Die neue, alte Bedrohung aus dem Osten

Neue, alte Fronten: US-Soldaten trainieren in Polen. Bild: eucom.mil

Eine Erinnerung zum 8. Mai 1945 und Deutschlands Rolle in der Welt (Teil 3 und Ende)

Am 8. Mai 1945 war der zweite Griff der Deutschen nach der Weltmacht endgültig misslungen. Der 8. Mai 1945 erbrachte wieder keinen Platz an der Sonne in der ehrenwerten Gesellschaft von Weltmächten. Die damals weitgehend anerkannten Regierungsverantwortlichen, Militärs und der Reichskanzler haben in ihrer Bemühung, im zweiten staatsmännischen Griff zur Weltmacht, um einen würdigen deutschen Platz an der Sonne zu erreichen, nach neuer Sichtweise Schuld auf sich geladen.

Nunmehr hatte, so die seit 76 Jahre aufrechterhaltene Erinnerungskultur, das absolut Böse gesiegt und dem deutschen Streben nach der Weltmacht eine weitere Niederlage zugefügt. Dass es, staatsmännisch gesehen, aber dabei nicht bleiben kann, hat schon der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, am 8. Mai 1949 in seinem Erinnerungsweckruf dargelegt. Dieser Weckruf ist von nun an wachzuhalten und fortzuschreiben, mögen auch Jahre und Jahrzehnte vergehen nach der neuen "Urkatastrophe" einer deutschen Niederlage im Ringen um einen Platz an der Sonne im ehrenwerten Kreis von Weltmächten.

Für das deutsche große Ganze und an seine zukünftige Aufgabe ist all dem zum Trotz weiterhin zu erinnern und hervorzuheben: "Der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa." Zum einen ist sich zu erinnern in der von Theodor Heuss konstruierten Weise des Sich-Erinnerns der Vergangenheit: Im gut bewährten Pathos von Paradoxie-Tragik-Erlösung-Vernichtung, und das alles "in einem", so Heuss. Das "Pathos dieser emotionalen Beeinflussung", ist von den Gestaltern und Mahnern des Erinnerungsweckrufs "für jeden von uns" - so Heuss weiter - erdacht und in seiner langen kurzen Geschichte immer deutlicher und anspruchsvoller ausformuliert:

Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Für uns kommt es auf ein Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Inneren an.

Richard von Weizsäcker, 8. Mai 1985

Zum anderen ist das politische Ziel des Erinnerungsweckrufes der jeweils veränderten geo- und weltpolitischen Lage anzupassen. Das macht den 8. Mai 1945 zu einem "Datum von entscheidender Bedeutung für Europa" (Richard von Weizsäcker, 8. Mai 1985).

Denn die Stellung des Deutschen in Europa und in der Welt bleibt, weiterhin in staatsmännischer Manier betrachtet, nach wie vor alles andere als zufriedenstellend. Als "Mahnmal des Denkens und Fühlens" durfte es nicht im "eigenen Inneren" der neuen Regierungsverantwortlichen und politischen Entscheidungsträger ab dem 8. Mai 1945 verbleiben. Der Erinnerungsweckruf soll das gleichermaßen alle Zeiten überdauernde politische Ziel des deutschen großen Ganzen in das Denken und Fühlen eines "jeden von uns" unauslöschlich eingraben; und zwar so eingegraben im individuellen und kollektiven Gedächtnis, dass der nunmehr dritte Griff zur Weltmacht politisch allgemeine Anerkennung und Geltung genießt, ohne in die ungeschminkten und offenherzigen Töne zu verfallen, derer sich Hitler und die Seinen bedienten.

