Sollen auch Kinder und Jugendliche gegen Covid-19 geimpft werden?
Comirnaty als erster Impfstoff für Heranwachsende ab zwölf Jahren in EU zugelassen. Deutscher Ärztetag für Impfung von Kinder und Jugendlichen, Ständige Impfkommission gegen generelle Empfehlung für diese Altersgruppe
Der mRNA-Impfstoff von Biontech-Pfizer (Handelsname: Comirnaty) hat kürzlich eine Erweiterung seiner bedingten Zulassung für Heranwachsende ab zwölf Jahren von der Europäischen Arzneimittelkommission (EMA) erhalten, sodass jetzt auch ein Covid-19-Vakzin für diese Altersgruppe zur Verfügung steht.
Nachdem Telepolis über Sicherheit und Wirksamkeit der in der EU für Erwachsene zugelassenen Covid-19-Impfstoffe informiert hat, wird sich der vorliegende Text mit dem Pro und Contra beschäftigen, ob auch Kinder und Jugendliche eine Impfung gegen Covid-19 erhalten sollten. Dieses Thema wird zurzeit unter Fachleuten und in der Politik kontrovers diskutiert. Im Mittelpunkt dieses Textes steht dabei ein informativer Artikel aus der Juni-Ausgabe der wissenschaftlichen Zeitschrift Der Arzneimittelbrief, der sich mit dieser Thematik auseinandersetzt.
Zusammenfassende Einschätzung
In einer randomisierten plazebokontrollierten Studie, die dem Zulassungsantrag für Comirnaty zugrunde lag, zeigte sich der Impfstoff bei Heranwachsenden im Alter von zwölf bis 15 Jahren gut wirksam, bei allerdings häufigen Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Kopfschmerzen und Fieber.
Auf der Basis der bisher vorliegenden Daten sprechen sich die Autoren des Arzneimittelbriefs gegen eine generelle Empfehlung für eine Impfung gegen SARS-CoV-2 bei Kindern und Jugendlichen aus.
Zu aufgeführten Gründen zählen die meist symptomlosen oder milden Verläufe einer Corona-Infektion bei Kindern und Jugendlichen, die vermehrt auftretenden akuten Nebenwirkungen der Impfstoffe bei den jüngeren Studienteilnehmern und vor allem die fehlenden Daten zu mittel- und langfristigen Nebenwirkungen sowie die vermutlich eher untergeordnete Rolle der SARS-CoV-2-Infektionen bei Kindern und Jugendlichen für das Pandemiegeschehen. Dazu kommen die bisher spärlichen Erkenntnisse zu Langzeit-Folgeerkrankungen einer Covid-Infektion bei dieser Altersgruppe.
Eine Impfung gegen Covid-19 könne jedoch bei chronisch kranken Kindern sinnvoll sein, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf haben. In diesem Sinne ist, entsprechend der Empfehlung zur Impfung gegen Influenza, nun auch die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) des Robert-Koch-Instituts (RKI) gegen SARS-CoV-2 ausgefallen.
Einzelheiten zur Zulassungsstudie
Kurz vor der zitierten Empfehlung der EMA waren Ergebnisse der zugrundeliegenden Studie, die von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Biontech-Pfizer erstellt worden ist, im renommierten New England Journal of Medicine veröffentlich worden.
In dieser Studie wurden die Sicherheit, Immunogenität und Wirksamkeit von zwei Impfungen mit Comirnaty mit Plazebo (Kochsalzlösung) verglichen. Ab einer Woche nach der zweiten Impfung wurde in der Plazebogruppe (n = 978) bei 16 Personen Covid-19 diagnostiziert und bei keiner Person in der Impfstoffgruppe (n = 1.005).
Covid-19 war definiert durch einen positiven PCR-Test plus mindestens einem Symptom wie etwa Fieber, Husten oder Atemnot. Schwere Verläufe traten in keiner Gruppe auf. Die Wirksamkeit der Impfung wird mit 100 Prozent angegeben ohne Hinweis darauf, dass es sich dabei um eine relative Risikoreduktion (RRR) handelt, und ohne die absolute Risikoreduktion (ARR) zu berechnen.
An dieser Stelle sei ergänzt: Wenn man auf der Basis der oben angegebenen Daten für diese Studie die absolute Risikoreduktion berechnet, dann erhält man für die ARR einen Wert von 1,6 Prozent und für die NNV ("number needed to vaccinate") einen Wert von 63. Das bedeutet, dass 63 Heranwachsende geimpft werden müssen, um einen Krankheitsfall zu verhindern. Das sind natürlich ernüchternde Ergebnisse im Vergleich zu den 100 Prozent Wirksamkeit bei der RRR.
Zur Impfstoffwirksamkeit wurden auch die Antikörpertiter von 190 zufällig ausgewählten Teilnehmern im Alter von zwölf bis15 Jahren mit den Titern von 170 Teilnehmern im Alter von 16 bis 25 Jahren verglichen. Danach war die Immunantwort der jüngeren Teilnehmer mit der Reaktion der älteren vergleichbar.
