Stellenwucher, Ämterschacher
Benedikt XVI. und sein "Amtsverzicht": Freiwilliges Aus oder Kapitulation?
Für Beobachter wie den italienischen Philosophen Giorgio Agamben war es ein historischer Schritt von weitreichender Signalfunktion und sogar politischer Bedeutung (Das Geheimnis des Bösen): Vor drei Jahren, im Februar 2013, trat Benedikt XVI. als erster Papst seit dem Mittelalter (exakt: seit dem Jahr 1294) freiwillig zurück; es folgte Papst Franziskus auf dem "Stuhl Petri". Zweifel an der offiziellen Begründung für den überraschenden Schritt – Ratzinger nennt sich seit der Amtsniederlegung "Emeritierter Papst" – kamen schon bald auf.
Gott habe in seinem Herzen den "absoluten Wunsch" zur Amtsniederlegung geweckt, so der Geschasste damals. Der Geschasste? Göttliche Fügung scheint jedenfalls nicht der wirkliche, zumindest nicht der alleinige Grund für die Abdankung des Pontifex gewesen zu sein, "Rücktritts"-Gerüchte machten schon Monate zuvor die Runde.
Wie das britische Wochenmagazin "Catholic Herald" (Slogan: "What’s Really Happening in the Catholic Church") behauptet, habe der damalige Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone sieben Monate vor der Abdankung Ratzingers bereits von dessen Entscheidung gewusst.
Eine rätselhafte Ansage
Er (Bertone) habe den Papst aufgefordert: "Heiliger Vater, Sie müssen uns noch den dritten Teil von 'Jesus von Nazareth' schenken und die Enzyklika über den Glauben, bevor sie die Dinge an Papst Franziskus überschreiben."
Bertone, eine schillernde Persönlichkeit, machte immer wieder wegen eines unerhört luxuriösen Lebensstils Schlagzeilen, er wurde im Oktober 2013 von Papst Franziskus seines Amtes enthoben. Der Vatikan nahm selbst die Ermittlungen auf, der Verdacht: Untreue. Es ging um beträchtliche entstandene Finanzlöcher, die Rede war von 15 Millionen Euro veruntreuten Geldes.
Es kommt aber noch besser: Erzbischof Paolo Kardinal Romeo von Palermo hatte angeblich sogar schon Mitte November 2011, also mehr als ein Jahr vor Ratzingers Rücktritt, während eines Aufenthalts in China europäischen Reisebegleitern erklärt, das Pontifikat Papst Benedikts XVI. werde höchstens noch ein Jahr dauern.
Benedikt selbst wurde nur wenige Wochen nach dieser Reise, im Januar 2012, von dem Kolumbianer Dario Kardinal Castrillon-Hoyos in einem persönlichen Brief über diese rätselhafte Ansage informiert. Eine derart präzise Angabe über das Ende des Pontifikats ließen einige Reisebegleiter Kardinal Romeos, in der Mehrzahl Geschäftsleute, offenbar zu dem Schluss kommen, dass gegen den deutschen Papst gar ein Mordkomplott im Gange sei.
"Seefahrer ohne Besatzung"
Ein "zersetzendes Unwesen", ein Komplott von Modernisten, die vor und während des Pontifikats Benedikts zu einer starken Lobby herangewachsen waren, erkennt die französische Zeitschrift "Catholica" vom 28. Juni 2013 (Nr. 120). Ein streitbarer italienischer Priester namens Ariel Levi di Gualdo, jüdischer Konvertit, erklärt im Interview gegenüber "Catholica", Bendedikt XVI. sei trotz bester Absichten zuletzt ein "Seefahrer ohne Besatzung" gewesen, der in einem "Kontext tiefer Dekadenz" auf verlorenem Posten stand:
Ohne jeden Zweifel werden die Historiker, wenn sie dieses Pontifikat studieren, das in einer so schwierigen und schmerzlichen Epoche stattfand, in diesem Kontext tiefer Dekadenz, die auf der Kirche lastet, den Nachweis erbringen, dass Benedikt mit großer Anstrengung bemüht war, im besten Sinn für die Kirche Christi zu handeln (…).
Ariel Levi di Gualdo
Wie darüber hinaus die italienische Zeitung "La Repubblica" bereits im Februar 2013 meldete, hatten Mitbrüder dem Pontifex "ein genaues Bild des Schadens und der faulen Fische" im Vatikan gegeben, dabei gehe es um "unsaubere Einflüsse" und um ein übergreifendes, durch "sexuelle Ausrichtung" verbundenes Netz von Lobbyisten mit Finanzinteressen.
Geradezu eine "Flut von Verschwörung" erkannte Cordialiter, ein katholischer Blog von sonst eher zurückhaltender redaktioneller Linie, wo eine Ordensfrau (namentlich nicht genannt) im August 2014 kundtat,
(…) dass Benedikt XVI., als er sich von einer Flut von Verschwörern belagert sah, die zum Schisma bereit waren (…), nicht mehr die Kraft fühlte, (…) die Kirche wirksam zu regieren und sich der Wühlarbeit der Modernisten zu widersetzen (…).
Kapitulation – und die Dialektik des Verfalls
Papst Benedikt XVI. alias Joseph Ratzinger residierte acht Jahre lang als Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche, von 2005 bis 2013. Sein Rücktritt bleibt schwer entzifferbar. Jedoch, nicht Vatileaks, Altersgebrechen oder die üblichen ermüdenden Kontroversen in der römischen Kurie, zumindest sie nicht allein, brachten Benedikt 2013 dazu, das Amt des Oberhirten über 1,2 Milliarden Katholiken aufzugeben und sich in die vornehme Stille einer selbst gewählten Klausur zurückzuziehen.
In früheren Zeiten wurden missliebige Dienstherren im Vatikan schon mal vergiftet oder stranguliert. Ein Schicksal, das Benedikt, vielleicht auch seines hohen Alters wegen, erspart blieb. Die Methode als solche wäre auch recht unmodern. Aber es reichte, Benedikt an seine Belastungsgrenze zu bringen und folgerichtig 2013 den erwünschten Paradigmenwechsel zu vollziehen. Das macht rein äußerlich Eindruck – der neue Papst Franziskus wird etwa auf seinen Auslandsreisen geradezu als Medienstar gefeiert –, aber überzeugen kann es nicht. Dies aus mindestens zwei Gründen.
Zum einen ließe sich ganz unphilosophisch anführen: Ein Blender hat den Gebildeten auf dem "Heiligen Stuhl" ersetzt, jedoch die Qualität der Institution Kirche und die Lauterkeit ihres Führungspersonals bleiben grundsätzlich fraglich. Agamben mit seinem Rekurs auf die "schwarze Kirche" sah es wohl auch so, er warf ambitioniert die Frage nach der Legitimität auf, nach der geistlichen "auctoritas".
Zum zweiten und sehr konkret, Benedikt selbst mag im internen Ämterschacher hier den Kürzeren gezogen haben, ein glorreicher Vertreter der Kirche wird er dadurch nicht; intellektuelle Arroganz, rigide Dogmatik und die unter seiner Verantwortung praktizierte hartnäckige Vertuschung tausendfachen sexuellen Missbrauchs durch katholische Geistliche sind mit dem ausmanövrierten Pontifikat verbunden. In Summa, Benedikt scheiterte wohl an einer innerkirchlichen Lobby und nicht zuletzt an der "Wühlarbeit" machtbewusster Gegner, sogenannter "Modernisten", er kapitulierte jedoch auch vor den Auswüchsen eines drastischen moralischen Verfalls, den er selbst mit begünstigt hatte. (Arno Kleinebeckel)