Ukraine-Krieg: Russische Armee rückt im Donbass vor
Ukrainischer Soldat mit einem Gewehr in einem Graben in der Region Donezk, Ukraine. Bild: Drop of Light / shutterstock.com
Ukraine verliert Verteidigungsstellungen. Das Thema Verhandlungen wird neu in die Debatte geworfen. Eine Einschätzung.
Trotz milliardenschwerer Unterstützung der ukrainischen Verteidiger aus dem Nato-Block rückt die russische Armee im Land immer weiter vor, wie etwa die Tagesschau meldet. Falls tatsächlich bereits Waffen und Munition aus den diversen Hilfspaketen der Nato angekommen sein sollten, so ist aktuell noch kein deutlicher Effekt auf dem Schlachtfeld erkennbar.
Bei ihren Angriffsbemühungen konzentrieren sich die russischen Streitkräfte hauptsächlich auf mehrere Achsen im Raum Donbass. Im südlichen Bereich der Front, im Raum Cherson, hat sich die ukrainische Armee nach eigenen Angaben vom östlichen Dnjepr-Ufer zurückgezogen.
Brückenköpfe im Dorf Krynky
Dort hatte die ukrainische Führung im vorigen Oktober Marinesoldaten über den Strom geschickt und einen der Brückenköpfe im Dorf Krynky bis jetzt gehalten. Die Truppen wurden mit kleinen Booten übergesetzt.
Von der Operation wurde an dieser Stelle bereits berichtet und der fragliche militärische Nutzen der Aktionen diskutiert.
Aufgrund der russischen Überlegenheit in den Bereichen Artillerie, Drohnen und Luftwaffe in Verbindung mit fehlenden Nachschubmöglichkeiten waren hier keine Erfolgsaussichten erkennbar.
Verluste der Ukraine
Nach ukrainischen Angaben haben die eigenen Streitkräfte über 1.000 Soldaten verloren. Der britische Telegraph spricht von einer Suizid-Mission.
Ohne erkennbaren militärischen Sinn kann über die Absichten der ukrainischen Führung nur spekuliert werden. Es liegt nahe, dass es sich um eine PR-Aktion gehandelt hat, eine Verzweiflungstat, so der Telegraph:
Ukrainische Militärs räumten ein, dass ihre Stellungen in Krynky "vollständig zerstört" worden seien, dementierten aber weitergehende Berichte, wonach die ukrainischen Streitkräfte aus dem Gebiet abgezogen worden seien.
Der Vorstoß über den Fluss wurde weithin als verzweifelter Versuch ukrainischer Politiker gewertet, den westlichen Unterstützern Kiews zu zeigen, dass die ukrainischen Streitkräfte am Ende der gescheiterten Gegenoffensive im Sommer 2023 Fortschritte machen können.
Soldaten, die an dem Vorstoß teilnehmen, der eine 30- bis 60-minütige Bootsfahrt durch offenes Wasser unter dem Beschuss russischer Drohnen erfordert, haben ihn zuvor als "wie ein Stück Fleisch den Wölfen vorgeworfen" bezeichnet.
Telegraph
Nach Angaben von Osint-Quellen sollen die russischen Streitkräfte laut Telegraph 271 militärische Ausrüstungsgegenstände verloren haben, die ukrainische Seite nur 58.
Dazu muss allerdings gesagt werden, dass zum einen die ukrainische Seite kein militärisches Großgerät im Bereich von Krynky zum Einsatz bringen konnte und ausschließlich mit Infanterie kämpfen musste.
Soldaten und Gerät
Zudem ist die vielzitierte Osint-Quelle Oryx nach Erfahrungen des Autors öfter unzuverlässig in ihren Zählungen und muss deshalb mit großer Vorsicht gelesen werden. Oryx zählt zum Beispiel lediglich beschädigtes Equipment häufig als Totalverlust, schreibt Fahrzeuge ohne erkennbare Hoheitszeichen als russische Verluste ab oder verwendet Bilder, auf denen man seriös nichts erkennen kann, die als russischer Verlust gewertet und dargestellt werden.
Doch Geräte kann man ersetzen. Was schwerer wiegt für die ukrainischen Streitkräfte, ist der Verlust an Menschenleben. An trainierten Soldaten. Hier hat die Ukraine große Schwierigkeiten, die Verluste an der Front zu ersetzen, geschweige denn, Reserven aufzubauen.
Gebietsgewinne der ukrainischen Offensive zurückerobert
Aktuell ist es an der südlichen Front im Bereich Saporischschja ruhig, nachdem russische Truppen dort Urozhaine eingenommen hatte. Damit konnte die russische Armee fast alle Gebietsgewinne, die die ukrainischen Streitkräfte in ihrer gescheiterten Sommeroffensive erzielen konnten, wieder zurückerobern.
