"Uns’re Lait werden dann Schossehstein klöppern"

Nachtrag: "Ist Plattdeutsch vielleicht ein judenfeindliches Medium?"

Einige Hinweise zum Themenkomplex "Juden und Plattdeutsch" seien hier auch deshalb angefügt, damit die dargebotenen, durchweg vor 1870 entstandenen Literaturbeispiele keine falschen Erwartungen wecken (zum Ende des 19. Jahrhunderts hin kommt es zu einer Inflation der plattdeutschen Buchproduktion, und mit großer Wahrscheinlichkeit ist innerhalb dieses Sortiments mit weitaus weniger freundlichen Befunden zu rechnen). Am Anfang der neuniederdeutschen Literatur steht in Westfalen ein plattdeutsches Zeugnis wie das des Osnabrückers Friedrich Wilhelm Lyra (1794-1848), der sich 1845 - "wenn auch in seiner derb-humoristischen Art - für die Frauen- und die Judenemanzipation ausspricht"8. Am Gegenpol findet man z.B. den im Kreis Cruxhaven geborenen Pfarrerssohn, Arzt und Mundartautor Gustav Wilhelm Bernhard Stille (1845-1920), der sich durch das Werk "Der Kampf gegen das Judentum" (1900) im deutschen Kaiserreich als aggressiver Antisemit ausweist. Über seinen plattdeutschen Roman "Dörpkinner", 1918 erschienen in der Deutschnationalen Verlagsanstalt, liest man sogar in einer äußerst wohlwollenden Rezension der "Mitteilungen aus dem Quickborn" (Nr. 12/1918): "… der Verfasser zieht gegen die Juden scharf zu Felde. […] Man braucht durchaus nicht mit den Juden zu sympathisieren, um sich von dieser aufdringlichen Tendenz abgestoßen zu fühlen."

Von Julius Langbehn (1851-1907), dem maßgeblichen Propagandisten eines "niederdeutschen Charakters" und katholischen Konvertiten, stammen Vorgaben für einen "kulturpessimistisch" motivierten Antisemitismus. Zur Zeit des Faschismus wird der Nationalsozialist Dr. Karl Schulte Kemminghausen, der vielen noch nach 1945 als Westfalens plattdeutsche Koryphäe galt, unter wissenschaftlichem Anspruch die These vortragen, dem Judentum sei eine feindselige Einstellung gegenüber dem Niederdeutschen bzw. Plattdeutschen zu eigen.9 Man kann kaum glauben, dass diesem akademischen Scharlatan die Absurdität seiner im Kontext einer rassistischen "Sprachbiologie" vorgetragenen Hirngespinste selbst nicht bewusst war.

So gehörte etwa die später von den Faschisten ermordete jüdische Wissenschaftlerin Agathe Lasch (1879-1942), Deutschlands erste Germanistikprofessorin, im Kaiserreich zu den führenden niederdeutschen Philologen. In Münster, dem Wirkungsort von Schulte Kemminghausen, war der jüdische Kaufmann Eli Marcus (1854-1935) - genannt "Natzohme" - einer der produktivsten Mundartautoren und zugleich als plattdeutscher Theateraktivist der "Zoologischen Abendgesellschaft" bekannt. Der jüdische Buchdrucker Carl van der Linde (1861-1930) aus dem niedersächsischen Veldhausen hat Gedichte, Prosatexte und politische Kommentare im Plattdeutsch der Grafschaft Bentheim veröffentlicht, woran u.a. eine preisgekrönte, von Helga Vorrink und Siegfried Kessemeier bearbeitete Buchedition "Löö en Tieden" (2008) erinnert.

