Ukraine-Krieg: Wer fliehen darf, wer kämpfen muss

FDP fordert Aufnahme russischer Deserteure, ukrainische Männer ignoriert sie. Das ist bezeichnend für den deutschen Tunnelblick auf Krieg und Menschenrechte
Humanistische Organisationen und Gruppierungen der Friedensbewegung haben kritisch auf einen Vorstoß aus der FDP-Bundestagsfraktion reagiert, Soldaten der russischen Armee über ein bevorzugtes Asylverfahren zur Fahnenflucht zu bewegen.
Bei einer entsprechenden der Initiative hatte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Johannes Vogel, ukrainische Kriegsdienstverweigerer offensichtlich nicht einbezogen, obgleich die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Ausreisesperre für Männer zwischen 18 und 60 Jahren erlassen hat und es schon vor dem russischen Angriff auf das osteuropäische Land Berichte über Zwangsrekrutierungen gab.
Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hatte den 39-jährigen liberalen Bundestagsabgeordneten Vogel diese Woche unter Berufung auf ein Hintergrundgespräch mit der Einschätzung zitiert, die Aufnahme von russischen Deserteuren könne "auch ein Beitrag zur Schwächung der russischen Truppen in der Ukraine" sein.
Dass Vogel, der auch Vizevorsitzender seiner Partei ist, seinen Vorschlag mit einer intendierten Einflussnahme auf das Kriegsgeschehen und nicht humanistisch begründete, traf bei zivilgesellschaftlichen Akteuren auf Kritik.
"Wir fordern offene Grenzen und Unterstützung aller Kriegsdiensverweigererinnen und Kriegsdienstverweigerer sowie Deserteurinnen und Deserteure - egal welcher Seite im Konflikt sie angehören", sagte gegenüber Telepolis der politische Geschäftsführer der Friedensorganisation DFG-VK, Michael Schulze von Glaßer.
Niemand dürfe gezwungen werden, eine Waffe in die Hand zu nehmen und andere Menschen töten zu müssen, fügte er an: "Wir verurteilen den völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine. Die Reaktion der ukrainischen Regierung, Männer zwischen 18 und 60 Jahren nicht mehr ausreisen zu lassen, lehnen wir dennoch ab."
Jeder Mensch müsse die Möglichkeit haben, vor dem Krieg zu fliehen und Schutz zu finden, schließlich sei Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht, so der Vorsitzende der 1892 gegründeten Friedensorganisation.
Berichte über Zwangsrekrutierung in Ukraine ignoriert
Die Bundesregierung bemüht sich nach Angaben des Spiegel um eine "unkomplizierte Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine". Um Chaos und lange Wartezeiten zu vermeiden, habe das Bundesinnenministerium den Behörden der Länder Regeln für eine vereinfachte Registrierung von Kriegsflüchtlingen an die Hand gegeben.
Dass unter den inzwischen mehr als 160.000 Geflüchteten vor dem russischen Angriffskrieg auch einige Kriegsdienstverweigerer sein dürften, liegt auf der Hand, wird aber medial und politisch kaum thematisiert – obwohl es dafür gute Gründe gäbe.
So gehen die Behörden in Tunesien Berichten nach, denen zufolge Staatsangehörige des nordafrikanischen Landes, die in der Ukraine inhaftiert waren, zwangsrekrutiert wurden, um Verbände gegen die russischen Invasoren zu verstärken. Dies habe das tunesische Außenministerium zu Beginn der vergangenen Woche bestätigt, so die panarabische Tageszeitung Asharq al-Awsat.
In Spanien hatte es schon zu Jahresbeginn eine Debatte gegeben, nachdem der Oberste Gerichtshof Asyl- und Schutzanträge von Kriegsdienstverweigerern aus der Ukraine verweigert hatte. "Das Innenministerium und die Gerichte lehnen praktisch alle Asylanträge oder irgendeine Art von internationalem Schutz ab", hieß es dazu in der Tageszeitung El Mundo.
"Wenn der Militärdienst im Herkunftsland des Antragstellers verpflichtend ist, kann niemand erwarten,, dass dieses Gericht die Verletzung dieser Bürgerpflicht befürwortet", zitierte das Blatt einen entsprechenden Beschluss.
Der Vorstand der in Nürnberg ansässigen Humanistischen Vereinigung, Michael Bauer, sieht vor diesem Hintergrund Gründe für eine Aufnahme ukrainischer Kriegsdienstverweigerer. "Niemand sollte zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Dergleichen wäre mit einer humanistischen Haltung nicht vereinbar", so Bauer gegenüber Telepolis.
