IST DAS INTERNET COOL ODER HOT?
McLuhans Mediendifferenz und die transmediale Binnenstruktur des Internet
- IST DAS INTERNET COOL ODER HOT?
- McLuhans Mediendifferenz - heiße und kühle Medien
- McLuhans Mediendifferenz und die transmediale Binnenstruktur des Internet
- Die transmediale Verfassung des Internet und die Ambivalenz virtueller Gemeinschaften
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Um die Fallstricke des technologischen Determinismus zu vermeiden, die McLuhans Mediendifferenz umspannen, schlage ich eine pragmatistische Reinterpretation dieser Unterscheidung vor. Die Grundlage für diese Reinterpretation habe ich vorweg bereits gelegt, als ich darauf hinwies, daß die Unterscheidung zwischen kühlen und heißen Medien nur in relationaler Verwendungsweise sinnvoll ist. Ein Medium ist nicht von sich aus kühl oder heiß, sondern immer in Relation zu einem anderen Medium.
Eine explizit pragmatistische Wendung erfährt dieser Aspekt, wenn man sich klarmacht, daß die Relation zwischen zwei oder mehreren Medien erst von der Gemeinschaft der Mediennutzer hergestellt wird. Die Nutzer konstruieren durch sozial habitualisierte Weisen des Mediengebrauchs das, was ein Medium jeweils ist. Medien sind aus dieser gebrauchstheoretischen Sicht nicht als wahrnehmungstechnische Erweiterungen von Sinnesorganen, sondern vielmehr als soziale Konstruktionen zu verstehen.
Diese Konstruktionen können dann ihrerseits wiederum in bestimmten Relationen zu denjenigen sozial habitualisierten Wahrnehmungsgewohnheiten stehen, die das definieren, was wir gewohnt sind, als unsere 'Sinne' zu bezeichnen. Das bedeutet mit Blick auf die Unterscheidung von heißen und kühlen Medien: Ein Medium kann aus der Perspektive des Anwenders einmal als heiß und einmal als kalt erscheinen - je nachdem aus welcher Differenzerfahrung mit einem anderen Medium heraus er es beschreibt und welchen Gebrauch er von ihm macht.
Beim Internet kommt darüber hinaus sein auf der technischen Ebene selbst in mehrfacher Hinsicht hybrider Charakter komplizierend hinzu. Die transmediale Struktur des Internet, in der unterschiedliche Medientypen miteinander verflochten sind, hat ihr Fundament in der prinzipiellen Transmedialität, die bereits dem nicht vernetzten Computer eignet. Darauf weist de Kerckhove hin, wenn er mit Blick auf das Stand-alone-Gerät schreibt: "Der Computer gleicht einem Fernsehbildschirm, der uns mit Vehemenz zum Buch zurückführt."
Rheingold bringt darüber hinaus die für das Internet charakteristische externe Transmedialität in den Blick, wenn er schreibt: "Die sozialen Entfaltungsmöglichkeiten erwachsen aus der Macht, die einfache Bürger gewinnen, wenn zwei ursprünglich unabhängige, ausgereifte, vollkommen unzusammenhängende Technologien miteinander verbunden werden. Es hat Milliarden von Dollars gekostet und Jahrzehnte gedauert, bis preiswerte PCs entwickelt waren. Es hat Milliarden von Dollars gekostet und mehr als ein Jahrhundert gedauert, bis das weltweite Telekommunikationsnetz verkabelt war. Mit den richtigen Kenntnissen, die gar nicht so umfangreich sind, kann heutzutage ein zehnjähriges Kind diese beiden gigantischen Technologien für ein paar hundert Dollar zusammenstecken und sofort seine Meinung angeberisch kundtun, sich Zugang zur Library of Congress und zu einer Welt potentieller Konspirateure verschaffen."
Das Internet funktioniert als ein komplexes Transmedium. Es verbindet Aspekte des Fernsehens, des Telefons, des Radios und des Buchdrucks mit Hilfe der selbst schon transmedialen Basistechnologie des digitalen Computers. Was bedeutet das für die kulturellen Praktiken der Internetnutzung?
