Osterweiterung: "Fehler von historischem Ausmaß"

Selbstbestimmung vs. Diplomatie

Doch gemach, wenden die Vertreter des politischen Mainstreams an dieser Stelle stets ein, haben die ehemaligen Ostblock-Länder etwa kein Recht auf Selbstbestimmung? Aber ja! Hieße auf Russlands Widerstand gegen die NATO-Osterweiterung Rücksicht zu nehmen dann nicht, diesen Ländern Putins Willen aufzuzwingen? Aber Nein! Denn falls die NATO eine solche Mitgliedschaft für sinnlos, ja, kontraindiziert hielte (nämlich aus den oben genannten Gründen), hätte sie dann nicht ihrerseits das Recht, einen solchen Bewerber abzulehnen? Bedeutet das Interesse an einer Aufnahme in die NATO etwa eine Verpflichtung, diesem Ansinnen in jedem Falle nachzukommen?

Dazu Egon Bahr im Zeit-Interview von 1997: "Entscheidend ist ja nicht der Wunsch der einzelnen Länder, Mitglied zu werden, sondern die Frage, ob die Parlamente aller NATO-Mitglieder der Erweiterung zustimmen. Wenn eines davon nein sagt, heißt das bekanntlich nein. Darin liegt die Grenze des Selbstbestimmungsrechtes der anderen, die sich um Aufnahme bemühen."

Nun hat die NATO aber bereits zwölfmal "Ja" gesagt. Und seit dem NATO-Gipfel von 2008 sind auch Georgien und die Ukraine für eine zukünftige Mitgliedschaft vorgesehen. Aus diesen Tatsachen erwachsen ein paar Fragen, die für die Aufarbeitung des Themas von elementarer Bedeutung sind: Welche Strategie haben die Vertreter der NATO eigentlich mit dem Expansionskurs verfolgt? Glaubten die Befürworter der grenzenlosen Erweiterung, dass ein militärisch (und wirtschaftlich) weitgehend vereintes Europa - unter Ausschluss Russlands - eine Konzeption sei, die Frieden und Sicherheit in Europa befördert? Hat man die Warnungen vor den möglichen Folgen dieser Strategie einfach nur überhört? Oder wollte man sie vielleicht sogar überhören?

Bruch eines Versprechens?

Doch zunächst zu einem weiteren Zankapfel der Geschichte, der in diesem Kontext bedeutend ist: Gab es eine Vereinbarung mit Gorbatschow, dass sich die NATO nach der deutschen Einheit nicht gen Osten ausweiten würde? Beklagen die Russen zurecht, dass man mit der NATO-Osterweiterung ein Versprechen gebrochen habe?

Am 2. Februar 1990 trat Hans Dietrich Genscher nach einem Treffen mit James Baker, dem damaligen Außenminister der USA, vor die TV-Kameras und verkündete: "Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir da nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell."

Der "Spiegel", in der Ukraine-Frage später eher hetzerisch unterwegs ("Stoppt Putin jetzt!", 31, 2014), schrieb zu diesem heiklen Thema 2009: Es könne "keinen Zweifel geben, dass der Westen alles getan hat, den Sowjets den Eindruck zu vermitteln, eine NATO-Mitgliedschaft von Ländern wie Polen, Ungarn oder der CSSR sei ausgeschlossen".

Zitiert wird aus einem bis dahin geheimen Vermerk über ein Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse vom 10. Februar 1990: "Uns sei bewusst, dass die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur NATO komplizierte Fragen aufwerfe. Für uns stehe aber fest: Die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen." Und schließlich erwähnt der "Spiegel" noch einen Auftritt von Baker im Kreml vom 9. Februar, bei dem er verkündete, dass sich die NATO "nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen" würde ().

Man muss diese Aussagen nicht zwingend als ewiges Versprechen deuten, völlig abwegig wäre diese Interpretation jedoch gewiss nicht.