Wie wir im Westen unseren Optimismus verloren haben
So ein Glas galt lange als halbvoll. Bild: 99mimimi
Das fortschrittsoptimistische Denken hat unsere Gesellschaften über Jahrhunderte bestimmt. Das ist nun vorbei. Mit erheblichen Folgen, wie unser Autor meint.
Jahrhundertelang hat eine optimistische Grundeinstellung die Geschichte der westlichen Welt geprägt. Trotz aller Kriege und Katastrophen waren Europa und die USA sicher: Der Fortschritt von Wissenschaft und Technik werde es möglich machen, alle Probleme zu lösen und am Ende werden wir in eine Welt der Freiheit, des Wohlstands und der Sorglosigkeit eintreten.
Gefahren sind dann allenfalls noch durch Aliens oder nahende Meteoriteneinschläge zu erwarten, die wir allerdings auch mit Hilfe von Wissenschaft und technischem Einfallsreichtum in den Griff bekommen werden.
Wie weit wir heute von solchem fortschrittsoptimistischen Denken entfernt sind, kann man nicht nur an den tagesaktuellen Ereignissen über die nahende Klimakatastrophe und die gerade überstandene Pandemie erkennen – gerade in den großen Filmepen ist der Wandel des Selbstverständnisses der modernen, westlichen Welt unübersehbar. Man vergleiche die frühen Star Trek und Star Wars Filme mit Cloud Atlas von 2012 oder Finch von 2021.
Heute beginnen wir, uns in einer postoptimistischen Welt einzurichten. Das heißt, wir orientieren uns in unserem Denken und Hoffen immer noch an den Idealen des Fortschrittsoptimismus, obwohl wir allmählich beginnen müssen, einzusehen, dass die nicht mehr funktionieren, dass sie vielleicht nie so gut funktioniert haben, wie wir meinten.
Aber auch wenn es vielen auch gegenwärtig noch schwerfällt, sich von dem optimistischen Gedanken zu verabschieden, dass Wissenschaft und Technik das Zeug dazu hätten, all unsere Probleme zu lösen, reichen die ersten Einsichten in diese Tatsache schon ein paar Jahrzehnte zurück.
Als der Ökonom Friedrich August von Hayek 1974 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis überreicht bekam, gab er seiner Dankesrede den Titel "Die Anmaßung von Wissen".
Sein Thema ist, warum die Ökonomie, die doch gerade versucht, die erfolgreichen Methoden der strengen Naturwissenschaften zu übernehmen, immer wieder mit Prognosen über den wirtschaftlichen Verlauf der nächsten Monate so kläglich scheitert. Der Unterschied zwischen dem Feld der Ökonomie und dem der Naturwissenschaften ist seiner Ansicht nach, dass die Ökonomie es mit "inhärent komplexen Phänomenen" zu tun hat, dass die Zahl der Aspekte des Geschehens, über die quantitative Angaben zu gewinnen sind, notwendig begrenzt sind.
Man kann also in der Ökonomie nicht alles messen, was wichtig wäre. Liest man das heutzutage, denkt man sogleich an die vergangenen drei Jahre der Pandemie zurück. Was wurde da nicht alles "gemessen", R-Werte, Inzidenzen, Krankenhausbelegungszahlen "wegen oder mit" Corona, ebenso die Zahl der "an oder mit" Corona Verstorbenen. Konnte man all das wirklich messen, so wie die Physik den Ort und die Geschwindigkeit eines Körpers im Labor messen kann?
Und hat man damit überhaupt alle relevanten Aspekte, alles, was für die Pandemie wichtig ist, erfasst? Natürlich nicht. Was nach Hayek für die Ökonomie gilt, gilt natürlich auch für die Epidemiologie in der Pandemie: wie die Leute die Situation einschätzen und wie sie daraufhin handeln, das kann man nicht messen, aber auch die "harten Fakten" der tatsächlich infizierten Personen usw. sind nicht genau bestimmbar.
Korrelation ist etwas wenig
Noch einmal Hayek: der große Fehler, den die Wissenschaft, die gern so exakt wie die Naturwissenschaften sein will, macht, ist, nur das für real und relevant zu halten, was messbar ist. Man versucht, Gesetzmäßigkeiten aus Korrelationen abzuleiten und meint, damit die wichtigsten Ursache-Wirkungs-Beziehungen gefunden zu haben.
Damit verleiht man dem eigenen Tun den Anschein von Wissenschaftlichkeit, wird aber in Wahrheit unwissenschaftlich, denn Wissenschaft muss die angemessenen Methoden nutzen, um die Zusammenhänge zu beschreiben, statt einfach Methoden zu übernehmen, die etwa in der Physik hervorragend funktionieren.
Hayeks Überlegungen zu seiner eigenen Disziplin lassen sich auf viele andere übertragen, aber aus heutiger Sicht muss man sagen, dass er dem optimistischen Denken dennoch stark verhaftet war. Das ist wenig überraschend, denn die Probleme, die auch ihn womöglich zum Postoptimisten nicht nur hinsichtlich der Ökonomie, sondern der Möglichkeiten der Wissenschaften überhaupt gemacht hätten, deuteten sich gerade erst an.
Hayek meinte noch, dass sich die Naturwissenschaften auf einem Feld bewegen würden, in denen die Probleme der Ökonomie nicht auftreten könnten. In den Naturwissenschaften wäre alles messbar, und aus den Korrelationen zwischen diesen messbaren Größen könnten durch Theorien die kausalen Gesetze abgeleitet werden, die das ganze Geschehen der Natur steuern.