Um die transmediale Binnenstruktur des Internet auf der Mediennutzungsebene differenziert in den Blick zu bringen, ist es hilfreich, das Verhältnis von heißen und kühlen Elementen zu präzisieren, durch welches der Umgang mit dem Internet gegenwärtig charakterisiert ist. Zu diesem Zweck ist es notwendig, die unterschiedlichen software-technischen Grundlagen und die kulturellen Praktiken, die darauf aufsetzen und das Netz zu dem machen, was es ist, differenziert in den Blick zu nehmen.
Im Zentrum des Internet steht heute die graphische Anwenderoberfläche des World Wide Web (WWW). Sie wurde 1989 von den Physikern Tim Berners-Lee und Robert Cailliau am europäischen Laboratorium für Teilchenphysik CERN in Genf entwickelt. Die ersten PC-Versionen von WWW-Browsern, mit denen man die graphische Anwenderoberfläche des World Wide Web bedient, wurden 1993 vom National Center for Supercomputing Applications (NCSA) der University of Illinois unter dem Namen Mosaic vorgestellt. Der gegenwärtig am meisten verbreitete WWW-Browser Netscape wurde 1994 entwickelt. Erst diese benutzerfreundlichen Browseroberflächen haben zu dem weltweiten 'Bit Bang' geführt, den wir gegenwärtig erleben. Sie sind die 'killer applications', die das World Wide Web zu einem Massenphänomen gemacht haben, dessen Extension sich im Jahr 1995 alle 53 Tage verdoppelte.
Dieses bereits als 'biologisch' zu bezeichnende Wachstum wurde dadurch möglich, daß jeder, der einen PC, einen Internetanschluß, die entsprechende Software und zusätzlich vielleicht noch Zugang zu einer Videokamera, einem Fotoapparat und einem Scanner hat, im World Wide Web seine eigenen multimedialen Webseiten designen, seine eigene Homepage gestalten kann. Die Seiten des World Wide Web sind keine isolierten Entitäten, sondern bilden sowohl intern als auch untereinander ein hypertextuelles Geflecht. Diese den Kernbereich des World Wide Web ausmachenden Hypertextdokumente können mittels der einfachen Markierungssprache HTML (HyperText Markup Language) so strukturiert werden, daß der Text nicht eine fixe lineare Sequenz darstellt, sondern als ein aktiv zu gestaltendes Netzwerk von Textbausteinen funktioniert. Jeder Textbaustein enthält eine Vielzahl anklickbarer Stichworte, Piktogramme und Bilder: die sogenannten 'Links'. Diese flexibel veränderbaren Schnittstellen verbinden die Textbausteine zu einem komplexen Netzwerk.
Von der hypertextuellen Multimedia-Oberfläche des World Wide Web sind die älteren, klassischen Dienste des Internet zu unterscheiden. Zu diesen Anwendungen zählen Dienste, die von E-mail und Talk über die Net News und Mailinglisten bis zum IRC, den MUDs und MOOs reichen. Ihnen ist gemeinsam, daß sie im Unterschied zum hypertextuellen und multimedialen World Wide Web noch am Modell lineartextueller und monomedialer Schriftlichkeit orientiert sind. Da diese Dienste zunehmend ins Web integriert werden, geraten die Grenzen zwischen den 'alten' und den 'neuen' Diensten zwar immer mehr in Bewegung, aber als heuristisches Instrument ist die Abgrenzung der lineartextuellen von den hypertextuellen Bereichen des World Wide Web für die Beschreibung des aktuellen Zustands des Internet noch tragfähig. Das wird sich in Zukunft vermutlich ändern.