In der Studie wird angegeben, dass bei Jugendlichen im Alter von zwölf bis 15 Jahren nach der Impfung ähnliche akute Nebenwirkungen wie bei Teilnehmern ab 16 Jahren auftraten.
In einer Information der FDA (US-amerikanischen Arzneimittelbehörde) werden die Nebenwirkungen der beiden Altersgruppen aus klinischen Studien gegenübergestellt. Dabei wird deutlich, dass bei den jüngeren Teilnehmern häufiger Nebenwirkungen berichtet werden als bei den älteren.
So wurde beispielsweise öfter berichtet über Schmerzen an der Injektionsstelle, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Schüttelfrost und Fieber. Anhand der oben genannten Daten der Original-Publikation sei das so aber nicht nachzuvollziehen, da die Häufigkeiten der Nebenwirkungen in den beiden Altersgruppen dort als ähnlich beschrieben werden, kritisiert der Autor des Arzneimittelbriefs.
Die EMA weist darauf hin, dass zurzeit sehr seltene Fälle von Myo- und Perikarditis untersucht werden, die nach einer Impfung mit Comirnaty aufgetreten seien. Aktuell gäbe es jedoch keine Hinweise darauf, dass die Erkrankungen durch die Impfung verursacht wurden.
Weiterhin muss bedacht werden, dass in den klinischen Studien von BioNTech/Pfizer Personen mit bekannten Allergien gegen einen der Inhaltsstoffe und alle Personen mit schweren allergischen Reaktionen nach irgendeiner Impfung ausgeschlossen werden. Die schweren allergischen Reaktionen nach Verabreichung von Comirnaty bei Erwachsenen wurden deshalb erst außerhalb von klinischen Studien festgestellt.
Zur Häufigkeit dieser Nebenwirkungen bei Kindern und Jugendlichen liegen dazu noch keine Kenntnisse vor. Auch zu weiteren potenziellen seltenen Nebenwirkungen können aufgrund der sehr begrenzten Zahl von Studienteilnehmern bisher keine Aussagen gemacht werden.
Ärzteschaft gespalten und die Politik macht Druck
Der 124. Deutsche Ärztetag Anfang Mai 2021 hat die Bundesregierung aufgefordert, für Kinder und Jugendliche eine Covid-19-Impfstrategie zu entwickeln, weil nur durch Impfung der jüngeren Bevölkerung eine Herdenimmunität erreicht werden könne und auch Kinder und Jugendliche deutliche gesundheitliche Risiken infolge einer SARS-CoV-2-Infektion hätten.
Von der Bundesregierung wurde daraufhin auf der Ministerpräsidentenkonferenz der Bundesländer am 27. Mai beschlossen, dass ab dem 7. Juni Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren beim Impfen allen anderen Personen gleichgestellt werden sollen.
Die oben schon erwähnte Empfehlung der Stiko wurde für den Beschluss aber nicht abgewartet. So hat am 10. Juni die Stiko eine Impfung mit Comirnaty nur bei Kindern und Jugendlichen mit Vorerkrankungen empfohlen, bei denen ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 anzunehmen ist.
Auch andere ärztliche Institutionen halten eine gründliche Diskussion von Nutzen und Schaden der Impfung bei Kindern und Jugendlichen für unerlässlich. So warnen beispielsweise die Ärztekammern von Hamburg und Sachsen-Anhalt vor vorschnellen Corona-Impfungen in dieser Altersgruppe.
Auch das Netzwerk Evidenz-basierte Medizin hat sich zu diesem Thema schon im Mai zu Wort gemeldet und verlangt einen sorgfältigen Diskurs zum Stellenwert der Impfung bei Kindern und Jugendlichen.
Nutzens- und Schadenspotential der Impfung bei Kindern und Jugendlichen
Die bisher vorliegenden Erkenntnisse legen nahe, dass Covid-19 Verläufe bei den symptomatisch werdenden Kindern und Jugendlichen in der Regel mild sind. Diese Altersgruppe hat ein sehr geringes Risiko, zu sterben oder schwere Verläufe zu erleiden.
So weisen die Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie (DGPI) und die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) im April 2021 darauf hin, dass seit Beginn der Pandemie von den schätzungsweise 14 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland nur etwa 1.200 mit einer SARS-CoV-2-Infektion im Krankenhaus behandelt werden mussten (weniger als 0,01 Prozent) und vier an ihrer Infektion starben (weniger als 0,00002 Prozent).
Zur Einordnung der Zahlen werden im Arzneimittelbrief folgende Beispiele angegeben: In der Saison 2018/19 wurden nach Angaben des RKI insgesamt 7.461 Kinder jünger als 14 Jahren mit Influenza als hospitalisiert gemeldet, neun Kinder starben. Im Jahr 2019 lag die Zahl der durch einen Verkehrsunfall getöteten Kinder bei 55 und die Zahl der ertrunkenen Kinder bei 25.
Das Risiko für einen schweren Verlauf kann aber bei vorerkrankten Kindern und Jugendlichen höher sein. Welche Kinder und Jugendliche jedoch zu diesen vulnerablen Gruppen gehören und wie hoch ihr Risiko für schwere Verläufe ist, muss aber systematisch untersucht werden.