Es auch andere Wege, um einen Beitrag zum Schutz und zur Sicherheit des Landes zu gewährleisten, wenn dies aus legitimen Gründen, wie sie im Fall der Ukraine vorliegen, erforderlich ist. Zunächst hatte sich die Humanistische Vereinigung in einer Pressemitteilung auch lediglich für die Aufnahme russischer Deserteure ausgesprochen.
US-Presse mit differenzierterem Blick
Auf die Nachfrage zum Umgang mit männlichen Geflüchteten aus der Ukraine ergänzte Bauer, nicht jeder Beitrag zur Landesverteidigung müsse bewaffnet erfolgen:
Daher ist es auch unter den Bedingungen einer allgemeinen Dienstverpflichtung im Kriegsfall gefordert, den Betreffenden aus Gewissensgründen zu ermöglichen, einen nichtbewaffneten Beitrag zu leisten. Wird diesem Erfordernis nicht Raum gegeben, dann erhält die aktive Verweigerung dieses Kriegsdienstes Aspekte, die Schutz und Asyl rechtfertigen.
Michael Bauer, Vorstand der Humanistischen Vereinigung
Der ungleiche migrationspolitische Umgang mit Männern aus Russland und der Ukraine zeigt gleichsam den politischen Tunnelblick wie auch die gewollte politische Einflussnahme. Beachtlich dabei: In der US-Presse werden die Widersprüche mitunter differenzierter abgebildet.
Die US-Tageszeitung New York Times etwa porträtierte in einem Podcast unlängst neben einem IT-Fachmann aus Charkiw und einem Freiwilligen der Verteidigungstruppen auch den Kriegsdienstverweigerer Tyhran, einen Animateur, der erfolglos versuchte, sich mit der Flucht nach Polen der Zwangsrekrutierung zu entziehen.
"An den Grenzübergängen zwischen der Ukraine und seinen westlichen Nachbarländern spielen sich aktuell dramatische Szenen ab: Väter und Söhne dürfen ihre Mütter und Schwestern nicht auf der Flucht begleiten und werden von ukrainischen Regierungstruppen zurückgehalten", bestätigt auch Schulze von Glaßer:
Familien werden zerrissen. Unbestätigten Meldungen zufolge sollen sogar schon Ukrainer, die trotz des Ausreiseverbotes versuchten das Land zu verlassen, an der Grenze von ukrainischen Landsleuten erschossen worden sein. Auch von Erschießungen russischer Deserteure durch die eigenen Leute gibt es bereits zahlreiche unbestätigte Meldungen.
Schulze von Glaßer, Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK)
Dass aktuell von einigen Politikern der Bundesregierung und der EU geplant wird, russischen Soldatinnen und Soldaten, die sich dem Krieg verweigern, Aufnahme und Schutz zu gewähren, begrüßt die traditionsreiche Friedensorganisation. "Dies muss aber auch für die ukrainische Seite gelten", so Schulze von Glaßer.
Für die Humanistischen Vereinigung weist Bauer allerdings auch auf die unterschiedliche Lage von Kriegsdienstverweigerern aus Russland und der Ukraine hin:
Im ersten Fall verweigern es die Betroffenen, sich an einem aggressiven Angriffskrieg zu beteiligen. Dieser ist eindeutig völkerrechtswidrig, und es steht bereits der begründete Verdacht auf mehrfache Kriegsverbrechen im Raum. Hier ist die moralische Beurteilung einer Kriegsdienstverweigerung klar, allein schon deshalb, weil es aus ethischer Sicht keine guten Gründe für die Mitwirkung an diesem Kriegseinsatz gibt.
Im zweiten Fall geht es um die Verweigerung der Verteidigung des eigenen Landes, das von einem äußeren Aggressor bedroht wird, mit der Waffe. Hier bedarf es einer differenzierten Abwägung.
Aus ethischer Sicht ist es durchaus möglich gute Gründe zu finden, die eine bewaffnete Verteidigung des eigenen Landes rechtfertigen. Dies gilt auch für den Imperativ, an der Verteidigung gegen einen Aggressor grundsätzlich mitzuwirken zu müssen. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass es einen ethisch begründeten Zwang für jedermann gibt, dies mit der Waffe in der Hand zu tun.
Michael Bauer, Vorstand der Humanistischen Vereinigung
Der Vizevorsitzende der FDP, Johannes Vogel, mochte sich mit diesen Widersprüchen und Hausforderungen der Debatte zunächst nicht weiter befassen. Eine Anfrage von Telepolis, ob er eine bevorzugte Behandlung auch für Kriegsdienstverweigerer oder Deserteure aus der Ukraine zwischen 18 und 60 Jahren anstrebe, ließ Vogels Büro trotz mehrfacher Nachfrage unbeantwortet.