Blutiger deutscher Befehl
Afghanistan: Der Luftangriff, bei dem mehr als 50 Menschen, darunter vermutlich auch Zivilisten, ums Leben kamen, wurde nach Auskunft des deutschen Verteidigungsministeriums vom deutschen Isaf-Kommandeur erteilt
Der Nato-Luftangriff in Afghanistan, der eigenen Tanklastern galt, die von Taliban-Kämpfern entführt worden waren, war heute morgen eine Top-Nachricht, die in keinem der großen westlichen Medien fehlte. Mindestens 80 Menschen seien infolge der Explosion ums Leben gekommen, meldete beispielsweise die New York Times. Die Fragen, die der Angriff aufwirft, kennt man von vielen anderen brutalen Vorfällen dieser Art: Wie viele von den Toten sind tatsächlich Taliban-Kämpfer, wie viele Zivilisten?
Diesmal bekommen sie aber besondere Schärfe. Zum einen, weil die Nato eine Strategie angekündigt und öffentlichkeitsheischend verbreitet hatte, die sich verpflichtete, Zivilisten besser zu schützen und bei Angriffen darauf zu achten. Zum anderen, weil sich im Laufe des Vormittags herausstellte, was zuvor nur zu ahnen war: Dass die Bundeswehr maßgeblich in die Sache verwickelt ist.
In jüngsten Berichten, z.B. von der Frankfurter Rundschau (FR) heißt es, dass der "örtliche deutsche Isaf-Kommandeur die Luftunterstützung angefordert und den Feuerbefehl erteilt" habe, der 60 Menschen, darunter wahrscheinlich auch Zivilisten, das Leben kostete. Ist das eine Kriegshandlung?
Nicht die einzige Frage, die ungeklärt ist... Gestern abend wurden nach Nato-Angaben, die von der New York Times zitiert werden, zwei Tank-Laster, die auf einer Hauptstraße südlich von Kunduz unterwegs waren, von Taliban entführt. Die Unterbrechung des Nachschubs gehört neben den mörderischen Straßenbomben zu den "erfolgreichsten" Guerilla-Taktiken der Taliban, die hier rücksichtslos und grausam vorgehen, wie die FR berichtet, sollen die Fahrer der Laster geköpft worden sein.
Die Laster blieben stecken, auf einer Sandbank im Kundus-Fluss. Ein Bild, das dem Reisenden im pakistanischen Grenzland bzw. in Afghanistan vertraut ist, das auch in vielen Dokumentarfilmen ein Topos ist: schwere Laster, die sich über Steine in einem relativ flachen Gewässer quälen. Zu dem Bild gehören immer wenigstens eine Handvoll Männer, die den Laster an allen vier Rädern auf unterschiedliche Weise unterstützen; passiert das in der Nähe eines Dorfes, so dauerte es nicht lange bis ein ganzer Schwarm das Fahrzeug belagert, hilft oder zusieht. 90 Menschen, die von verschiedenen Medien genannt wurden - manche berichten sogar von über 200 Umstehenden - sind aber eine ganze Menge, noch dazu sollen die Fahrzeuge mitten in der Nacht stecken geblieben sein.
Geht es nach Aussagen des Gouverneurs der Provinz Kundus, Mohammed Omar (dem vom BND nachgesagt wird, dass er problematische Verbindungen zu den Taliban unterhalte), war ein großer Teil derjenigen, welche die Laster umstanden und die bei der Explosion der Tanklastwagen getötet wurden, "bewaffnete Taliban". Dies genau herauszufinden sei aber schwierig, da die "Menschen rund um die Tanklastwagen schwer verbrannt wurden".
Dass auch zivile Opfer unter den getöteten Umstehenden sein könnten, wurde zunächst von Isaf-Seite, z.B. von einem Verantwortlichen mit dem schönen Namen Commander Truelove bestritten. Die offizielle Linie: Der zuständige örtliche Isaf-Kommandeur erteilte den Befehl zum Luftangriff, nachdem festgestellt wurde, dass nur Aufständische in dem Gebiet waren.
Ähnliche Aussagen liest man auch anderswo: Die Presseoffizierin der US-Truppen wie der Nato, Lieutenant-Commander Christine Sidenstricker, äußert das gleiche wie Truelove: "After observing that only insurgents were in the area, the local ISAF commander ordered air strikes which destroyed the fuel trucks and killed a large number of insurgents". Aber sie liefert auch eine Antwort auf die Frage, ob die Piloten denn erkennen könnten, ob in der Menschenmenge bei den Lastern nicht auch Zivilisten sein könnten:
"Based on information available at the scene, the commanders believed they were insurgents."
Woher aber sollen die Informationen "an Ort und Stelle" stammen, wenn keine Bodentruppen involviert waren, auf die sich der Isaf-Kommandeurs, der als "besonnener" Mann geschildert wird, bei seinem Feuerbefehl verlassen hat?
Äußerungen der Bundeswehr lassen Widersprüche in der Einschätzung erkennen und damit auch, dass die Informationen vor Ort Lücken haben. Aus dem Verteidigungsministerium in Berlin heißt es zum einen fest, dass Unbeteiligte "nach derzeitigem Kenntnisstand nicht zu Schaden gekommen sind", zum anderen "fast": Der Ministeriumssprecher geht davon aus, "dass fast alle gegnerische Kämpfer waren".
Auch die afghanischen Repräsentanten, Stammesälteste und Polizeichef, sprechen davon, dass die meisten Toten "wahrscheinlich Taliban-Kämpfer" waren, einer, der Sprecher der Provinzregierung Mahbuhullah Sajedi, wird damit zitiert, dass auch "eine kleine Zahl" von Zivilisten, darunter Kinder, getötet wurden. Nach seiner Beobachtung wollten die Kinder Benzin abzapfen.
Dies wird von einem Stammenältesten aus der Provinz, namens Mohammad Sarwar, bestätigt, allerdings mit einer interessanten Unterstellung: Nach seiner Aussage wurden die Dorfbewohner von den Taliban angesichts des Luftangriffes dazu ermutigt, Benzin von den Lastern zu zapfen. Die Taliban würden demnach Zivilisten nicht mehr nur als menschliche Schilde benutzen, was ihnen immer wieder vorgeworfen wird, sondern auch ganz eindeutig als Blutopfer, um davon im Propanganda- und Medienkrieg zu profitieren. Doch läßt auch das Fragen offen: Waren sich die Taliban sicher, dass ein Luftangriff geschehen wird, so dass sie Zeit genug hatten, um Bevölkerung und Kinder zum Laster zu locken? Oder kamen die ohnehin zu den Lastern?
Die UN hat eine Untersuchung gefordert - die Isaf eine angekündigt. Klar ist jetzt schon: So harmlos wie der deutsche Afghanistaneinsatz seit langer Zeit immer wieder aufs Neue verkauft wird, ist er nicht. Auch nicht im Norden. Man darf gespannt sein, wie die neue (alte) Bundesregierung die nächste anstehende Vergrößerung des Engagements am Hindukusch als weitere "Stabilisierungsmaßnahme" verkaufen wird - mit Karsai als in freien demokratischen Wahlen ermittelter Präsident Afghanistans..