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Impfpflicht? Wunschdenken!

Debatte über obligatorische Immunisierung gegen Corona reißt nicht ab. Befürworter werden wenig konkret. Sie werden wissen, warum. Ein Kommentar

Angesichts steigender Zahlen bei den Corona-Neuinfektionen kommt die Debatte um eine allgemeine oder auf bestimmte Berufsgruppen beschränkte Impfpflicht nicht zur Ruhe. Nun hat sich die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina für die Ausweitung von 2G-Regeln wie auch für Impfpflichten in bestimmten Berufen ausgesprochen.

Leopoldina-Präsident Gerald Haug brachte gegenüber dem Spiegel "Impfpflichten für Multiplikatoren" ins Spiel, gemeint ist damit zunächst Pflege und Lehrpersonal, aber auch andere Berufsgruppen mit engem Personenkontakt.

Die Diskussion verläuft so diffus wie willkürlich. Bayerns CSU-Gesundheitsminister Klaus Holetschek etwa steht einer Corona-Impfpflicht skeptisch gegenüber, weil ein Zwang "immer auch Gegenwehr" auslöse, wie er dem Evangelischen Pressedienst sagte. Seine Landesregierung werde sich mit dem Thema "weiterhin intensiv auseinandersetzen".

In einer anderen Ecke der Republik machte sich die parteilose Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker vorwiegend Sorge um die bevorstehende Karnevalssaison: "Ich fürchte, dass wenn wir bis Weihnachten keinen richtigen Schub bei der Impfquote haben, werden wir über eine Impfpflicht für alle diskutieren müssen", sagte Reker dem Kölner Stadtanzeiger.

"Intensiv auseinandersetzen" und "werden wir diskutieren müssen" aber sind Ausdrücke der politischen Hilf- und Ahnungslosigkeit. Fakt ist, dass trotz zahlreicher Meinungsbekundungen von Befürwortern und Gegnern einer allgemeinen oder sektoralen Impfpflicht ein solches Vorhaben bisher kaum konkretisiert worden ist. Und dafür gibt es gute Gründe.

Eine Impfpflicht und der damit einhergehende schwere Eingriff in die Grundrechte und Persönlichkeitsrechte der Bürgerinnen und Bürger darf nach dem Grundgesetz nur die Ultima Ratio sein und bedarf darüber hinaus einer guten Begründung.

Sollte eine Impfpflicht ernsthaft im Zuge eines Gesetzgebungsverfahrens diskutiert werden, müssten sich die Autoren also zunächst mit der Frage auseinandersetzen, ob und inwieweit andere Schutzmaßnahmen ausgeschöpft worden sind. Angesichts der aus Kostengründen eingestellten und nun wieder eingeführten Gratis-Schnelltests sähe es für ein konkretes Gesetzesvorhaben wohl nicht gut aus.

Wen schützen die Corona-Impfungen mittel- und unmittelbar?

Schwerwiegender aber wäre die Frage, ob die Impfung gegen Sars-CoV-2 und seine Varianten einen derart umfassenden Schutz bietet, dass eine obligatorische Impfung gerechtfertigt ist. Und das ist die große offene Flanke der Befürworter einer Impfpflicht.

Denn mit zunehmender Dauer der Impfkampagne nach "teleskopierten", also zeitlich verkürzten und sich überschneidenden Phase-I bis -III-Studien, mehren sich die Zweifel an einer – Achtung! – für eine Impfpflicht hinreichenden Wirksamkeit der Vakzine.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) weist zwar darauf hin [1], dass die Wahrscheinlichkeit, schwer an Covid-19 zu erkranken, bei den vollständig geimpften Personen um etwa 90 Prozent geringer ist als bei den nicht geimpften Personen, was eine Immunisierung – wieder Achtung! – sinnvoll macht. Auch bezeichnet das RKI die Impfdurchbrüche, also die Infektion trotz Impfung, als "äußerst gering" und "erwartbar" [2].

Dennoch mussten die Hoffnungen in die bei uns in der EU zugelassenen Corona-Vakzine seit Beginn der Impfkampagne mehrfach gedämpft werden. War zu Beginn etwa bei dem mRNA-Impfstoff von Biontech und Pfizer noch von einer "Wirksamkeit" von 95 Prozent die Rede [3], was bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, an dem Virus zu erkranken, bei geimpften Probanden um diesen Prozentsatz geringer war als bei der Placebo-Gruppe. Doch diese zu Beginn der Impfkampagne werbewirksam verbreiteten Angaben stellten nur eine Momentaufnahme dar.

