"Uns’re Lait werden dann Schossehstein klöppern"
Sonntagmorgen: "Wir sind am End’ noch Juden miteinander"
- "Uns’re Lait werden dann Schossehstein klöppern"
- Reuter, der "Judenfreundlichkeit" verdächtig?
- Sonntagmorgen: "Wir sind am End’ noch Juden miteinander"
- Nachtrag: "Ist Plattdeutsch vielleicht ein judenfeindliches Medium?"
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Anfang des 19. Jahrhunderts lebte eine sehr große Mehrheit der Juden "auf oder unter dem Existenzminimum. Abgesehen von einer kleinen Mittelschicht, schlugen sich vor allem auf dem Land die meisten Juden als Bettler, Hausierer, Klein- und Trödelhändler durch. […] Während 1830 noch 50 % der preußischen Juden ‘Nothandel’ betrieben, waren es 1870 nur noch 10 %. Innerhalb weniger Jahrzehnte gelang fast zwei Dritteln der Aufstieg ins Bürgertum"7. Viele deutsch-christliche Konservative hätten es wohl gerne beim Stand von 1830 belassen, für den auch der "Lüerlüttje Kaneeljud’" steht.
Groths "Quickborn" von 1852/53 enthält außerdem noch das Gedicht De Sünndagmorgen, in dem folgende Passage zu lesen ist:
Mi sünd de Lüd to happi un to hasti;
Mit stille Arbeit kumt keen Minsch mehr doer,
De lüttste Natelhandel is nu bèter.
Wi ward am Enn’ noch Juden mit enanner;
Wer arbeidn will, is redi blot Maschin.
Un doch is mi am glücklichsten to Mot,
Wenn’k Dag an Dag so rech de Glieder bruk,
De ganze Wèk int Wirken un alleen,
Un as de Moelenpèrd int sülwe Spor
Un eenerlei as voerjahrs bi den Törf.
Denn gat de Been un Arm èrn egen Gank
Un de Gedanken still un sach èrn annern,
De strid sik nie, dat Hart is so gesund,
Un dat Gewèten röhrt sik nich in Bossen.
Wolfgang Näser bietet zu diesen Zeilen in seiner hochdeutschen Gedichtübertragung folgende Übersetzung:
Mir sind die Menschen viel zu gierig und zu hastig;
Mit stiller Arbeit kommt kein Mensch mehr aus;
Der kleinste Trödelhandel ist nun besser.
Wir sind am End’ noch Juden miteinander,
Und die Maschin’ ist dann die letzte, die noch schafft.
Und doch ist mir am glücklichsten zu Mut’,
Wenn ich die Glieder brauche Tag für Tag,
Die ganze Woche schaffe und sonst nichts
Und wie das Mühlpferd in derselben Spur
Und einerlei wie frühjahrs mit dem Torf.
Dann gehn die Arm’ und Beine ihren Gang
Und die Gedanken still und sacht den andern;
Uneinig sind sie nie, das Herz ist so gesund,
Und das Gewissen rührt sich nicht im Busen.
"Juden" stehen hier für eine neue Mentalität des Handels- und Maschinenzeitalters, für eine Geschäftigkeit, die in Wirklichkeit kein produktives Arbeiten mehr ist. Vermutlich klingt im Gedicht ein judenfeindliches Argumentationsmuster mit, das die historischen Hintergründe typischer Erwerbstätigkeiten von Juden auf den Kopf stellt und auch die bedeutsamste Aufstiegschance der Minderheit im Industriezeitalter, die sich auf geschichtlicher Erfahrungsbasis anbietet, verleugnet: "Juden handeln, weil sie sich vor ‘echter Arbeit’ drücken wollen." (Nebenbei sei angemerkt: Hausiererhandel mit mobilem Kaufmannsladen ist Knochenarbeit!)