Er sah nicht, dass das natürlich nur für die Welt des Labors und für eine Welt, die durch Technik quasi zum Labor gemacht wird, gilt.
Im Labor lässt sich weitgehend alles ausschalten, was nicht messbar ist. Und in der technisierten Umgebung unserer Gebäude und Straßen funktioniert das auch noch halbwegs.
Sobald aber die unkontrollierbare Außenwelt nicht mehr draußen gehalten werden kann, sondern mit ihrer ganzen Vielfalt und Unberechenbarkeit auf die Prozesse einwirkt, passiert den Naturwissenschaften genau das Gleiche wie der Ökonomie.
Herausforderungen dieser Art deuteten sich aber in den 1970ern erst an, die Umweltverschmutzung und das Waldsterben waren die ersten Phänomene, an die eigentlich mit naturwissenschaftlichen Konzepten beschreibbar waren, über die man aber doch kein zureichendes Wissen erlangen konnte. Noch heute ist z.B. unklar, inwiefern das Waldsterben ein natürliches Phänomen war, inwiefern der so genannte "saure Regen" dazu beigetragen hat und warum das Waldsterben dann zurückgegangen ist. Genau besehen ist noch nicht einmal klar, ob es wirklich nachgelassen hat.
Nicht alles kann gemessen werden, was relevant wäre, bei manchen Prozessen weiß man gar nicht, ob es sie nicht auch schon früher gab, man kann die aktuelle Situation nicht mit dem Zustand davor vergleichen, weil man darüber keine vergleichbaren Messungen hat. Das gilt fürs Waldsterben wie für die Pandemie. Keine Infektionskrankheit wurde zuvor so genau vermessen wie Covid-19, bei der dennoch die genauen Zahlen immer unbekannt bleiben werden.
Naturwissenschaft und Technik helfen nicht
Was folgt daraus? Für die großen Probleme der Menschheit, wie etwa Pandemien, aber auch für den Klimawandel, können uns die Naturwissenschaften und die damit verbundenen technischen Entwicklungen keine sicheren Lösungsperspektiven bieten.
Die Welt, in der wir agieren müssen, ist kein Labor, in dem man kontrolliert experimentieren und messen kann. Das erzeugt eine Unsicherheit, die umso größer ist, da wir nichts Besseres haben als die naturwissenschaftlichen Methoden.
Beispiel Klimawandel: aus naturwissenschaftlicher Sicht ist der physikalische Prozess, der dazu führt, dass sich die Atmosphäre erwärmt, wenn der CO2-Anteil zunimmt, seit einem Jahrhundert gut verstanden. Je mehr Komponenten aber berücksichtigt werden müssen, um die Konsequenzen und Auswirkungen dieses Effekts zu verstehen und vorherzusagen, desto unsicherer wird die Sache.
Wolkenbindungsprozesse in der Atmosphäre, überhaupt der Wasserkreislauf, das Verhalten von Gletschern und Eisschilden, die auf Gestein gleiten, die Vegetationszonen, nicht zuletzt die Entscheidungen der Menschen – vieles von dem kann nicht exakt gemessen werden, es braucht Annahmen und Schätzungen, und einiges ist auch verborgen und unverstanden.
Um aber politische Entscheidungen treffen zu können, die Einschnitte in das Leben aller Menschen und in die Grundlagen der Gesellschaft bedeuten, um riesige Finanzmittel und Ressourcen in gewaltigen Umfang zu aktivieren, vor allem aber, um Lösungen und Wege zu finden, die für die Leute akzeptabel sind, welche damit zurechtkommen sollen, bräuchte es aber doch Sicherheit, oder etwa nicht?
Da diese Sicherheit nicht gegeben werden kann, gibt es auch keinen Optimismus mehr, dass die Politik in absehbarer Zeit, rechtzeitig, Lösungen und Maßnahmen auf den Weg bringen kann, die das Problem lösen, bevor es zu ernsten Konsequenzen kommt. Das gilt für kommende Pandemien genauso wie für den Klimawandel und kriegerische Konflikte, es gilt genauso für viele andere gesellschaftliche Herausforderungen, etwa in der Bildungspolitik, beim Fachkräftemangel oder bei der Überalterung der Gesellschaft.
Was tun. Man kann, wenn man ehrlich ist, der Politik an dieser Situation nicht einmal die Schuld geben, man kann nicht auf bessere oder klügere Politiker und Berater aus Wissenschaft und Technik hoffen.
Der erste Schritt ist, sich das erst einmal einzugestehen. Das Problem ist der Optimismus selbst, deshalb ist der Postoptimismus ein notwendiges Durchgangsstadium. Das muss nicht im Pessimismus enden, sondern eher in der Zuversicht, dass der Mensch ein einfallsreiches, widerständiges und im Grunde auch gelassenes Wesen ist, das in schwierigen Bedingungen immer Wege findet, durchzuhalten und ein gutes Leben zu leben.
Mit so einer Zuversicht lassen sich auch die zukünftigen schwierigen Zeiten meistern. Die Wissenschaften mit ihren Einsichten in einige Zusammenhänge unserer Welt, die Techniker mit ihrem Einfallsreichtum und ihrem Talent, werden dabei hilfreich sein, wenn wir sie nicht überfordern.