Vorboten einer neuzeitlichen Völkerwanderung

Ein Ende dieses Flüchtlingsstroms ist nicht in Sicht

Was wir derzeit in TV-Bildern sehen, sind Flüchtlingsströme von Arm nach Reich und solche aus Kriegsgebieten in vermeintlich sichere Zufluchtsorte. Wir, die alteingesessenen Bewohner der wohlhabenden und befriedeten Länder Europas, müssen diese Entwicklung nicht schön finden. Doch darauf kommt es überhaupt nicht an. Denn niemand fragt uns nach unserer Meinung. Die Elenden und Verzweifelten dieser Welt machen sich einfach auf den Weg. Auf Gedeih und Verderb.

Ende 2013 gab es nach dem Jahresbericht des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) weltweit 50 Millionen Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene; ein Jahr später waren es 10 Millionen mehr. Die Hälfte dieser Flüchtlinge sind Kinder. Etwa 20 Millionen Menschen leben heute im ausländischen Exil. Allein aus Afghanistan und Syrien flüchteten je ca. 2,5 Millionen, aus Somalia ca. 1,2 Millionen und aus dem Irak gut 400.000. Die meisten dieser Flüchtlinge leben heute in riesigen Lagern in der Türkei, in Pakistan, im Libanon und im Iran, somit in Ländern, die bereits vor Eintreffen der Flutwellen erhebliche wirtschaftliche und soziale Probleme hatten. Diese Aufnahmeländer haben nicht annähernd den Wohlstand der entwickelten europäischen Staaten. Gleichwohl müssen sie versuchen, die erdrückende Flüchtlingslast zu bewältigen. Die Lage in den Flüchtlingslagern ist oft katastrophal. Man kann es erahnen, wenn man bedenkt, welche Schwierigkeiten Deutschland, eines der wohlhabendsten Länder der Welt, hat, weitaus weniger Flüchtlinge unterzubringen.

Ein Ende dieses Flüchtlingsstroms ist nicht in Sicht. Er folgt archaischen Verhaltensmustern. Wir können versuchen, Mauern aufzurichten, um unseren Reichtum zu verteidigen. Aber diese Mauern werden dem Andrang von Abermillionen auf Dauer nicht standhalten. Die besorgten Rufe nach neuen und schärferen Gesetzen werden die Probleme erst recht nicht lösen. Denn diese Rufe werden in den Kriegs- und Armutsgebieten Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens ungehört verhallen.

Die Verzweifelten in Syrien, im Irak, in Afghanistan, Eritrea und Somalia und anderswo haben ganz andere Sorgen als unsere Asylgesetze zu lesen. Noch weniger interessiert es sie, ob das Taschengeld für Asylbewerber gekürzt wird (wie jüngst der bayerische Innenminister vorschlug) oder ob es durch Gutscheine ersetzt wird (so Bundesinnenminister de Maizière). All das ist den Kriegs- und Armutsflüchtlingen keinen Gedanken wert. Denn sie haben nur ein Ziel: Sie wollen ihr Leben retten, Taschengeld hin, Gutscheine her.

Sie wissen, dass viele von ihnen umkommen werden wie bereits Tausende vor ihnen. Sie wissen auch, dass die Glücklichen, die es tatsächlich bis an unsere Grenzen schaffen, nicht mit offenen Armen aufgenommen werden, sondern dass ein beschwerlicher Weg mit viel Bürokratie und Unsicherheit auf sie wartet und dass Demütigungen und Anfeindungen ihre Wegbegleiter sein werden. Wenn sie sich dennoch auf den Weg machen, dann ist ihr Beweggrund nicht Abenteuerlust und der Traum von einem bequemen Leben in einem fernen unbekannten Land, sondern die verzweifelte Lage in ihrer Heimat.

Wer verlässt schon leichten Herzens seine Familie, seine Freunde, seine Bekannten, sein vertrautes Dorf, seine Stadt? Und wer geht schon gern in ein Land, dessen Sprache er nicht spricht, dessen Kultur er nicht kennt und von dem er weiß, dass es ihn nicht haben will? All denen, die über Neuankömmlinge die Nase rümpfen und "den ganzen Haufen" postwendend zurückschicken wollen, sei angeraten, sich in einer ruhigen Stunde zu überlegen, was sich in unserem Land verändern müsste, damit sie sich selbst zu einer hochriskanten Reise ins Ungewisse entschließen.