Sehr selten kann es bei Kindern im Anschluss an eine Infektion mit SARS-CoV-2 zu einem Entzündungssyndrom kommen, das verschiedene Organe betrifft und PIMS ("Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome") genannt wird. Erste Auswertungen zu dem neuen Krankheitsbild zeigen, dass die Kinder im Rahmen der Erkrankung oft intensivpflichtig werden, sich dann aber gut erholen. Ein tödlicher Verlauf wurde in Deutschland bisher nicht berichtet.
Nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 wurden auch mittel- bis langfristige Krankheitsverläufe bei Kindern und Jugendlichen beschrieben (Post-Covid-19 oder Long-Covid-19). Einzelheiten zu der Erkrankung, darunter Daten zur Häufigkeit und zu spezifischen Symptomen des Krankheitsbildes, fehlen jedoch noch.
Akute Nebenwirkungen der SARS-CoV-2-Impfstoffe scheinen bei jüngeren Personen häufiger aufzutreten. Mittel- und langfristige Nebenwirkungen der SARS-CoV-2-Impfungen bei Kindern und Jugendlichen können zurzeit naturgemäß noch nicht abgeschätzt werden, das Risiko ist in dieser Altersgruppe aber besonders zu beachten.
Angesichts der Hypothese, dass PIMS durch eine gestörte Immunregulation bei einer SARS-CoV-2-Infektion ausgelöst wird, sollten Kinder nach der Impfung insbesondere auf immunologische Nebenwirkungen sorgfältig überwacht werden. Nebenwirkungen sollen beispielsweise bei der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft gemeldet werden.
Nutzen der Impfung hinsichtlich des Pandemiegeschehens
Zur Bedeutung von Kindern und Jugendlichen für das epidemiologische Geschehen der Covid-19-Pandemie kommt das RKI nach Auswertung eigener Daten und einer Literaturübersicht zu dem Schluss, dass Schüler und Schülerinnen eher nicht als "Motor" der Pandemie eine größere Rolle spielen, aber dass die Häufigkeit der Infektion in einer engen Beziehung zur Inzidenz in der Gesamtbevölkerung steht.
Laut RKI scheinen Lehrerinnen und Lehrer für Ausbrüche vielleicht eine wichtigere Rolle zu spielen als Schülerinnen und Schüler, vor allem im Vergleich zu der jüngsten Altersgruppe (sechs bis zehn Jahre). Die DGPI und die DGKH weisen darauf hin, dass ein Zusammenhang zwischen Infektionen in der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen und der Überlastung der Intensivstationen sowie den schweren und tödlichen Verläufen der älteren Erwachsenen nicht belegt ist.
Solange die Verfügbarkeit von Impfstoffen begrenzt ist, muss der Stellenwert der Impfung von Kindern und Jugendlichen auch hinsichtlich einer Impfung von Personen mit einem höheren Erkrankungsrisiko abgewogen werden, meint das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin in seiner Stellungnahme.
Ein Artikel in der diesjährigen März-Ausgabe des Arzneimittelbriefs weist darauf hin, dass es hier auch gelte, global Verantwortung zu übernehmen. Die WHO appelliert eindringlich an die reichen Nationen, mit den SARS-CoV-2-Impfstoffen jetzt nicht Kinder und Jugendliche zu impfen, sondern sie an ärmere Länder zu verteilen, in denen vielfach nicht einmal Beschäftigte im Gesundheitswesen geimpft sind. Dies könnte auch dem Selektionsdruck zur Entstehung neuer Virusvarianten und ihrer Ausbreitung entgegenwirken.
Zu der Frage, ob Kinder und Jugendliche zum jetzigen Zeitpunkt gegen Covid-19 geimpft werden sollten, hat Wolf-Dieter Ludwig, seit 15 Jahren Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und zugleich einer der Herausgeber des Arzneimittelbriefs, der Journalistin Martina Frei kürzlich ein aufschlussreiches Interview gegeben, dass vom schweizerischen Online-Portal infosperber veröffentlicht wurde. Dort findet sich von ihm folgendes abschließende Aussage:
Die Infektion mit Sars-CoV-2 verläuft in dieser Altersgruppe meist symptomlos oder mild. Zudem hat man in den klinischen Studien gesehen, dass bei den jüngeren Teilnehmern mehr Nebenwirkungen auftraten als bei den älteren. Außerdem spielen Kinder und Jugendliche wahrscheinlich eher eine untergeordnete Rolle im Pandemiegeschehen. Es ist auch nicht belegt, dass Infektionen in dieser Altersgruppe zu einer Überlastung von Intensivstationen führen. Vor allem aber fehlen noch Daten zu den mittel- und langfristigen Nebenwirkungen der Sars-CoV-2-Impfstoffe bei Kindern und Jugendlichen. Ich halte deshalb die Empfehlung der Ständigen Impfkommission STIKO in Deutschland, derzeit nur Kinder ab 12 Jahre mit Vorerkrankungen zu impfen, aus medizinischer, aber auch aus ethischer Sicht für gerechtfertigt.
Wolf-Dieter Ludwig
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin - Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin- Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.