziehen sich durch den ganzen Oktober. Am 6. November 1944 besetzen die kanadischen Truppen Middelburg. Zwei Tage später bricht der deutsche Widerstand zusammen. Es gab noch deutsche Gegenangriffsversuche von der Seeseite aus, die jedoch mühelos durch britische Geleitzerstörer gestoppt werden können. Zeeland ist zurückerobert, die deutsche Besatzung hat ein Ende.
"Terrible Victory"
Für die kanadische Armee war der Einsatz mit immensen Verlusten verbunden. Der kanadische Historiker Mark Zuehlke nannte sein Buch über das Geschehen nicht zufällig "Terrible Victory", furchtbarer Sieg. Manche sehen in dem hohen Blutzoll einen Grund dafür, warum die Schlacht um die Westerschelde nach dem Ende des Kriegs bald in Vergessenheit geriet. Es war unter Historikern keine "prominente" Schlacht; ein zusätzlicher Grund für das rasche Vergessen wird in dem Umstand vermutet, dass die Kanadier als Stiefkinder der britischen Streitkräfte angesehen wurden. Man taufte sie spöttisch "die Aschenputtel-Armee".
Die kanadischen Soldaten, die im Herbst 1944 bei der Schlacht um die Schelde fielen, sind in Bergen op Zoom auf einem eigenen Friedhof begraben. Unmittelbar neben dem kanadischen befindet sich der britische Soldatenfriedhof.
Das Vergangene ist vorüber. Oder nicht?
Über all dies kann man sich vor Ort in Museen und entlang einer Reihe von Gedenk- und Erinnerungsplätzen an der niederländischen Küste informieren.
Hinter dem Deich in Westkapelle findet sich zum Beispiel das vorzügliche Museum Het Polderhuis, das besondere Einblicke (mit einer Reihe eindrucksvoller Exponate) in die Geschichte von Walcheren und die Weltkriegsereignisse bietet.
Aber auch ein Blick auf die neuere niederländische Literatur zeigt, dass das Thema "Deutsche Besatzung" nicht einfach passé ist. Uns half ein Gespräch dabei, das besser zu verstehen: Wir sind wieder in Middelburg, im heutigen Middelburg mit seinem wiederaufgebauten Stadhuis, mit der wiederhergestellten Altstadt, mit seinen neuen Wohnsiedlungen am Rand der Stadt, mit seiner unverwüstlichen Anziehungskraft - und mit unserem Vergessen?
"Onder vuur en water"
Unser Gastgeber stand urplötzlich auf, verließ den Wohnraum und kam kurze Zeit später mit einem Buch in der Hand zurück. Wir hatten zuvor von der Generation der Väter (beidseits) gesprochen, was mir Gelegenheit gab, von meinem eigenen Vater zu erzählen, der im Krieg an der Ostfront in Gefangenschaft geriet. Wir sprachen ruhig und ausführlich über die Jahre 1933 bis 1945, über Despoten, Mitläufer und über Schuld und Versagen. Im Laufe der Unterhaltung veränderte sich etwas. Das nette Geplänkel, der Austausch über Alltägliches, die üblichen Freundlichkeiten wichen einer aufmerksamen Anspannung.
Am Schluss der Runde - die Kaffeekanne hatte sich geleert und der Uhrzeiger war um Stunden vorgerückt - fühlten wir uns nicht mehr als oberflächlich Bekannte; wir waren mehr als nur Nachbarn auf der Landkarte. Es war, als hätte ein Gewitter die Luft gereinigt. Als meine Frau und ich aufstanden, das herbeigeholte Buch als Leihgabe in der Hand, hatten wir neue Freunde gewonnen. Das vorherige Fremdeln war einer neuen Qualität gewichen.
Das Buch, von dem die Rede ist und das ich in Deutschland für mehrere Monate gründlich studieren durfte, ist auf Niederländisch verfasst. Es ist prallvoll mit erstaunlichen Zeugnissen und Dokumenten, auch solchen auf Deutsch, die diese schweren und turbulenten Jahre aus der Sicht unserer Nachbarn schildern. Es trägt einen einfachen Titel: Walcheren onder vuur en water 1939-1945, zu Deutsch: Walcheren unter Feuer und Wasser 1939-1945.
Die vergessene Schlacht
Am 8. November 1944 kapituliert der Kommandant der letzten noch kämpfenden deutschen Truppen bei Vrouwenpolder. Hitlers "letzte Bastion" war gefallen. Die Eroberung der Schelde, die vergessene Schlacht (Slag om de Schelde), kostete fast 13.000 Mann auf Seiten der alliierten Streitkräfte das Leben, darunter 6.367 Kanadier. Noch einmal so viele ließen an den anderen Frontabschnitten der Halbinsel ihr Leben.
Der amerikanische Historiker Charles B. MacDonald nannte das Desaster bei der Einnahme der Schelde "einen der größten taktischen Fehler des Krieges". Aufgrund fehlerhafter strategischer Entscheidungen der Alliierten Anfang September 1944 sei die Schlacht zu einer der längsten und blutigsten geworden, die die kanadische Armee im Verlauf des Zweiten Weltkriegs erlebte.
Die Überschwemmung bestimmte den Kampf um Walcheren. Die direkte Bombardierung der Deiche von Westkapelle, Vlissingen, Ritthem, Veere und Vrouwenpolder hatte zum Ziel, die Insel unter Wasser zu setzen. Nie zuvor hatte es einen solchen Angriffsplan gegeben. Mit der Überflutung von Walcheren wurde der Bevölkerung zugleich weitgehend die Lebensgrundlage genommen. 15.000 Niederländer starben noch nach dem Ende der Kämpfe allein im Hungerwinter 1944/45.
Das Vergangene ist vorüber. Oder nicht? "Onder vuur en water" gab mir viel zu denken.
Benutzte Literatur:
Dürnholz, Ansgar: Het laatste bastion, dt. Die letzte Bastion, Vlissingen (Den Boer/De Ruiter) 1997
Houterman, J.N.: Walcheren bevrijd, dt. Walcheren befreit. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe "Documentatiegroep Walcheren 1939-1945", Middelburg 1994
Memoria Walcheren 40-45: Een overzicht van oorlogsmonumenten en restanten van de Atlantikwall, dt. Ein Überblick über Kriegsdenkmäler und Überreste des Atlantikwalls, Westkapelle (Polderhuis) 2007
Polderhuis Westkapelle: Dijk- en oorlogsmuseum, dt. Ein Deichs- und Kriegsmuseum, Westkapelle (Stiftung Zeefront Westkapelle) 2005
Walcheren onder vuur en water, dt. Walcheren unter Feuer und Wasser. Mit Beiträgen offizieller Stellen und Privatpersonen, Middelburg (Den Boer) 1984