Es ist selbstredend lächerlich, unter Hinweis auf willkürlich ausgewählte individuelle Beispiele eine besondere Abneigung oder Affinität von Juden im Bereich des Plattdeutschen zu konstruieren oder innerhalb des so vielgestaltigen niederdeutschen Raumes Juden irgendein bestimmtes Sprachverhalten zuzuordnen, das nicht von familiärer Sprachbiographie, Minderheitenstatus, regionaler Sprachsoziologie, lokaler Sprachgeschichte etc., sondern gleichsam wesensgemäß vom "Jüdischsein" bestimmt ist. Über den Hamburger Pädagogen und Rabbiner Samson Philip Nathan (1820-1905) wird mitgeteilt, dass er "seine Heimatstadt liebte und besonders gern Plattdeutsch sprach". In Krakow, so schreibt Ursula Homann, gehörte der jüdische Gemeindevorsteher Benno Nathan 1910 "zu den Stiftern des Reuter-Gedenksteins in einer Gartenanlage. Sein Bruder Josef […] war ein Verehrer des plattdeutschen Dichters Fritz Reuters. Josef Nathan verfasste selbst ebenfalls plattdeutsche Lyrik und dichtete einmal: ‘Min oll lütt Vaterstadt, tüschen See un Barg: Hier hett min Weig dunn stahn, hier stah’ min Sarg.’ Wie ihre nichtjüdischen Nachbarn betrachteten sich die Nathans im 19. Jahrhundert in erster Linie als Mecklenburger und pflegten wie alle Einheimischen die plattdeutsche Sprache".

Im Bereich der Heimatforschung hat man in bundesrepublikanischer Zeit das Sprachverhalten bisweilen wohl auch rückblickend als Indikator für eine "gute Integration" jüdischer Mitbürger betrachtet, so z.B. hier für Ostfriesland: "Auch die Fehntjer Juden sprachen plattdeutsch." Meine eigenen Studien10 für Südwestfalen lassen am ehesten den Schluss zu, dass sich jüdische Händler außer Haus selbstverständlich der ortsüblichen Mundart bedienten und deshalb auch judenfeindliche Mundartautoren dies in ihren Schwänken fast immer so wiedergeben müssen (zum familiären Sprachverhalten habe ich keine außerliterarischen Quellen für die Region gefunden; ein wirkliches "Westjiddisch" wird man ab Ende des 19. Jahrhunderts wohl kaum noch gesprochen haben). In Sondersprachen wie der "Masematte" aus Armenvierteln in Münster oder dem "Schlausmen"11 der hochsauerländischen Sensenhändler, die auf einem plattdeutschen Grundgerüst beruhen, haben viele Entlehnungen aus dem Jiddischen bzw. Hebräischen Eingang gefunden.

Der in Niederntudorf bei Salzkotten geborene Dichter Jakob Loewenberg (1856-1929) teilt zu seiner Kindheit in einem katholischen Dorf Westfalens mit:

Wären nicht die Erwachsenen störend dazwischen gekommen, die jüdischen und christlichen Knaben und Mädchen würden in derselben einträchtigen Weise weiter verkehrt haben, wie sie es als kleine Kinder getan. […] Hieß es aber bei irgend einer Gelegenheit: "Da heste den Jiuden", - oder "so was kann nur bei Eiszews [von Esau = Nichtjuden] passieren", so horchten die jungen Ohren auf, und der Ruf "olle Jiude", "olle Christ" flog bald herüber und hinüber. Und mehr der Unterschiede taten sich dann den spähenden Äuglein kund: andre Speise, andre Feiertage, andre Gotteshäuser, ja selbst auch eine andere Sprache; denn in den jüdischen Familien wurde (...) nur Hochdeutsch gesprochen, obgleich jeder Platt verstand und es im Verkehr gebrauchte.

Schon bald nach 1800, als antiaufklärerische und dann auch frühnationalistische Judenfeinde sich zu Wort melden, taucht die Wiedergabe von dem, was man für "Judendeutsch" hält, als ein Stilmittel der Verächtlichmachung auf.12 (Freilich ist bei einer Beurteilung entsprechender Literaturpassagen Vorsicht angesagt; nichtjüdische Dichter "müssen" sich bei Sprechanteilen ja meist ohne besondere Kompetenzen etwas "Jiddisches" zusammenreimen.) Viel später will dann Alfred Götze (1876-1946), ein führender Germanist im "Dritten Reich", die Sprache von Wörtern aus dem "jüdischen Verbrechertum" bereinigt sehen.13 Während sich der Allgemeine Deutsche Sprachverein als "SA unserer Muttersprache" anpreist, unterstellt man missliebigen Dichtern wie Thomas Mann oder Stefan Zweig ein "geheimes Jiddisch" und kann ein deutscher Studienrat über ein Gedicht von Heinrich Heine allen Ernstes schreiben: "Die Wortstellung ist viermal ganz jüdisch".14 (Peter Bürger)