Das Interessante an den lineartextuellen Bereichen des Internet besteht darin, daß in einigen von ihnen die Schrift auf neuartige Weise verwendet wird. Das gilt insbesondere für das IRC, die MUDs und MOOs. IRC ist die Abkürzung für Internet Relay Chat. Dabei handelt es sich um eine komplexe Diskussionslandschaft, die aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gesprächsforen - den Channels - besteht. Hier treffen sich Menschen aus aller Welt on-line, um sich unter selbst gewählten Decknamen schriftlich und gleichwohl synchron miteinander zu unterhalten und die neuesten Informationen zu diversen Themen auszutauschen.
MUD ist die Abkürzung für Multi User Dungeon. Dabei handelt es sich um schriftbasierte, virtuelle 'Spielhöllen'. Eine Vielzahl von unterschiedlichen Teilnehmern loggt sich gleichzeitig in eine fiktionale textbasierte Spiellandschaft ein, um im Kampf mit anderen Teilnehmern und programmierten Robots sogenannte 'Erfahrungspunkte' zu sammeln und in der Hierarchie des jeweiligen Spiels zum 'Wizard' oder 'God' aufzusteigen.
MOO steht für Multi User Dungeon Object Oriented. Hierbei handelt es sich im Unterschied zu den streng hierarchisch organisierten und zum Teil recht gewalttätigen Abenteuer-MUDs um Kommunikationslandschaften, in deren Zentrum Kooperation, Solidarität, Bildung und Wissenschaft stehen. Jeder Teilnehmer erhält von Anfang an Programmierrechte, d.h. er kann Räume und Objekte kreieren und die gemeinsame Interaktionslandschaft selbstständig mitgestalten. In den USA werden MOOs bereits seit einigen Jahren als interaktive Kommunikationslandschaften genutzt, in denen Eltern und Kinder, Lehrende und Lernende gemeinsam mit dem neuen Medium Internet Erfahrungen sammeln bzw. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Kontakte pflegen und Fachthemen diskutieren können.
Im IRC, in den MUDs und MOOs fungiert die Schrift als Medium der direkten synchronen Kommunikation zwischen Gesprächspartnern, die physisch getrennt sind und sich im Regelfall noch nie zuvor gesehen haben. Die dem Schriftmedium des Buches eigene Anonymität verbindet sich im "Chat" mit der synchronen Interaktivität und der aktuellen Präsenz der Gesprächspartner, die als charakteristisch für die gesprochene Sprache in der face-to-face-Kommunikation gilt. In der "Computer Mediated Communication" verflechten sich demnach Merkmale, die bisher als Differenzkriterien zur Unterscheidung von Sprache und Schrift dienten. Die Übergänge zwischen Sprache und Schrift werden fließend. Die traditionelle Auszeichnung der gesprochenen Sprache als Medium der Präsenz wird problematisch.
Auf dem Hintergrund der Binnendifferenzierung des Internet in den hypertextuellen Bereich des World Wide Web und den lineartextuellen Bereich der Kommunikationsdienste wird klar, daß bereits innerhalb des Mediums kühlere Bereiche von heißeren Bereichen zu unterscheiden sind. Das multisensorische World Wide Web hat einige Züge, die uns vom kühlen Medium Fernsehen her bekannt sind.
Auch im World Wide Web wird der Nutzer - sofern er von akustischen und visuellen Anwendungen Gebrauch macht - sehr stark in das Informations- und Unterhaltungsangebot des Netzes einbezogen. Darin unterscheidet sich die multisensorisch-taktile Welt des World Wide Web, in welche zukünftig mittels der Programmiersprachen Java und VRML (Virtual Reality Markup Language) 3D- und Virtual-Reality-Anwendungen integriert werden können, von der heißen Welt der gedruckten Buchstaben. Das gilt auch für die nicht aus Bildern, Audio- oder Videosequenzen, sondern aus geschriebenem Text bestehenden Bereiche des Web.