Auch weiter östlich, am östlichsten Eckpfeiler der ukrainischen Verteidigung, der Bergarbeiterstadt Wuhledar, gelang es den russischen Kräften, weiter vorzurücken.
Wuhledar
Wuhledar ist eine zur Festung ausgebaute Kleinstadt, eine sowjetische "Siedlung städtischen Typs". Sie besteht fast ausschließlich aus Dutzenden von großen Wohnblöcken, die sich durch eine sehr massive Bauweise auszeichnen und daher für die Verteidigung besonders geeignet sind.
Die russischen Streitkräfte versuchen seit Ende 2022, die Stadt einzunehmen. Dabei kam es zu verhältnismäßig hohen Verlusten auf Seiten der Angreifer, die Osint-Plattform "Warspotting" zählt 59 verlorene Panzerfahrzeuge.
Seit einigen Monaten versucht die russische Militärführung jetzt eine andere Taktik. Statt die gut befestigte Stadt frontal anzugreifen, geht man über die Flanken und strebt danach, die Stadt vom Nachschub abzuschneiden, eine Taktik, die sowohl im Kampf um Awdijiwka als auch in Bachmut aufging.
Schon seit längerem haben russische Streitkräfte das nur einen Kilometer südlich gelegene Dorf Pawliwka erobert und so die südliche Nachschubstrecke abgeschnitten.
Übrig bleibt als einzig leistungsfähige Straße die O0532, die in nordöstliche Richtung nach Kostyantynivka führt. Genau diese Straße ist jetzt bedroht. Die russische Armee ist auf Höhe der Abraumhalde nur noch gut 1,5 Kilometer von der Strecke entfernt. Vorige Woche konnte ein gepanzertes Fahrzeug Russlands sogar die Straße erreichen, wurde aber dann abgeschossen. Doch der Vorfall zeigt, dass die ukrainischen Linien hier dünn besetzt sind.
Es gibt allerdings noch einen befestigten Feldweg, über den Nachschub für die ukrainische Garnison in Wuhledar laufen kann, und zwar verläuft dieser etwa einen Kilometer westlich von der belagerten Stadt in nördliche Richtung direkt nach Bohoyavlenka.
Die ukrainischen Logistiker haben drei unbefestigte Feldwege von jeweils einem Kilometer Länge zur Verfügung, um die befestigte Fahrbahn nach Bohoyavlenka zu erreichen. Ideal ist das nicht, im Sommer aber durchaus machbar. Nur in der Regen- und Schlammzeit wird dieser eine Kilometer unbefestigter Feldweg zu einem großen Problem.
Russische Armee: Warten auf die Regenzeit?
Daher ist zu erwarten, dass sich die russische Führung Zeit lässt mit einem Angriff auf die Bergarbeiterstadt, bis die Regenzeit einsetzt. Es ist davon auszugehen, dass bis dahin die O0532 in Richtung Kostyantynivka unterbrochen sein wird und nur noch die drei während der Schlammperiode praktisch unpassierbaren Feldwege für die Versorgung von Wuhledar zur Verfügung stehen.
Die Eroberung Wuhledars würde für die Ukraine den Verlust einer über die Jahre stark ausgebauten Verteidigungsstellung bedeuten.
Auch Kostyantynivka steht kurz vor der Eroberung durch die russische Armee. Hier konnte man in den vergangenen Wochen bereits das nur 1,5 Kilometer weiter östlich gelegene Dorf Paraskoviivka einnehmen. Die Kämpfe ruhen hier allerdings zurzeit.
Kämpfe im Großraum Donezk
Die heftigsten Kämpfe finden im Moment im Großraum Donezk statt. Westlich der jetzt russischen Großstadt konnten sich russische Truppen im westlichen Teil des Dorfes Maksymil'yanivka festsetzen, nachdem das nur wenige hundert Meter östliche gelegene Dorf Heorhiivka eingenommen wurde.
Bevor die russischen Streitkräfte hier weiter vorrücken, scheint die russische Führung die Flanke westlich von Heorhiivka sichern zu wollen.
Nur sieben Kilometer weiter nordöstlich liegt die Kleinstadt Krasnogorowka, die vor den Kämpfen rund 16.000 Einwohner hatte. Diese steht jetzt kurz vor der kompletten Einnahme durch die russische Armee, über 80 Prozent sind bereits erobert, ukrainische Kräfte halten nur noch einen kleinen Bereich mit Einfamilienhäusern im Nordwesten des Städtchens besetzt.