Es zeugt von wenig Nachdenklichkeit, all die Menschen, die in Erstaufnahmeeinrichtungen, in Kasernen, in Turnhallen und desolaten Wohnhäusern untergebracht sind, als Wirtschaftsflüchtlinge und Asylbetrüger zu beschimpfen. Ihr Ziel ist im Regelfall nicht die viel beschworene "soziale Hängematte", sondern das nackte Überleben.

Warum nennt man eigentlich die Asylsuchenden Betrüger?

Ich habe in meiner langen Tätigkeit als Asylrichter die Schicksale vieler Asylbewerber kennengelernt. Die weitaus meisten wurden nicht als asylberechtigt anerkannt, weil sie nicht "politisch" verfolgt waren. Entscheidend ist jedoch, dass nach meiner sicheren Erinnerung nahezu alle Asylbewerber einen überaus triftigen Grund für das Verlassen ihrer Heimat hatten. Das sollte all jenen zu denken geben, denen das Wort vom Asylbetrüger so leicht über die Lippen geht.

Warum nennt man eigentlich die Asylsuchenden Betrüger? Kein Bauwerber, dessen Bauantrag abgelehnt wird, ist in unserem Sprachgebrauch ein Baubetrüger. Ebenso wenig ist ein Unternehmer, dessen Subventionsantrag abgelehnt wird, ein Subventionsbetrüger. Nur die erfolglosen Asylantragsteller sollen Betrüger sein? Das ist hetzerisch. Also belassen wir es beim "Asylanten"?

Doch aufgepasst: Selbst das an sich wertfreie Wort "Asylant" hat durch die Art und Weise, wie es von Stimmungsmachern in den letzten Jahren benutzt worden ist, eine Abwertung erfahren. Es erinnert im heutigen Sprachgebrauch an Simulant, Querulant, Demonstrant und Intrigant. Der Asylant ist somit auch sprachlich unversehens zu etwas Negativem geworden. Besinnung tut Not - und die beginnt mit der Sprache.

Es ist an der Zeit, ein realistisches Bild von der gegenwärtigen Lage zu gewinnen, ohne aber gleich in Hysterie zu verfallen. Wir müssen begreifen, dass wir am Beginn einer Entwicklung stehen, die das Potential zu einem Jahrhundertproblem hat, vergleichbar mit Klimawandel, Umweltzerstörung und Weltbevölkerungsexplosion. Untrügliches Indiz für die Größe eines Problems ist, dass es die Politik nur mit spitzen Fingern anfasst. Es besteht eine große Scheu, die Dinge beim Namen zu nennen. Man spricht von massenhaftem Asylmissbrauch statt vom Beginn einer Völkerwanderung.

Die Politik begnügt sich im Wesentlichen mit der Organisation von Flüchtlingsunterkünften. An den Kern des Übels will sie nicht ran, weil andernfalls zentrale Inhalte der Politik verändert werden müssten. Die Verantwortungsträger befassen sich lieber mit Zweit- und Drittrangigem, weil da schneller Erfolge zu erzielen sind. Das Missverhältnis wird deutlich, wenn man sich vergewärtigt, welch unerhörte Kraftanstrengungen für das vergleichsweise kleine Griechenland-Problem gemacht wurden. Das für unsere Zukunft viel wichtigere Flüchtlingsproblem wurde nie seiner Bedeutung entsprechend behandelt. Die Diskussionen blieben an der Oberfläche: Unterbringung, Taschengeld, Grenzschließung, Abschiebung. Wenn man dieses Problem in seiner ganzen Tragweite anpacken will, sind Weitsicht, Mut, Ehrlichkeit und Entschlusskraft vonnöten. Befund: Fehlanzeige!

Völkerwanderungen gibt es seit Beginn der Menschheitsgeschichte. Die gegenwärtige Form der Migration hat jedoch Besonderheiten. Erstens gab es noch nie gleichzeitig so viel Bedrohliches für so viele Menschen. Zweitens hatten die Bedrohten noch nie so viel Kenntnis über die ungerechte Verteilung der Güter auf dieser Erde: bittere Armut auf der einen und überbordenden Reichtum auf der anderen Seite. Und drittens war es noch nie so einfach, von einem Erdteil in einen anderen zu gelangen. Kommt all das zusammen, dann sind Massenwanderungen die logische Folge.

So einfach diese Analyse ist, so schwierig ist die Therapie. Klar ist nur, dass es strategisch ohne Wert ist, sich an den unerfreulichen Symptomen der Flüchtlingsströme abzuarbeiten, ohne gleichzeitig den Versuch einer Ursachenbeseitigung zu unternehmen.