Ukraine-Krieg: "Nun sind die Europäer gefordert, eine größere Rolle zu spielen"

Lars Lange

Bild: Oberst Reisner.

2024 wird zum Kulminationspunkt des Krieges. Wo die Wunderwaffe gesucht wird, welche Faktoren entscheiden, Erfolge der Ukraine und Aussichten für den Westen. Interview mit Oberst Reisner.

Markus Reisner ist ein von Medien viel gefragter Militärexperte. Der Oberst des Generalstabsdienstes des österreichischen Bundesheers hat praktische Erfahrung. Er war fast ein Jahrzehnt bei österreichischen Spezialkräften (Jagdkommando) tätig. Zugleich arbeitet er als Militärhistoriker und ist Vorstandsmitglied des Clausewitz Netzwerks für Strategische Studien.

Telepolis-Autor Lars Lange fragte den Experten nach seiner derzeitigen Einschätzung des ukrainischen Kriegsgeschehens.

Am Kulminationspunkt

Wie könnte der Krieg im Jahr 2024 weitergehen?

Markus Reisner: Dies hängt vor allem von der Unterstützung des Globalen Nordens, also vor allem der USA und der EU für die Ukraine ab. Russland geht mit einem sehr hohen Selbstvertrauen in das Jahr 2024 und hofft, weitere entscheidende Erfolge zu erzielen.

Die Russen sehen das Jahr 2023 als einen Erfolg an. Ein Blick in die russischen sozialen Netzwerke zeigt dies nur zu gut. Denken Sie dabei immer daran, wo Russland Mitte 2022 in der Ukraine stand! Kurz vor der Niederlage!

Das Entscheidendste aus russischer Sicht: Es ist ihnen 2023 gelungen, die ukrainische Sommeroffensive abzuwehren. Hinzu kommen die Einnahme von Bachmut und auch Marjinka. Für uns mag vor allem letzterer Ort eine unbedeutende Stadt sein, aber es ist eine sehr wichtige Festung für die Verteidigung der Ukraine. Sie wurde zuvor acht Jahre lang zur Verteidigung ausgebaut.

Das Jahr 2024 wird daher im Ukraine-Krieg zum Kulminationspunkt. Die USA sind zunehmend mit anderen Konflikten beschäftigt, die notwendige maritime Allianz im Roten Meer, die Unterstützung von Israel oder die Frage von Taiwan.

Damit sind nun die Europäer gefordert, im Ukrainekrieg eine größere Rolle zu spielen. Hier kann man aber kaum erkennen, dass die viel zitierte "Zeitenwende", um jetzt den in Deutschland aus vollem Elan heraus geprägten Begriff zu verwenden, tatsächlich umgesetzt wird.

Möchte man verhindern, dass Russland das Momentum für sich gewinnt, also die besetzten ukrainischen Gebiete nicht verliert, sondern sogar ausweitet, dann muss rasch und entschieden gehandelt werden.

Ressourcen entscheiden den Krieg

Welche Waffenentwicklungen haben wir 2023 gesehen, was waren die signifikantesten Neuerungen?

Markus Reisner: Die an die Ukraine bis jetzt gelieferten westlichen Waffensysteme sind zwar von hoher Qualität, aber in einem Zermürbungs- und Abnützungskrieg spielt nicht Qualität, sondern vor allem Quantität eine Rolle.

Die Geschichte hat oft gezeigt: Die Qualität entscheidet vielleicht die Schlacht, aber die Masse bzw. die Ressourcen entscheiden den Krieg. Nehmen wir als Beispiel westliche Fliegerabwehrsysteme. Sie machen im Moment einen wesentlichen Unterschied aus, denn sie erreichen bei den strategischen russischen Luftangriffen hohe Abschusszahlen.

Die Frage ist, ob sich diese Abschussraten auch in den nächsten Monaten aufrechterhalten lassen, wenn die Russen weiter so wie zum Jahreswechsel mit Drohnen, Marschflugkörpern, ballistischen Raketen und Hyperschallwaffen angreifen.

