Syrische Chemiewaffen sollen einsatzbereit sein
Einsatztaktik von Nervengasen
Da die chemischen Waffen zu den Massenvernichtungsmitteln zählen, kann mit ihnen eine Vielzahl von Personen flächenwirksam getötet oder verwundet werden. Indem man das Gelände des Gegners kontaminiert, wird dessen operative Beweglichkeit erheblich eingeschränkt. Außerdem müssen die feindlichen Soldaten ABC-Schutzkleidung anlegen, was ihre Einsatzmöglichkeiten und Ausdauer zusätzlich einschränkt. Allerdings kann dies auch die eigenen Truppen betreffen, wenn sich der Wind dreht oder der Kampfverlauf ändert.
Bei der Planung eines solchen Einsatzes müssen die Militärs die spezifische Toxizität des Kampfstoffes und die Umweltbedingungen am Einsatzort beachten. Die "Mittlere Letale Dosis" (LD50) gibt an, wieviel Kampfstoff eine Person aufnehmen muss, um daran mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent zu sterben. Die "Mittlere Letale Konzentration" (LCt50) gibt an, wie hoch die Kampfstoffkonzentration in einem Kubikmeter Luft sein muss, um einen Menschen mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent zu töten. Die Überlebenden tragen oft dauerhafte Schäden davon, worunter sei ein Leben lang zu leiden haben: Erblindung, Hautverätzungen, Lungenschäden und Krebs.
Im Ersten Weltkrieg wurden die Kampfstoffe noch in Form von Gas ausgebreitet, daher stammt der gebräuchliche Name "Giftgas". Aber Gas verflüchtigt sich sehr rasch und daher gingen die Militärs später dazu über, die Sesshaftigkeit des Kampfstoffes zu erhöhen, indem man ihn als Aerosol einsetzte. Ein Aerosol besteht aus einer Unzahl mikroskopisch kleiner Tröpfen, die sich wie ein Nebel ausbreiten. Bei Chemieangriffen zeigte sich in der Vergangenheit, dass sich der meiste Kampfstoff auf Bäumen, Dächern und Wiesen niederschlägt. Trotz der hohen Toxizität der Substanzen war ein Angriff daher nur dann "erfolgreich", wenn etliche Tonnen Kampfstoff gleichzeitig zum Einsatz gebracht werden konnten.
Nicht zuletzt müssen die Wetterbedingungen bedacht werden, weil sich die Kampfstoffe bei steigender Temperatur und erhöhter UV-Strahlung schneller zersetzen. Bei einer Temperatur von -10 °C, Windstille und einer Schneedecke hält sich Senfgas bis zu 8 Wochen, Sarin maximal 2 Tage und VX bis zu 4 Monaten. Bei einer Temperatur von +15 °C, Sonnenschein und leichtem Wind hat sich Senfgas nach 7 Tagen vollständig zersetzt, Sarin nach 1 Stunde und VX nach maximal 3 Wochen. In Damaskus herrschen zu dieser Jahreszeit Temperaturen von 15 °C tagsüber, nachts kühlt es auf 2 bis 3 °C ab; es weht ein mäßiger Westwind (ca. 33 km/h), an manchen Tagen regnet es.
Der amerikanische Militärexperte Anthony H. Cordesman beschreibt die Folgen eines VX-Raketenangriffs wie folgt:
Wenn man eine Zündhöhe von 1.100 m, einen Bodenwind von 91,5 cm pro Sekunde und einen schlimmsten Fall unterstellt, dann würde der Gefechtskopf ein Gebiet von 0,53 km Breite und 3,5 km Länge vergiften, das rund einen Kilometer entfernt vom Explosionsort beginnt. Wenn man ebenes Gelände und keine Abwehrmaßnahmen unterstellt, würden 50 Prozent der vergifteten Personen zu Opfern werden. Das ist ein Gebiet mit einer extrem hohen Sterblichkeitsquote, und der VX-Kampfstoff würde über mehrere Tage hinweg seine tödliche Wirkung behalten. (...) In der Praxis beträgt die Sterberate nur 5 bis 20 Prozent, aber dennoch müssten dadurch sämtliche Militäraktivitäten im Zielgebiet eingestellt werden.
Internationale Einmischungsambitionen
Sowohl die amerikanische als auch die russische Regierung haben in den letzten Monaten die syrische Regierung wiederholt vor einem Einsatz chemischer Waffen gewarnt. Dabei war die Wortwahl der Russen vielleicht etwas weniger scharf im Ton, aber genauso nachdrücklich in der Sache.
Für den Fall eines Chemiewaffeneinsatzes durch das syrische Regime hat der amerikanische Präsident Barack Obama zum wiederholten Male mit einem unspezifizierten Vergeltungsschlag gedroht. Offensichtlich wurden entsprechende Contingency Operational Plan(s) ausgearbeitet. Am 3. Dezember 2012 erklärte Obama:
Today I want to make it absolutely clear to Assad and those under his command: The world is watching. (…) The use of chemical weapons is and would be totally unacceptable. If you make the tragic mistake of using these weapons, there will be consequences and you will be held accountable.