Erste und zweite ukrainische Verteidigungslinie
Mit der Einnahme Krasnogorowka wäre westlich von Donesk die gesamte erste Verteidigungslinie durch russische Kräfte eingenommen. Die russische Armee könnte dann verhältnismäßig einfach rund sechs Kilometer weiter nach Westen vorrücken, bis zum Beginn der zweiten Verteidigungslinie gibt es keine Fortifikationen oder Siedlungen mehr, nur offenes Feld.
Weiter nördlich im Bereich Otscheretyne gelang es der russischen Führung, das Dorf Prohres einzunehmen. Hier befindet man sich bereits in der zweiten Verteidigungslinie der ukrainischen Armee. Dort befinden sich zahlreiche befestigte Stellungen der ukrainischen Streitkräfte, Russland rückt hier langsam vor. Trotzdem konnte man seit der Eroberung Awdijiwkas hier bereits 17 Kilometer vorrücken.
Rund 17 Kilometer weiter nordöstlich haben russische Kräfte die Verteidigungslinien in Niu-York (Novhorodske) durchbrochen und stehen jetzt nur 400 Meter vom dortigen Chemie-Werk entfernt, welches sich mitten im Zentrum der Kleinstadt befindet.
Hier hatten russische Mineure einen Tunnel bis hinter die ukrainischen Verteidigungsanlagen gegraben, ganz ähnlich wie im südlichen Teil von Awdijiwka vor einigen Monaten. Dadurch konnten russische Truppen relativ schnell bis zum Stadtzentrum vorstoßen und auch die Wohnblocksiedlung im Westen bereits erobern.
Auch die Stadt Torezk ist bedroht. Sie liegt nur gut vier Kilometer nördlich von Niu-York und hatte vor der Ukraine-Intervention knapp 34.000 Einwohner. Und auch hier gelang es russischen Mineuren laut Suriyak einen Tunnel unter den Verteidigungsstellungen zu graben und so Kleinstädte östlich der Stadt einzunehmen.
Der Einsatz von Mineuren ist bemerkenswert, ein massiver Einsatz dieser speziellen Pioniere ist zuletzt aus dem Ersten Weltkrieg bekannt.
Ein weiterer Schwerpunkt der Kämpfe ist bei Kupjansk zu erkennen, auch hier kommt es zu einem langsamen Vorrücken der russischen Kräfte.
Militärische Situation nördlich von Charkow
Bemerkenswert ist die militärische Situation nördlich von Charkow. Hier behauptet etwa das ZDF, dass die dortige russische Offensive gescheitert sei und zitiert dazu den Politikberater und Transatlantiker Nico Lange.
Die ukrainischen Streitkräfte haben dort tatsächlich lokal mindestens eine dreifache Überlegenheit an Truppen. Dennoch gelingt es russischen Truppen, im Stadtzentrum weiter vorzurücken. In dem ganzen Abschnitt hat die russische Führung laut der ukrainischen Webseite Militaryland nur mit einer Brigade und fünf Regimentern angegriffen, eine sehr kleine Streitkraft also, die nicht die Absicht erkennen lassen kann, tatsächlich die Großstadt Charkow einnehmen zu wollen.
Die Offensive kann nach Auffassung des Verfassers dieses Beitrags deshalb aus zwei Gründen nicht eilfertig als gescheitert angesehen werden:
Erstens gelingt es den zahlenmäßig weit überlegenen ukrainischen Kräften nicht, die russischen Angreifer aus Woltschansk zu vertreiben, sondern sie befinden sich stattdessen im Zentrum der Stadt sogar in der Defensive.
Zweitens müsste ein behauptetes Scheitern der Offensive deren operatives Ziel kennen. Wenn fälschlicherweise behauptet wird, wie es das ZDF im oben verlinkten Artikel tut, dass das Operationsziel die Einnahme Charkows gewesen ist, dann kann man in der Tat von einem Scheitern sprechen.
Es gibt jedoch noch eine andere, wahrscheinlichere strategische Perspektive.
Strategische Ziele
Mit großer Wahrscheinlichkeit lässt sich jedoch behaupten, dass die Eroberung Charkows angesichts der kleinen russischen Streitmacht nicht das Ziel der russischen Führung gewesen sein kann.
Vielmehr lassen sich zwei Operationsziele annehmen. Einmal, die ukrainische Armee im Raum Charkow zu binden.
Die ukrainische Führung hat keine strategischen Reserven mehr zur Verfügung, Truppenteile müssen aus anderen Frontabschnitten herausgelöst werden, und genau dies ist passiert, so lassen sich auch zu einem gewissen Teil die Erfolge der russischen Armee im Donbass erklären.
