Teilzeitstudium
Der Anteil der Teilzeitstudenten liegt bei mindestens 12, womöglich sogar bei 25 Prozent, den Modellakademiker mit viel Zeit und ausreichend Geld gibt es immer weniger
Wer nur Vorlesungen, Übungen und Seminare besuchen muss, in der Freizeit Referate, Hausarbeiten und Prüfungen vorbereiten kann und allenfalls in den Semesterferien gezwungen ist, sich für etwaige Sonderwünsche den einen oder anderen Euro hinzuzuverdienen, dürfte mit der Einhaltung der Regelstudienzeit keine Schwierigkeiten haben. Doch die Modellakademiker, die sich hochmotiviert und unermüdlich auf die Übernahme von Spitzenpositionen in Wirtschaft und Gesellschaft vorbereiten, tummeln sich vorwiegend in bildungspolitischen Planspielen und nostalgieverklebten Träumen vom freien Studentenleben.
Dass die Realität seit langem anders aussieht, weiß auch das Bertelsmann nahe Centrum für Hochschulentwicklung, das in den aktuellen Diskussionen über die Zukunft der deutschen Hochschullandschaft zumeist durch bürgerlich-liberale oder vergleichsweise konservative Positionen aufgefallen ist. Eine aktuelle Sonderauswertung des CHE-Hochschulrankings, in die Daten aus dem Erhebungszyklus 2004 bis 2006 geflossen sind, zeigt nun allerdings, dass auch die Befürworter von Studiengebühren, naturwissenschaftlichen Exzellenzclustern und leuchtturmhaften Elite-Hochschulen evidente Negativtendenzen und soziale Schieflagen nicht mehr ignorieren können.
Eine CHE-Studierendenbefragung ergab, dass sich 12,3 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst als Teilzeitstudierende bezeichnen. In einzelnen, zumeist geisteswissenschaftlichen Studiengängen liegt ihr Anteil sogar weit über diesem Durchschnittswert - 32,8 Prozent der Erziehungswissenschaftler, 27,4 Prozent der Politikwissenschaftler, 26,8 Prozent der Soziologen und 26,2 Prozent der Germanisten gaben an, derzeit kein Vollzeitstudium zu absolvieren.
Die Zahl überrascht insofern kaum, als die 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks vor drei Jahren zu einem noch beunruhigenderen Ergebnis kam. Seinerzeit wollte das federführende Hochschul-Informations-System (HIS) herausgefunden haben, dass 25 Prozent aller im Erststudium Immatrikulierten als Teilzeitstudierende bezeichnet werden müssen und sich ihr Anteil zwischen 1991 und 2003 fast verdoppelt hat. Das HIS legte seiner Einschätzung allerdings ein Zeitbudget zugrunde, demzufolge ein Studienaufwand von weniger als 25 Stunden pro Woche den „Tatbestand“ des Teilzeitstudiums erfüllen sollte. Die hohe Zahl beurteilten die Wissenschaftler vor allem deshalb als dramatisch, weil die Hochschulen in Deutschland auf eine solche Situation nicht vorbereitet seien.
Laut Hochschulrektorenkonferenz (HRK) wird gegenwärtig lediglich etwa ein Prozent aller grundständigen Studiengänge (119 von 9355 Studienmöglichkeiten, Stand: Februar 2004) als Teilzeitstudium, überwiegend an Fachhochschulen, angeboten. (...) Ein nicht unerheblicher und in den letzten Jahren zunehmender Prozentsatz praktiziert de facto ein Teilzeitstudium ohne entsprechende formale oder organisatorische Voraussetzungen an den Hochschulen (z.B. in Form entsprechender Studienordnungen).
17. Sozialerhebung
Seitdem sind drei Jahre vergangen, doch geschehen ist wenig bis nichts. Das CHE, das sich ausschließlich auf die deutschen Universitäten konzentriert hat, findet im Hochschulkompass nun zwei Prozent aller Studiengänge als Teilzeitstudiengänge ausgewiesen. Für die betroffenen Nachwuchsakademiker sind die fortwährenden Schwierigkeiten bei der Zusammenstellung des Stundenplans und der Gesamtorganisation des Studiums allerdings nicht die einzigen Hindernisse.