Darüber genießt dieser nüchterne, staatsmännisch-weltpolitische Anspruch zweifelsohne für jeden politischen Souverän, der auf sich hält in der Welt der ausgiebigen Staaten-Konkurrenz, ohnehin allgemeine Geltung: "Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein." (Mein Kampf, 1936: 742)

Die Erinnerung als Werkzeug und Pflicht

Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergisst, verliert den Glauben. (…) Es lastet, es blutet, dass zwei deutsche Staaten entstanden sind mit ihrer schweren Grenze. Es lastet und blutet die Fülle der Grenzen überhaupt...Das trostlose Ergebnis der Sünde ist immer die Trennung

Richard von Weizsäcker, 8. Mai 1985

In die Worte des Alten Testaments gekleidet, mit allem jüdischen, christlichen und modernen, aufgeklärten moralischen Gewicht und Anspruch versehen, teilt die Erinnerung der deutschen, der europäischen und der Weltöffentlichkeit unmissverständlich mit, dass sie nicht nur an die Hoffnung und Erlösung von der Sünde der Trennung glaubt, derer sich Hitler und die Seinen schuldig gemacht haben.

Vielmehr ist die alttestamentarisch beglaubigte Wiedervereinigung des Getrennten, kaum dass der Kapitulationsvertrag am 8. Mai 1945 unterschrieben war, oberstes Gebot der alten Staatsräson unter neuer, gegebener, weltpolitischer Lage: nur ein vergrößertes, wiedervereinigtes Deutschland hat je Aussicht, in einem neuen Europa eine Führungsrolle zu übernehmen und darüber "unseren Rechten und Interessen" geo- und weltpolitisches Gewicht und Geltung zu verschaffen.

Ein Schritt auf dem langen Weg zu neuer Größe, den sich die deutsche Staatsräson ab 8. Mai 1945 in Auftrag gegeben hat, sollte bald getan sein: Die am 8. Mai 1949 in die Präambel des Grundgesetzes eingeschriebene Wiederherstellung eines neuen Gesamtdeutschlands hat sich am 3. Oktober 1990 erfüllt.

Diese offensichtlich historisch wirklich bedeutsame, "belastende und blutende Wunde", die der zweite Versuch eines deutschen Griffs nach der Weltmacht durch seine Niederlage schuldhaft gerissen hat, war geheilt. Geheilt gemäß der "(...) Zuversicht, dass der 8. Mai nicht das letzte Datum unserer Geschichte bleibt, das für alle Deutschen verbindlich ist" (von Weizsäcker) und gemäß den "Lehren aus der Vergangenheit" (Steinmeier), die besagen:

Für uns gilt es, die Chance des Schlussstrichs unter eine lange Periode europäischer Geschichte zu nutzen, in der jedem Staat Frieden nur denkbar und sicher schien als Ergebnis eigener Überlegenheit und in der Frieden eine Zeit der Vorbereitung des nächsten Krieges bedeutete.

Richard von Weizsäcker, 8. Mai 1985

Eingedenk dessen und angesichts einer Vergangenheit, von der "das eigene historische Gedächtnis" (von Weizsäcker) zu berichten weiß: "Neben dem unübersehbar großen Heer der Toten erhebt sich ein Gebirge menschlichen Leids" (ibd.), verlangt der Schlussstrich, dass kein Staat mehr auf Erden nach "eigener Überlegenheit" strebt und "im Frieden" den "nächsten Krieg" vorbereitet (ibd.).

Die ungelösten Aufgaben der Gegenwart und Zukunft

Dafür bedarf es allerdings eines Deutschlands, das auch in der Lage ist, dieser seiner immensen Verantwortung, die es als Lehre aus der Vergangenheit für sich gefolgert hat, gerecht zu werden. Wie aber soll ein ohne alle Macht darnieder liegendes Deutschland dieser immensen historischen Verantwortung gerecht werden und andere Staaten, gar existierende oder zukünftige Weltmächte daran hindern, eigene Überlegenheit anzusteuern und womöglich mitten im blühenden Weltfrieden Krieg vorzubereiten und durchzuführen?

Es gibt nach Weizsäcker eine Lösung oder Erlösung aus diesem unbefriedigenden Dilemma, "wenn wir das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns warten, nutzen".