Ein finaler Abwehrerfolg ist nur möglich, wenn ein steter Fluss an schnell produzierter Fliegerabwehrmunition an die Ukraine erfolgt. Entscheidend auf dem Schlachtfeld waren daher im Jahr 2023 billige und in Massenfertigung rasch verfügbar hergestellte Systeme. Hier sticht der Einsatz von First Person View (FPV) Drohnen heraus.

Deren Einsatz verhindert im Moment auf beiden Seiten jede Bereitstellung und jedes Manöver. Was Stacheldraht und Maschinengewehr im 1. Weltkrieg bewirkten, bewirken nun Drohnen im 21. Jahrhundert. Sie erzeugen ein "gläsernes Gefechtsfeld" und sie ersticken jeden Angriff im Keim.

Die Suche nach der Wunderwaffe und was die Ukraine erreicht hat

Welche neuen Waffen könnten 2024 eine wichtige Rolle bekommen, mit welchen Innovationen können wir rechnen?

Markus Reisner: Alle Waffen, die helfen, das oben beschriebene Dilemma zu überwinden. Das Ziel ist es, das elektromagnetische Feld zu beherrschen. Dort sucht man die "Wunderwaffe", von der General Saluschnyj in seinem aufsehenerregenden Essay sprach.

Auch für dieses Jahr gelten die traditionellen Faktoren Kraft, Raum, Zeit und Information. Wer diese mit neuen Waffensystemen zu seinen Gunsten beeinflussen kann, wird siegreich bleiben.

Ich gebe hier ein positives Beispiel für die Ukraine. Sie hat es geschafft, mit schnell fahrenden und mit hoher Reichweite ausgestatteten unbemannten Oberwasserdrohnensystemen (Kraft), basierend auf einem vom Westen geliefertes "in time" Lagebild (Information) die russische Schwarzmeerflotte in nur wenigen Wochen aus dem westlichen Schwarzen Meer (Raum) zurückzudrängen. Das ist ein klarer Erfolg.

Das ging so schnell (Zeit), dass die Russen bis jetzt keine wirkliche Antwort darauf haben. Zunehmend spielt auch Software zur Unterstützung der Zielaufklärung eine Rolle. Hier kommt dann bereits künstliche Intelligenz ins Spiel.

Der Erfolg Russlands: Problem des Globalen Nordens

In Afrika übernimmt Russland wesentliche Teile der ehemals europäischen Einflusssphäre, im Nahen Osten ist ein Krieg ausgebrochen, die Huthi sperren das Rote Meer für westliche Schiffe, Venezuela will Teile von Guayana zurück. Welche weiteren geopolitischen Prozesse könnten wir 2024 sehen?

Markus Reisner: Russland könnte diesen Krieg weder alleine führen noch gewinnen. Aber, und dies machte einen Riesenunterschied: Es kann sich auf den Globalen Süden abstützen.

Waffen aus Nordkorea und dem Iran halfen den Russen, Engpässe auszugleichen. So konnten die russischen Frontlinien laufend verstärkt und versorgt werden.

Es gelang mittels diplomatischer Initiativen, die russische Position im sogenannten Globalen Süden zu festigen und sogar neue Partnerschaften bilden. Neue Konflikte, wie zum Beispiel im Gazastreifen oder die Angriffe der Huthis im Roten Meer bereiten dem Globalen Norden zunehmend Probleme. Das ist aus russischer Sicht ein Erfolg.

Das gibt ihnen Selbstvertrauen. Das macht es der russischen Seite möglich, in der Informationskriegsführung entsprechend potent aufzutreten, die eigene Bevölkerung hinter sich zu scharen und massiv weiter anzugreifen.

Der Papst hat es treffend auf den Punkt gebracht, indem er davon sprach, dass wir uns in einem "Weltkrieg auf Raten" befinden. Die Wahrheit ist, dass die Lage äußerst schwierig ist und viele westliche Verbündete zusehends resignieren und bereits über eine geteilte Ukraine nachdenken.