Eine Gegenüberstellung der finanziellen Möglichkeiten widerlegt zwar nicht den Einwand, dass auch persönliche oder familiäre Gründe gegen ein Vollzeitstudium sprechen können, zumal die Teilzeitstudierenden überraschenderweise weniger BAföG-Leistungen und Stipendien in Anspruch nehmen als ihre Kommilitonen. Doch ein ökonomischer Zusammenhang ist vielfach unverkennbar, und wenn beim CHE das Sein das Bewusstsein bestimmt, darf in der akademischen Welt nun wirklich von einem Ernstfall ausgegangen werden.
Die Vollzeitstudierenden beziehen durchschnittlich 63,5 Prozent ihres Unterhalts über ihre Eltern, Großeltern, Partner oder aus dem eigenen Vermögen. Teilzeitstudierende finanzieren dagegen durchschnittlich nur 35 Prozent ihres Studienunterhalts aus einer dieser Quellen. Bei den Vollzeitstudierenden trägt die eigene Erwerbstätigkeit (Jobs innerhalb und außerhalb der Hochschule) durchschnittlich 19,6 Prozent zum Unterhalt bei. Bei den Teilzeitstudierenden sind das immerhin 56,1 Prozent.
CHE - Indikator im Blickpunkt: Das Teilzeitstudium
Im Vergleich zu den oben genannten Fächern Erziehungs- und Politikwissenschaft, Soziologie oder Germanistik ist der Anteil der Teilzeitstudierenden in vielen naturwissenschaftlichen Bereichen gering. Für die Fächer Lebensmittelchemie, Humanmedizin, Biochemie, Zahnmedizin und Pharmazie wurde eine Quote von weniger als fünf Prozent ermittelt.
Die Universitäten sind auf die wachsende Zahl von Teilzeitstudenten nicht vorbereitet
Trotz dieser offenkundigen Zusammenhänge und der stetig wachsenden Zahl von Teilzeitstudierenden sind die meisten Universitäten nur sehr bedingt auf deren spezielle Situation eingestellt, und von Flexibilität kann im deutschen Bildungswesen natürlich auch an dieser Stelle keine Rede sein. Stattdessen werden die Studierenden als Problemfall behandelt. Sie verzögern den von BDI-Präsident Jürgen R. Thumann jüngst geforderten Umbau von Bildungsanstalten in Wissensunternehmen (Innovatives Eigentor) und passen ohnehin schlecht ins Konzept der stromlinienförmigen, vom optimalen Zeitmanagement diktierten Bachelor- und Masterstudiengänge.
So werden sie in hochoffiziellen Dokumenten wie der Hessischen Immatrikulationsverordnung darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit eines Teilzeitstudiums nur unter bestimmten Bedingungen vorgesehen ist. Berufstätige, die ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis im Umfang „von mindestens 14 und höchstens 28 Stunden regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit“ nachweisen können, fallen unter diese Regelung. Auch die Erziehung eines Kindes („nach § 25 Abs. 5 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes“) oder die Pflege von nahen Angehörigen („mit Zuordnung zu einer Pflegestufe nach § 15 Abs. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch“) berechtigt zur Abweichung vom erwünschten Vollzeitstudium. Verständnis finden schließlich junge Menschen, die sich überdurchschnittlich stark in Organen der Hochschule, der Studentenschaft oder des Studentenwerks engagieren.