Zum einen ist damit die eingangs gestellte Frage geklärt, warum der von Theodor Heuss ins Leben gerufene Erinnerungsweckruf mit der Idee der erlösenden Befreiung des großen Ganzen erfolgreich die verbindlichen Leitlinien der Selbstbetrachtung und Selbstdarstellung des offenbar absolut "neuen" Deutschland ab 8. Mai 1945 bis auf heute bildet: Es sind die anerkanntermaßen "ungelösten Aufgaben, die auf uns warten", die immense außen-, geo- und weltpolitische Aufgabe, künftig ein "unübersehbares Heer von Toten" zu verhindern, und zwar weitab von dieser anempfohlenen Sichtweise: "Das Grauen überfordert uns bis heute (...)".

Nur dann kann das neue Deutschland den Schlussstrich ziehen, um sich, erlöst von der Last der Vergangenheit, den ungelösten Aufgaben in Gegenwart und Zukunft zuwenden: als zukünftige mitbestimmenden Weltfriedensmacht entgegen allen gegenwärtigen und zukünftigen Staaten oder Weltmächten dem Weltfrieden und der Weltfriedensordnung dienen. Diese Tat der Befreiung von der Vergangenheit hat der 8. Mai 1945 eingeleitet.

Allerdings ist zu bedenken: "Die Befreiung war 1945 von außen gekommen. Sie musste von außen kommen - so tief war dieses Land verstrickt in sein eigenes Unheil, in seine Schuld" (Steinmeier, 8. Mai 2020).

Doch die Erlösung von der offensichtlichen Verstrickung Deutschlands in sein eigenes Unheil und in seine eigene Schuld, in das absolute Böse, wie es auch diese alttestamentarisch-theologische Betrachtung der Vergangenheit dem Publikum nahebringen und ans Herz legen will, ist auch durch eine eigene Tat der Befreiung zum benannten Höherem möglich: "Befreiung ist nämlich niemals abgeschlossen, und sie ist nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv, jeden Tag aufs Neue" (Steinmeier).

Das ist so, weil der Weg zu einer globalen, mitbestimmenden Weltfriedensmacht ein langer ist. Dazu ermahnt die Erinnerungskultur, das heißt: Erinnerung als ein Werkzeug mit dem geo- und weltpolitischen Inhalt, das wiederauferstandene Deutschland als künftig mitbestimmende Weltfriedensmacht sich vorzustellen und zu wünschen.

Denn: "Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft. Die Erinnerung fordert und verpflichtet uns!" (Steinmeier)

Der dritte Griff zur Weltmacht

So sagt, so will, so beansprucht es der politische Regisseur, der Subjekt und Dramaturg des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses sein will, "implantierte Erinnerungen". Dies ist dem von Theodor Heuss ins Leben gerufenen Erinnerungsweckruf ersichtlich relativ gut gelungen.

Auch wenn die Erinnerung in Gestalt des staatlich inszenierten Erinnerungs- und Erweckungsaufrufs, auch wenn die politisch "herrschende Meta-Erzählung" ihrer ständigen Aktualisierung gemäß der neu gestellten geo- und weltpolitischen Aufgabe bedarf, die sich die alte neue Staatsräson als mitbestimmende Weltfriedensmacht in der Gegenwart und für die Zukunft gestellt hat: Das zukunftsträchtige Projekt eines dritten Griffs zur Weltmacht ist seit dem 8. Mai 1945 nicht ohne Erfolg in Angriff genommen worden.

Unzweifelhaft hat Deutschland oder haben "wir" inzwischen einen gebührenden Platz an der Sonne in der höchsten Sphäre der Konkurrenz um Weltmarkt und Weltmacht erobert. Diesmal jedoch gilt, dass der dritte Griff zur Weltmacht "nie wieder allein" geschehen soll, geschehen kann, nolens volens angesichts der geltenden Pax Americana:

"Nie wieder!" - das haben wir uns nach dem Krieg geschworen. Doch dieses "Nie wieder!", es bedeutet für uns Deutsche vor allem: 'Nie wieder allein!' Und dieser Satz gilt nirgendwo so sehr wie in Europa. Wir müssen Europa zusammenhalten.

