Syrische Chemiewaffen sollen einsatzbereit sein
Der deutsche Patriot-Einsatz
Schon einmal, am 27. Mai 2005, krachte eine syrische Scud-Rakete in zwei türkische Dörfer in der Provinz Hatay. Damals war eine Testrakete vom Kurs abgekommen. Nachdem es seit Oktober wiederholt zu Zwischenfällen an der türkisch-syrischen Grenze gekommen war, genehmigte der Nordatlantikrat der NATO am 4. Dezember 2012 die Verlegung von Raketenabwehreinheiten Patriot PAC-3 in die Türkei. Ende November war noch die Rede von zwei deutschen und einer niederländischen Staffel, eine Woche später hieß es, man werde aus den USA, den Niederlanden und Deutschland jeweils zwei Staffeln einsetzen.
Das mobile Waffensystem MIM-104 Patriot PAC-3 besteht aus einem Feuerleitstand (Engagement Control Station - ECS), einem Mehrfunktionsradar AN/MPQ-65, einer Antennenmastanlage (34 m), einem Stromerzeugungsaggregat und - nicht zuletzt - einer Startstation mit vier Raketen in Startkanistern in der Erstbeladung. Die Startanlage ist auf einem Lastkraftwagen MAN Lkw 15t mil gl A1 br (8x8) montiert. Die Anti-Raketen-Raketen haben eine Länge von 5,2 m bei einem Durchmesser von 0,25 m. Ihr Splitterkopf hat eine Füllung aus 73 kg hochexplosivem Sprengstoff. Die Reichweite der Rakete beträgt 45 km. Die Patriot soll jedes anfliegende Flugzeug abschießen und jede Rakete, egal ob mit konventionellem oder chemischem Gefechtskopf, "in der unteren Abfangschicht" direkt treffen ("hit-to-kill"). Jede Staffel besteht aus 85 Soldaten und verfügt über rund zwanzig Fahrzeuge, darunter acht mobile Startstationen.
In der letzten Novemberwoche hieß es noch, man wolle 170 Bundeswehrsoldaten in die Türkei entsenden. Aber im Beschluss des Bundeskabinetts vom 6. Dezember ist schon von maximal 400 Mann die Rede. Zu den Raketensoldaten hinzu kommen noch einmal 50 Mann für die NATO-Stäbe in der Türkei, ca. 130 Soldaten für den Schichtbetrieb an Bord der E-3A Sentry AWACS-Flugzeuge der NATO Early Warning Force (NAEWF) aus Geilenkirchen und eine Personalreserve von 50 Mann, über deren Zusammensetzung und Verwendung noch nicht entschieden ist. Angesichts der drohenden Begasung von Bundeswehreinheiten werden die Raketensoldaten möglicherweise von eigenen Sicherungs-, ABC-Abwehr- und Sanitätskräften unterstützt.
Der Einsatz der modernisierten AWACS-Flugzeuge wird damit begründet, sie würden die Patriot-Einheiten unterstützen. Darüberhinaus sind die Flugzeuge dazu geeignet, sämtliche Truppenbewegungen der syrischen Bürgerkriegsparteien am Boden genau zu verfolgen und entsprechende Zieldaten zu generieren. Dazu kann das Radargerät AN/APY-1 mehrere hundert Kilometer weit nach Syrien hineinblicken. Bisher wurde noch nicht bekannt, wieviele Flugzeuge auf welchem Fliegerhorst in der Türkei stationiert werden.