Doch der Papierkrieg nimmt dann erst seinen Anfang. Teilzeitstudierende benötigen einen Nachweis der Berufstätigkeit, das heißt: einen Arbeitsvertrag, eine Bescheinigung des Arbeitgebers oder eine „sonstige geeignete Bescheinigung“, aus der sich die Dauer der Beschäftigung ablesen lässt. In anderen Fällen genügt der Nachweis der Kindererziehung, also eine Geburtsurkunde, oder die schriftliche Bestätigung, dass tatsächlich nahe Angehörige gepflegt werden, sprich: eine Bescheinigung der Krankenkasse. Die hochschulpolitischen Aktivposten brauchen ebenfalls Nachweise. Eine Bescheinigung ihres Vorsitzenden etwa, oder des Wahlamtes oder gar einen Auszug aus der offiziellen Ergebnisliste. Außerdem gilt: „Die erhebliche zeitliche Beanspruchung ist für den Einzelfall nachzuweisen.“
Noch schwieriger gestaltet sich die Lage, wenn der Job oder das sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis plötzlich gekündigt wird. Viele Hochschul-Institutionen wie etwas die Arbeitsvermittlung Heinzelmännchen des Studentenwerks Berlin richten ihr Angebot ausschließlich an Vollzeitstudierende, so dass die ohnehin schlecht betreuten Teilzeitler weder Hilfe noch überhaupt Anlaufstellen zu erwarten haben.
Wer diesen Hindernissparcour trotzdem überwunden hat, darf sich dann unter zwei Prozent des gesamten universitären Studienangebots etwas Passendes aussuchen und dafür unter Umständen auch noch die fälligen Gebühren zahlen. Das CHE weist in der aktuellen Studie nachdrücklich darauf hin, dass gerade Teilzeitstudierende durch eine Gebührenerhebung pro Semester erheblich benachteiligt werden, weil sie das in Rechnung gestellte Angebot gar nicht in vollem Umfang nutzen können. Die Abgabe sollte deshalb, wenn überhaupt, nur für eine tatsächlich absolvierte Studieneinheit, also etwa pro Modul, erhoben werden.
Noch wichtiger ist die grundsätzliche Frage, wie lange die Bildungspolitik das Phänomen Teilzeitstudium noch ignorieren kann, da es doch auf ein viel größeres Problem hindeutet. Deutschland braucht eine durchgreifende, internationalen Standards entsprechende Hochschulreform, das größtmögliche Engagement aller Beteiligten, zu denen auch sämtliche Studierenden zählen, und die finanziellen Mittel sind nicht unbegrenzt. Trotzdem macht es offenkundig wenig Sinn, den in den nächsten Jahren auf geschätzte 2,7 Millionen Menschen anwachsenden Hochschulbesuchern auf der einen Seite ein möglichst schnelles, hochgradig effektives Studium abzuverlangen, dann aber gleichzeitig Studiengebühren einzuführen und die BAföG-Bezüge seit nunmehr fünf Jahren nicht mehr an die Preis- und Einkommensentwicklung anzupassen. Dem gestiegenen Leistungsdruck, mit dem Deutschland Nachlässigkeiten vergangener Jahrzehnte nolens volens kompensieren muss, werden viele Studierende nur gerecht werden können, wenn sie nicht gleichzeitig ums finanzielle Überleben kämpfen oder Sorgen haben müssen, ihre Schulden auf lange Jahre hinaus nicht mehr zurückzahlen zu können.
Wenn sich der Trend zum unfreiwilligen Teilzeitstudium weiter verfestigt und Universitäten und Politik weder organisatorisch noch finanziell gegensteuern, wird sich an der Feststellung, mit der die Bundesregierung selbst auf den ersten nationalen Bildungsbericht reagierte, vorläufig wenig ändern.
Eine der zentralen Botschaften des Berichts ist, dass Bildung in Deutschland in den letzten Jahren besser geworden ist. So haben Bildungsbeteiligung und Bildungsstand der Bevölkerung zugenommen. Internationale Vergleiche belegen aber, dass andere Länder bei der Verbesserung ihres Bildungssystems schneller sind. Ein Hauptproblem in Deutschland ist nach wie vor der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg.
Bundesministerium für Bildung und Forschung
(Thorsten Stegemann)