Die Power des Westens und die Lehren der Osteuropäer

Der US-dominierte Westen hat einen spürbaren Teil seiner militärischen Fähigkeiten in der Ukraine verloren. Sollte die Ukraine im neuen Jahr zusammenbrechen: Hätte die Nato gegen Russland und seine Verbündeten Möglichkeiten, ein weiteres Vorrücken der russischen Armee zu verhindern?

Markus Reisner: Ja, und hier rede ich nicht lange um den heißen Brei. Bei einem Vorrücken auf das Gebiet von Nato-Staaten wäre dies der Einsatz von Atomwaffen. Genau dafür wurden sie geschaffen und ich hoffe aus innerster Seele, dass es dazu nicht kommt. Das wäre unser aller Untergang.

Ich sehe die NATO-Osterweiterung als die Ursünde des US-dominierten Westens hinsichtlich des Ukraine-Krieges an. Nicht Russland ist immer weiter an die Grenzen der USA herangerückt, Russland hat nicht versucht, Kanada oder Mexiko politisch zu beeinflussen oder in eines der beiden Länder Truppen und militärisches Gerät zu stationieren. Wenn sich die Nato von Russlands Grenzen zurückziehen, zumindest in Teilen die Nato-Osterweiterung zurücknehmen und eine Abrüstungsbereitschaft signalisieren würde, wie denken Sie, würde Russland reagieren?

Markus Reisner: Hier widerspreche ich mit Vehemenz. Auch als Offizier eines Landes ohne Nato-Mitgliedschaft. Es gilt das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Es ist uns im Westen historisch nicht bewusst, welchen Anziehungseffekt wir nach dem Ende der Sowjetunion in den zentral- und osteuropäischen Ländern ausgelöst haben.

Nicht die USA und Europa haben diese Länder in die EU und in die Nato "gezwungen", sondern diese Länder und ihre Bevölkerungen wollten Teil dieser Gemeinschaft sein.

Die Zentraleuropäer wollten z.B. keine Osteuropäer mehr sein. Konsum und Wohlstand, also "Soft Power", waren einfach zu verlockend. Denken Sie selbst einmal darüber nach, welchen verführerischen Ruf die USA in den 1980ern und 1990ern hatten.

Russland konnte und kann dies nicht bieten. Sie haben es auch gar nicht versucht, sondern beschlossen, nachdem sie sich vom Schock der zerfallenden Sowjetunion erholt hatten, sich zu holen, was ihnen aus ihrer Sicht "gehört".

Wir haben diese Gefahr nicht ernst genommen, dachten, wie Francis Fukuyama schrieb, das Ende der Geschichte ist angebrochen. Das hat uns eingeholt!

Was sagen sie einem Ukrainer, der aus tiefstem Herzen sagt: "Ich möchte zu Europa gehören! Von eurem Wohlstand profitieren!". Tut uns leid, das geht nicht, denn dann würden wir die Russen verärgern?

Zudem ist das eine spekulative Frage, und ich fürchte, dazu ist es zu spät, denn Russland bzw. derzeit Putin sieht seine ihm "historischen zustehenden" Grenzen tief im Osten der Nato.

Zudem haben viele neue Nato-Mitglieder, nehmen wir z. B. die Polen, im letzten Jahrhundert traumatische Erlebnisse mit den Russen gemacht. Sie würden hier nie nachgeben. Sie haben aus ihrer Geschichte gelernt.

Wir selbst wünschen uns, dass alles so rasch wie möglich wieder beim Alten ist. Und dies vor allem aus Bequemlichkeit. Damit wir weiter den "uns zustehenden" Wohlstand genießen können. Da ist so ein Krieg am Rande der EU äußerst unangenehm.

Und das ist das Dilemma, denn ich fürchte, diese Zeit ist vorbei. Die globale Welt ordnet sich gerade neu. Wie an einem Tisch, an dem alle vor dem Essen, also der Ressourcenverteilung, wieder neu Platz nehmen.

Bis jetzt saßen wir sehr gut platziert, aber wenn wir nicht aufpassen, dann wird dies zukünftig nicht mehr so sein. Und darauf sind wir nicht vorbereitet.