Zum anderen verfolgt die russische Führung nicht das strategische Primärziel von Gebietseroberungen, sondern die russische Führung führt einen Abnutzungskrieg, bei der Gebietseroberungen nicht im Fokus sind.
Vielmehr geht es darum, der generischen Partei einen möglichst hohen Schaden zuzufügen bei gleichzeitiger Schonung der eigenen Kräfte.
Zwar wird weiterhin in einigen Medien das Nato-Narrativ von russischen "Fleischangriffen" verbreitet. Ob diese stattfinden, ist eine offene Frage, die der Autor nach seiner Einschätzung der russischen Vorgehensweise verneint.
Seine Argumente: Die Charkow-Offensive wäre ein gutes Beispiel für die Angriffstaktik der russischen Führung, die man als das Schaffen von Niedrigintensitäts-Angriffsräumen beschreiben könnte, in der nur wenige eigene Truppen eingesetzt werden und stattdessen auf die Wirkung überlegener Fernwaffen wie Artillerie, Raketenartillerie und die Gleitbombenkampagne gesetzt wird.
In diesem Zusammenhang kann man einen neuen Forbes-Bericht aus der vorigen Woche lesen, der die russischen Artilleriestreitkräfte als die stärksten der Welt beschreibt:
Inzwischen verfügt das russische Militär über mehr Artillerie als jedes andere Militär der Welt und hat dreimal mehr Artilleriegeschütze als das Militär der Vereinigten Staaten.
Forbes
Zudem habe Russland die Möglichkeiten, seine hohe Feuerrate von 10.000 Artilleriegranaten pro Tag allein durch die eigene Produktion aufrechtzuerhalten:
Darüber hinaus verfügt die russische Rüstungsindustrie über ein robustes Versorgungsnetz für die Herstellung von Artilleriegeschossen und hat nach Schätzungen des NATO-Geheimdienstes, über die CNN berichtet, eine Produktionskapazität von 250.000 Stück pro Monat, die mit der Verbrauchsrate des Militärs mithalten kann.
Forbes
So zeigt sich in der Rede vom russischen Scheitern der Operationen im Bereich Charkow derzeit mehr ein Wunsch als die Realität.
Das Gesamtkonzept eines Abnutzungskrieges, der im Kern ein Produktionskrieg ist, umfasst außerdem wesentlich die strategische Luftkampagne, die darauf abzielt, die Regenerationsfähigkeit der ukrainischen Armee zu unterbinden.
Ausblick: Lage der Ukraine bleibt sehr schwierig
Die Lage der Ukraine ist weiterhin verzweifelt, und das trotz der mit großer Hoffnung erwarteten neuen Waffenhilfe durch die Nato. Trotz Milliarden an westlicher Militärhilfe gelingt es den ukrainischen Streitkräften nicht, das Vorrücken der russischen Armee aufzuhalten.
An dieser Stelle kann man nach der Wirkung der Wunderwaffen, Atacms, Storm Shadow, Scalp oder Himars fragen, die das Kriegsglück zugunsten Kiews wenden sollten. Es gibt nur noch wenig dokumentierte Erfolgsmeldungen über Einsätze dieser Waffen, trotzdem vor allem neue Himars und Atacms geliefert wurden.
Die Situation scheint sich nicht verändert zu haben, seit diese Waffen auf russisches Gebiet zum Einsatz gebracht werden dürfen – ein messbarer Erfolg ist bisher gänzlich ausgeblieben.
Auch neu versprochene Flugabwehr zeigt keinerlei offensichtliche Wirkung, die strategische Luftkampagne Russlands geht unvermindert weiter.
Sollten Städte wie Wuhledar, Niu-York oder Torezk in die Hände der russischen Armee fallen, würde das nicht nur den Verlust von gut ausgebauten Verteidigungsstellungen bedeuten, sondern auch einen nicht zu unterschätzenden moralischen Effekt auf die Truppen Kiews haben.
Die ukrainische Führung signalisiert deswegen überraschend Gesprächsbereitschaft mit Russland. Das sind Signale, die in der Vergangenheit ausgeblieben sind.
Der Guardian zitiert den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit den Worten, dass russische Vertreter an einem zweiten Friedens-Gipfel teilnehmen sollten.
Ob sich Russland angesichts der eigenen militärischen Erfolge und der Unnachgiebigkeit der USA gegenüber russischen Sicherheitsinteressen tatsächlich verhandlungsbereit zeigen wird, kann bezweifelt werden.