Die bäuerliche Lebensordnung, in der es Beharrlichkeit, die schwere körperliche Anstrengung und den geheiligten Sonntag gibt, bricht auseinander. (Man darf wohl fragen, wie viele Christen um 1853 den Sonntag ähnlich heiliggehalten haben wie die allermeisten Juden den Sabbat.) Eine Umwandlung menschlicher Beziehungen in Warentauschverhältnisse findet statt, und das wird bei Groth als "jüdisch" qualifiziert: "Wi ward am Enn’ noch Juden mit enanner [Wir sind am End’ noch Juden miteinander]". Schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts kündigt sich mit dieser Zeile jener Komplex von Zivilisationskritik und Kulturpessimismus der nachfolgenden Jahrzehnte an, in dem der Antisemitismus fest verankert sein wird.
John Brinkmans "Mottche Spinkus"
Als letztes Mundartklassiker-Beispiel nenne ich nun die plattdeutsche Novelle Mottche Spinkus un de Pelz von John Brinckman (1814-1870). Diese ist angesiedelt "im jüdischen Milieu der mecklenburgischen Kleinstadt Güstrow in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts" (Wolfgang Rieck). Der Hinstorff-Verlag bewirbt eine Hörbuch-Edition von Wolfgang Rieck so:
John Brinckman lieferte mit "Mottche Spinkus un de Pelz" viel mehr als nur eine Milieustudie aus dem jüdischen Gemeindeleben und aus dem alltäglichen Leben um ihn herum. Das jüdische Leben in Mecklenburg hatte seine Sympathie und deshalb war es für Brinckman als Erzählgegenstand interessant.
Kurt Batt, ehemaliger Lektor des Verlages, bezeichnet die Erzählung als "das kunstvollste Stück Prosa, das jemals in plattdeutsch geschrieben wurde". Der vollständige Text, zuerst 1886 - sechszehn Jahre nach dem Tod des Dichters - bei Werther in Rostock noch mit der Schreibweise "Mottje" ediert, ist im Internet über das Gutenberg-Projekt leicht zugänglich. Genau besehen handelt es sich bei dieser Novelle um die äußerst liebenswürdige Verarbeitung eines Erzählstoffes, der uns schon in dem oben genannten Schwankgedicht Ein Schmuh (1858) von Fritz Reuter begegnet ist (die allzu positive Bezugnahme auf Ein Schmuh bei Hans Otto Horch würde erst plausibel, wenn Horch in Wirklichkeit an Brinckmans Novelle gedacht hat):
Mottche Spinkus, im Gegensatz zu seinen beiden Söhnen Simon und Heimann noch ein orthodoxer, nicht assimilierter Jude, war ehemals ein wendiger Händler, arbeitet aber jetzt als Schächter für die Synagogengemeinde zu Nebelow. Er trägt einen uralten, verschlissenen Kutschermantel, in den er rein vernarrt ist, und das sogar zum allgemeinen Ärgernis an hohen Festtagen. Die beiden Söhne wollen Vaterleben nun zu einem warmen, ansehnlichen Pelzmantel verhelfen und hoffen deshalb auf ein gutes Gelingen ihrer unterschiedlichen Spekulationsgeschäfte (freilich käme es beiden wohl durchaus gelegen, wenn der jeweils andere Bruder den Liebesdienst übernimmt).
Auch weil sich die Brüder nicht richtig verständigen oder aus strategischen Gründen vorerst noch abwarten, kaufen dann am Ende beide unabhängig voneinander einen teuren Pelzmantel für den Vater. Unter Einhaltung jüdischer Gesetzesvorschriften und aus Achtung vor der Ehre des wenig betuchten Mottche Spinkus lassen sie ihren Vater jeweils für den Pelz bezahlen (bei der Einfädelung dieses vorgetäuschten Geschäftes geben sie nur einen Bruchteil des von ihnen wirklich bezahlten Kaufpreises an). Mottche Spinkus denkt freilich gar nicht daran, die Pelze statt seines schäbigen, geliebten Mantels anzuziehen, sondern verkauft sie postwendend weiter. Da er sich im Handelsgeschäft schon lange nicht mehr auskennt und ja auch eine völlig falsche Preisvorstellung bezüglich der teuren Pelze hat, ist das hierbei erzielte Ergebnis natürlich haarsträubend schlecht.