Bekannt wurde, dass sich in Jordanien eine 150 Mann starke Task Force aufhält, die im Falle eines C-Einsatzes die syrischen Chemiewaffen "erobern" sollen. Z. Zt. halten sie entsprechende Einsatzübungen ab. Allerdings mutet die Zahl von 150 Mann Special Forces sehr klein an. Um das gesamte chemische Potential auszuschalten, brauchten die US-Streitkräfte nach Berechnungen des Pentagons 75.000 Soldaten. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass bereits im Mai 2012 in Jordanien die jährliche Anti-Terror-Übung EAGER LION stattfand, an der diesmal 12.000 Soldaten aus 19 Ländern teilnahmen.
Außerdem wird ein möglicher US-Luftangriff vorbereitet. Und der US-Senat forderte am 4. Dezember 2012 den Präsidenten auf, die Einrichtung einer Flugverbotszone zu prüfen. So erklärte Senator Joseph Lieberman:
Dies (...) ist für uns die einfachste Methode, der Administration zu sagen, dass der Senat über das Gemetzel in Syrien beunruhigt ist. (...) Es muss eine vernünftige Bewertung dessen gegeben werden, was die US-Streitkräfte tun können, um Baschar al-Assad um die Möglichkeit zu bringen, die Luftwaffe einzusetzen.
Unklar ist, in welchem Umfang US-Streitkräfte auch präventiv oder präemptiv zuschlagen könnten. Bisher hatte die US-Regierung lediglich politischen Druck auf das Regime in Damaskus ausgeübt. Die Forderung nach einer militärischen Hilfe, etwa durch Waffenlieferungen, hatte die US-Administration immer abgelehnt. Allerdings wies der russische Außenminister Sergej Lawrow in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Rebellen mit etwa 50 amerikanischen Stinger-Raketen ausgerüstet seien. Nun hat es den Anschein, dass sich die US-Regierung zukünftig direkt in den inner-syrischen Konflikt militärisch einmischen will.
In Fall eines syrischen Chemieangriffs drohte auch die NATO-Führung eine "sofortige Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft" an, wie NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am 4. Dezember 2012 erklärte.
Aber nicht nur die USA, auch die Israelis forcieren ihre Syrienpolitik: Im Oktober und November 2012, während die ganze Welt auf den Konflikt um den Gaza-Streifen starrte, plante die israelische Luftwaffe einen Präemptivschlag gegen das syrische Chemiewaffenarsenal. Zumindest meldete dies das amerikanische Magazin The Atlantic. Gleich zweimal soll die Regierung in Tel Aviv entsprechende Überflugrechte bei der jordanischen Regierung in Amman beantragt haben, obwohl doch Israel und Syrien eine gemeinsame Grenze teilen. (Die Nachfrage bei den Jordanier ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass sich mehrere syrische C-Waffen-Depots in der Nähe zur jordanischen Grenze befinden und Giftgasschwaden bei einer Bombardierung der Munitionsbunker freigesetzt werden könnten, die jordanische Gebiet kontaminieren könnten.
Die israelischen Operationspläne wecken Erinnerungen an die Operation ORCHARD: Am 6. September 2007 hatten israelische Jagdbomber F-15 und F-16 eine syrische Nuklearanlage bei Dayr as Zawr bombardiert.
Unklar ist, ob autonom agierende Rebellen beabsichtigen, syrische Chemiewaffen in ihre Gewalt zu bringen. Ein offizieller Sprecher der Rebellenarmee erklärte hierzu: "We hope American troops will secure the plant (gemeint ist Al-Safira, d. A.). (...) We don´t want the regime to be able to use the weapons, but neither do we want them to fall into the hands of radicals after the downfall (of the regime)." In diesem Zusammenhang sei an die Chlorgas-Angriffe der Al-Qaida im Westirak im April/Mai 2007 erinnert.
Für den Fall der Fälle verlegte das türkische Heer sein einziges ABC-Abwehrbataillon am 24. Juli 2012 an die Grenze zu Syrien. Und das tschechische Heer hat einen Teil seiner ABC-Abwehrkräfte in Jordanien stationiert, um jederzeit eingreifen zu können.
Angesichts der unklaren, aber gefährlichen Lageentwicklung haben die UNO und die EU einen Teil ihrer Mitarbeiter aus Syrien evakuiert. So zog die UN ein Viertel ihrer rund 100 Mitarbeiter ab, die bisher mit der Organisierung humanitärer Hilfsmaßnahmen betraut waren. Die EU zog alle Personen ab, die "nicht zwingend notwendige Mitarbeiter" waren.