Der Umgang mit dem geschriebenen Text im World Wide Web ist ein anderer als der Textumgang, den wir aus der Buchlektüre kennen. Das Surfen im Netz, d.h. das Klicken auf markierte Wörter, die auf andere Dokumente verweisen, führt zu einem eher bildhaft-taktilen Umgang mit Texten. Der Text verweist uns nicht länger nur in den Horizont seines Sinnes und die sich damit verbindende Sphäre unserer verstehenden Innerlichkeit, die nach McLuhan visuell geprägt ist, sondern führt zu einer teilnehmenden und extrovertierten, unmittelbar in das vernetzte Textgeschehen involvierten, d.h. im Sinne McLuhans taktilen Tätigkeit.
Surfend produzieren wir hypertextuelle Sinnbilder und rhizomatische Zeichenkonstellationen. Ähnlich wie das Fernsehen und anders als der lineare Text reduziert der Hypertext die neutrale Distanz, emotionalisiert und aktiviert uns auf neuartige Art und Weise. Nicht zufällig ist für die Bewegung im Netz eine Metapher gewählt worden, die aus dem Bereich der sportlichen, d.h. der körperlichen Bewegung stammt: die Metapher des 'Surfens'. Ähnlich wie beim Fernsehen gibt es im World Wide Web eine Art gesamtkörperlicher Attraktion, welche das Surfen im Netz in uns auslöst.
Demgegenüber haben die klassischen Internet-Anwendungen, in denen die lineare Textualität bestimmend ist, klarerweise viele Ähnlichkeiten mit dem heißen Medium des Buchdrucks. Sie funktionieren über weite Strecken schlicht als digitale Kopien des gedruckten Textes und stabilisieren in uns die Haltung theoretischer Distanz. Dies gilt für das E-mail, die Mailinglisten und die Net News. Dabei handelt es sich um die heißen Bereiche des Internet. Schon bei diesen einfachen Diensten freilich zeichnen sich Übergänge zu eher kühlen Verwendungsweisen ab. Wie die Briefkultur oder die Institution des Rundschreibens führen die genannten elektronischen Dienste zu einer Entanonymisierung, d.h. zu einer interaktiven Personalisierung des Schriftgebrauchs.
Hier liegt der Ursprung der ersten 'virtuellen Gemeinschaften'. Sie sind - wie die kalifornische net community WELL - als einfache Black Board Systems entstanden. Die kühle Nutzung des heißen Mediums Schrift erlaubt die Erfahrung des 'global village', die das kühle Medium Fernsehen einzig im heißen, nämlich theoretisch-distanzierten Modus der passiven Beobachtung und der reaktiven Teilnahme ermöglicht hat, in politische und soziale Praxis umzusetzen. Zugleich diversifiziert es diese Erfahrung, indem es der Ausbildung von interessenspezifisch ausdifferenzierten Teilöffentlichkeiten Vorschub leistet.
Im IRC, in den MUDs und MOOs wird die kühle Nutzung des heißen Mediums Schrift noch weiter perfektioniert. Gegenüber den asynchronen Kommunikationsstrukturen, die durch E-mail, Mailinglisten oder NetNews ermöglicht werden, ist für die 'Chats' charakteristisch, daß in ihnen die Schrift in der Weise der gesprochenen Sprache für synchrone Kommunikation eingesetzt wird. In der Abgrenzung vom Buchdruck ist die gesprochene Sprache ein eher kühles Medium wie das Fernsehen und das Telefon. Und tatsächlich gibt es in den MUDs und MOOs eine fernsehartige Faszination , welche die Teilnehmer gesamtkörperlich in Anspruch nimmt und dazu führt, daß vielen MUD-Nutzern die On-line-Welt mit ihren virtuellen Identitäten und ihren virtuellen Freund- und Feindschaften sehr schnell als realer erscheint als die Off-line-Welt.
Die komplexe, transmediale Verfassung des Internet und die damit zusammenhängende Mischung aus kühlen und heißen Nutzungsformen, die für dieses Medium charakteristisch ist, können als Grundlage für das Verständnis der Ambivalenzen dienen, die von Turkle in ihrer Untersuchung der psychosozialen Effekte des Internet freigelegt worden sind.