Die Verwicklung wird perfekt. Vaterleben glaubt, er habe den Söhnen die Pelze fair bezahlt und danach mit seiner größeren Händlerkunst ein noch viel besseres Geschäft gemacht als diese. Die Söhne erkennen, wie ihr aus Sohnesliebe investiertes Geld gleich zweimal zum Schornstein rausgeflogen ist, und müssen am Ende sogar miterleben, dass ausgerechnet zwei ihrer Familie gegenüber offenbar missgünstig gestimmte Honoratioren die dem Vater zugedachten Pelze in der Synagoge tragen: "Kann so was aber passieren, und hat es müssen passieren, so kann es auch nur passieren ainzig und allain die Spinküsen!"
Mottche Spinkus trägt einen grauen Ziegenbart und hat einen langen Nasenzipfel (und so zeigt es der Hinstorff-Verlag auch auf der Hülle seiner Hörbuch-Edition). Juden spekulieren, handeln und feilschen um "Mauses und die Propheten" in dieser Novelle: "Wo soll es kümmen her, wenn es nich kümmt von das Geschäft?" Über die verschiedensten Charaktere in der alten Synagoge zu Nebelow oder die jeweils wirklich sehr persönlich aufgefassten Deutungen der Auslegungen zum Purimfest lästert und schmunzelt Brinckman mit völliger Unbefangenheit, bisweilen wie ein "Insider" (es bleibt dabei meistens dem Leser überlassen, die Parallelen zur christlichen Gemeinde und ihrer Obrigkeit selbst zu entdecken). Und doch spürt jeder, dass der Dichter nichts gemein hat mit den Häßlichkeiten, die er dem Goi Kürschner Plaß in den Mund legt: "Nee, is nich, Jud, is nich! Schmeiß ihn raus, den Juden Itzig!"
Gegen alle Oberrabbiner und den gesamten Oberkirchenrat hält Brinckman fest, was er als Christ von der hebräischen Bibel weiß. Nie fiele es ihm ein, die Juden und ihren Ritus schlecht zu machen - selbst wenn, was wohl nie eintreffen wird, der Bankier Meyer Amschel Rothschild halb mit ihm teilen würde ("… un de Juden un ehren Ritus hier slicht maken tau wœlen, dat ded ick jo nich, un wenn Amschel Rothschild mi half afgäwen wull"). Bei der Thematisierung des Generationenwandels - vom orthodoxen hin zum sehr assimilierten Judentum - maßt sich John Brinckman keine moralisierenden Richtersprüche aus konservativer oder aufgeklärter Perspektive an. Aber unausgesprochen erfahren wir bei ihm noch eine einfache Wahrheit, die bald nach seinem Tod aus sehr vielen deutschen Köpfen verdrängt werden sollte: Das Judentum ist keine Rasse, sondern eine Religion.
Durch Brinckmans Werk Mottche Spinkus un de Pelz kann man vorzüglich lernen, dass die Verwendung bestimmter Stereotypen und Klischees oder der Einsatz sprachlicher Übertreibungen auch in Texten vorkommen können, deren Zielrichtung ganz und gar nicht judenfeindlich ist. Darf man die plattdeutschen Dichtungen Reuters und anderer Autoren stets an Brinckmans warmherziger Sympathie messen? Vielleicht nicht. Die Novelle vermittelt auf jeden Fall Kriterien für eine Scheidung der Geister: Im humorvollen Literaturgenre werden, je nachdem ob die menschliche Solidarität oder das feindselige Vorurteil im Hintergrund waltet, die Lästereien ganz unterschiedlich ausfallen.