Der Bundestag wird am 14. Dezember 2012 über eine Mandatierung der Bundeswehr befinden. Die Verlegung der beiden deutschen Staffeln wird dann im neuen Jahr erfolgen. Beide Einheiten stammen vom Flugabwehrraketengeschwader 1 (FlaRakGeschw1), das in Husum und Leck disloziert ist. Die beiden deutschen und die niederländische Staffel werden auf drei Provinzen im Süden der Türkei verteilt: Gaziantep, Malatya und Diyarbakir. Zeitweise war auch die Provinz Urfa als Dislozierungsraum im Gespräch. Die US-Streitkräfte werden eine Staffel auf einem Flugzeugträger stationieren. Die Einsatzführung liegt beim NATO-Raketenabwehrkommando in Ramstein und nicht beim türkischen Generalstab, wie von der Regierung in Ankara zunächst gefordert.
Von Seiten der NATO wird die Stationierung der Patriot-Einheiten in der Türkei nur als "normale" Infrastrukturmaßnahme zur Stärkung der türkischen Landesverteidigung dargestellt. Aber die türkische Regierung forderte schon seit Sommer 2012 wiederholt die Ausrufung des Bündnisfalles auf Basis von Artikel 5 der NATO-Charta und stieß damit auf den Widerstand anderer Mitgliedsländer. Möglicherweise entsteht hier ein Präzedenzfall, wenn jetzt zum ersten Mal NATO-Truppen zum (Kampf-)Einsatz kommen, noch bevor ein Angriff auf das NATO-Gebiet überhaupt erfolgt ist.
Bisherige NATO-Einsätze im europäischen Raum (Albanien, Jugoslawien) dienten immer der Einmischung in einen Bürgerkrieg außerhalb des Bündnisgebietes, aber dies soll ja diesmal ausdrücklich nicht der Fall sein. Vielmehr rechtfertigte Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière die Truppenentsendung am 26. November damit, dass "wir unser eigenes Bündnisgebiet verteidigen". Allerdings wirft auch diese Aussage ein zweifelhaftes Licht auf das, was die NATO unter "Verteidigung" versteht.
Die russische Regierung protestierte gegen die Stationierung der Patriot-Einheiten in der Türkei. Bei einem Türkeibesuch sagte Präsident Wladimir Putin am 3. Dezember 2012:
Moskau ist der Ansicht, dass die Stationierung von Patriot-Raketen in der Region nicht zur Lösung des Problems beitragen wird. (...) Denn die Schaffung irgendwelcher zusätzlicher Möglichkeiten an der Grenze wird die Situation nicht entschärfen, sondern im Gegenteil nur verschlimmern. (...) Wenn zu Beginn eines Theaterstücks an der Wand eine Flinte hängt, wird sie zum Ausklang unbedingt schießen. Brauchen wir denn noch weitere Schießereien an der Grenze?
Unklar bleibt, wie die türkischen Streitkräfte im Falle eines syrischen Chemieangriffs reagieren werden. Auch sie verfügen noch über chemische Waffen und sollen diese wiederholt gegen die kurdische Minderheit eingesetzt haben. Der letzte Angriff soll am 22. Oktober 2011 bei Cukurca erfolgt sein. Mindestens 24 Tote waren zu beklagen.
Derweil erhöht auch die russische Regierung ihre Truppenpräsenz und schickt einen Schiffskonvoi nach Tartus in Syrien. Der Verband besteht aus dem Raketenkreuzer Moskwa (Slawa-Klasse), dem Küstenschutzschiff Smetliwy (Kashin-Klasse), den Landungsschiffen Nowotscherkassk (Ropucha-I-Klasse) und Saratow (Alligator-Klasse), dem Schlepper MB-304 und dem Tanker Iwan Bubnow.
Dennoch versuchte der russische Präsident bei seinem Türkeibesuch die Situation zu beschwichtigen: "Gesunder Menschenverstand reicht aus, man braucht kein Fachmann zu sein oder keine nachrichtendienstlichen Informationen zu nutzen, um zu verstehen, dass ein Überfall Syriens auf Nachbarländer irreal ist." Die Frage ist nur, ob nach 40.000 Toten der amtierende syrische Diktator noch genügend "gesunden Menschenverstand" sein Eigen nennt.
Gerhard Piper ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit.
(Gerhard Piper)