Die Impfdurchbrüche haben sich erst später gezeigt und bleiben eine Variable. Zuletzt waren 34,5 Prozent der über 60 Jahre alten Intensivpatienten [4], die zwischen dem 10. Oktober und dem 31. Oktober vom Robert Koch-Institut (RKI) registriert wurden und an Covid-19 erkrankt waren, geimpft. Vor allem diese Alterskohorte bedarf bei einer Erkrankung intensivmedizinischer Pflege.

Zugleich hat sich die Erkenntnis eingestellt, dass durch die Impfungen keine sterile Immunität erreicht werden kann. Befürworter einer sektoralen oder allgemeinen Impfpflicht argumentieren an dieser Stelle mit der Virenlast und der daraus resultierenden höheren Infektiosität Nicht-Geimpfter. Ob dieses Argument bei etwaigen juristischen Auseinandersetzungen Bestand hätte, ist unklar.

Vergleich mit der Masern-Impfung hinkt

Der Ärzteverband Marburger Bund hat sich nun bei seiner Hauptversammlung dennoch für eine Corona-Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen ausgesprochen [5] und dabei den Vergleich zur obligatorischen Masern-Impfung angestrengt. Doch dabei gibt es erhebliche Unterschiede, wie eine Infoseite von Regierung und Fachinstituten bestätigt. Dort heißt es zur Wirksamkeit und sterilen Immunität der Masern-Impfung [6]:

Die zweimalige Masern-Schutzimpfung schützt 98 bis 99 Prozent der Geimpften. Damit gehört die Masern-Schutzimpfung zu den wirksamsten Impfungen überhaupt. (…) Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass das abgeschwächte Masern-Impfvirus nach der Impfung ausgeschieden oder auf weitere Kontaktpersonen übertragen wird.

Viele dieser Fragen der konkreten Ausgestaltung einer möglichen Impfpflicht werden in der Debatte bislang ausgespart. Die Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags geben einen - wenn auch vagen - Eindruck, wie schwierig ein solches Unterfangen wäre.

Bei der Bundeswehr, heißt es dort, sei im Zuge der "soldatischen Gesunderhaltungspflicht" zwar der Basis-Impfschutz gegen Tetanus, Diphtherie, Polio, Keuchhusten, Grippe, Mumps, Masern, Hepatitis und FSME verpflichtend, um eine Schwächung der Einsatzbereitschaft militärischer Verbände zu vermeiden, Ausnahmen müssen begründet werden (BVerwG, Beschluss vom 22. Dezember 2020, Az. 2 WNB 8.20). Eine Corona-Impfpflicht gibt es aber bislang selbst im Soldatengesetz nicht [7].

Allgemein gelten dürfte die Einschätzung der Parlamentsjuristen in Bezug auf eine Impfpflicht bei Kindern [8]. Es müsse "eine gewisse Gefahr bestehen, gemessen anhand von Inzidenz- und anderer wissenschaftlicher Werte, um die Erforderlichkeit einer Impfpflicht zu rechtfertigen".

Die Universität Konstanz übrigens hat im Frühjahr 2020 rund 2.600 Personen hinsichtlich ihrer Bereitschaft zur freiwilligen Impfung und möglicher Reaktionen auf eine Impfpflicht befragt [9] und diese Befragung im Herbst wiederholt. Die freiwillige Impfbereitschaft blieb mit zwei Dritteln unverändert hoch. Bei einer Impfpflicht hingegen würden sich nur noch zwischen 28 und 44 Prozent der Befragten impfen lassen [10].


Redaktioneller Hinweis: Der Passus zur Wirksamkeit der zugelassenen Vakzine und den Impfdurchbrüchen wurde gegenüber einer früheren Version dieses Textes angepasst und das Konzept der Wirksamkeit genauer erklärt. Es ging nicht um einen unmittelbaren Vergleich der Zahlen, sondern um das Aufzeigen von Trends zur erhofften Effizienz der Impfungen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6263465

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_Wirksamkeit.html
[2] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/128615/Impfdurchbrueche-auf-niedrigem-Niveau
[3] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-impfstoff-biontech-zulassung-usa-100.html
[4] https://www.mdr.de/brisant/corona-impfdurchbrueche-100.html
[5] https://www.tagesschau.de/inland/debatte-impfpflicht-101.html
[6] https://www.masernschutz.de/themen/masern-impfung/
[7] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/119356/Regierung-prueft-offenbar-Coronaimpfpflicht-fuer-Bundeswehr
[8] https://www.bundestag.de/resource/blob/854090/d3e9e990e9f54c1d01aed1880a35d0f8/WD-3-113-21-pdf-data.pdf
[9] https://www.pnas.org/content/118/25/e2104912118
[10] https://www.uni-konstanz.de/universitaet/aktuelles-und-medien/aktuelle-meldungen/aktuelles/wie-sich-corona-impfverweigerung-ueberwinden-laesst-neue-erkenntnisse/