Frank-Walter Steinmeier, 8. Mai 2020

So gilt als deutsch-europäisch weltpolitische Maxime: "Eigene politische und militärische Macht strebte Deutschland auch nach der Wiedervereinigung nicht an, allenfalls im Kontext multilateraler Institutionen wie EU, Nato und UNO" (Der Spiegel, 8. Mai 2020)

Auf dieser erreichten Stufe des gelungenen, wenn auch unabgeschlossenen, dritten geo- und weltpolitisch relevanten Griffs zur Weltmacht, hat die alte neue Staatsräson im Verbund mit USA, Nato, UN-Beschlüssen und als europäische Führungsmacht seit 1945 einiges erreicht im längst erworbenen gewichtigen Mitspracherecht hinsichtlich des globalen Hausherrenrechts über den Globus.

Der neue Blick gen Osten

So kann sich die alte neue Staatsräson weiterhin der globalen Aufgaben auf der höchsten Ebene der Konkurrenz von Weltmächten widmen. "Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Friedensordnung heute vor unseren Augen zerrinnt", sagte Steinmeier. Um dies zu verhindern, hat sich das westliche Bündnis und sein Mitglied Deutschland seit 1945 daran gemacht, in zahllosen Kriegen und Stellvertreterkriegen mit einem "unübersehbar großen Heer von Toten und einem Gebirge menschlichen Leids" die Wiederholung eines solchen Heeres von Toten und eines solchen Gebirges menschlichen Leids zu verhindern, gemäß der alten Weisheit: si vis pacem, para bellum. Oder um von Bülow zu paraphrasieren: mittels der präventiven Verteidigung und Wahrung unserer "Interessen und Rechte".

Beherzigt haben seine Nachfolger diese Lehre aus der Vergangenheit und Geschichte: Ein jeder erfolgversprechende Griff zur Weltmacht braucht den unbedingten Willen, die in Rechte und Rechtsansprüche verwandelten Interessen gegenüber den herrschenden Weltmächten und sonstigen staatlichen Gebilden "ohne Schwäche" geltend zu machen; den jederzeit gewaltbereiten, staatsmännischen Willen zum Krieg; dies mit einem Europa unter deutscher Führung; Förderung und Indienstnahme der kapitalkräftigen Wirtschaft in Friedens- wie in Kriegszeiten.

Allerdings: Das bereits von Hitler und den Seinen identifizierte, bis in die unendlichen, fernen Weiten der Taiga herrschende "Reich des Bösen" existiert nach wie vor. Sich von diesem Bösen zu erlösen harrt noch seiner Vollendung.

So weit ist es inzwischen gekommen, wie im Spiegel zu lesen war: "Es ist vor allem der russische Präsident Wladimir Putin, der für viele auch hierzulande die Sehnsucht nach Macht bedient (...) Putin ist der Champion der Rechten und ein Gegner der liberalen Ordnung Europas."

In diese gewaltbereite Konstruktion, derzufolge der russische Präsident schuldiger Urheber des deutschen Rechtspopulismus, Rechtsextremismus, Rechtsterrorismus und der AfD sein soll, ist die europa-, geo- und weltpolitische Feindschaft eingegossen.

Befreit und erlöst vom absolut Bösen, dem offensichtlich das Reich des Bösen im Osten nacheifert, kann sich die alte neue Staatsräson dem wirklich Bedeutsamen zuwenden: "Europa muss auch die 'Sprache der Macht' lernen. Das heißt zum einen, eigene Muskeln aufbauen, wo wir uns lange auf andere stützen konnten - etwa in der Sicherheitspolitik. Zum anderen die vorhandene Kraft gezielter einsetzen, wo es um europäische Interessen geht", so EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im November 2019.

Literatur

  • Fischer, Fritz, Griff nach der Weltmacht – Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/18, Düsseldorf, 1985.
  • Hitler, Adolf, Mein Kampf, Zentralverlag der NDSAP, 213./217. Auflage, München, 1936.
  • Sand, Shlomo, Die Erfindung des jüdischen Volkes - Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010.
  • Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft [1921], Tübingen, 1976

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