Es ging "nicht um Journalismus, sondern um Politik"

Die Tageszeitung-Shop, Rudi-Dutschke-Strasse 25, Berlin. Foto: Molgreen / CC BY-SA 4.0

Interview mit Mathias Bröckers zum 40. Geburtstag der taz

40 Jahre sind seit Gründung der Berliner Tageszeitung "taz" vergangen. Als das Blatt im Herbst 1978 an den Start ging, sorgte es für reichlich Wirbel. Die taz war gegen den Mainstream in Medien und Politik gerichtet, wurde gar als "Terrorpostille" oder "Bombenlegerblatt" bezeichnet.

Vier Jahrzehnte später ist die taz längst selbst im Mainstream angekommen und fordert gerade verklausuliert den Einsatz der Bundeswehr in Syrien - für die "gute"Sache, versteht sich.

Mathias Bröckers war Mitbegründer der taz, kennt das Innenleben der Zeitung gut. Im Telepolis-Interview gibt er einen Einblick in die Zeit von damals und sagt, die taz könnte heute durchaus nocheinmal ein Gegengewicht zum Mainstream werden.

Herr Bröckers, die taz wurde gerade 40 Jahre alt und Sie haben für den taz-Verlag ein dickes Buch über die Geschichte gemacht. Es gab mal eine Zeit, da war die taz eine ziemlich gute Zeitung, oder?
Mathias Bröckers: Sie ist ja im Vergleich mit den anderen Tageszeitungen immer noch ziemlich okay. Wenn auch längst nicht mehr so radikal und unberechenbar wie in den ersten Jahren und damit allen anderen Zeitungen sehr viel ähnlicher geworden.
Da Sie ja von Anfang an dabei waren: Können Sie uns einmal zurück zu den Gründerjahren der taz führen. Wie wurde die taz gemacht?
Mathias Bröckers: Es ging den etwa 100 Leuten, die über verschiedene regionale Initiativen zusammengefunden hatten, nicht um Journalismus, sondern um Politik. Wir waren ja von dem, was Journalismus und Medien in den 1970er Jahren produzierten, zu genervt und entsetzt, als dass wir da mitmischen wollten. Wir wollten dem etwas entgegensetzen, "Gegenöffentlichkeit herstellen" war das Stichwort - den Themen und Stimmen, die in den Medien nicht vorkommen, ein Forum zu verschaffen.
Was war das damals für eine Zeit?
Mathias Bröckers: Die taz-Gründung war eine Reaktion auf den deutschen Herbst 1977, die "bleierne Zeit" der Jagd auf die RAF-Terroristen und angebliche "Sympathisanten", zu denen damals quasi jeder gehörte, der irgendwie links war.
Die Presse war nahezu gleichgeschaltet. Und Themen wie Ökologie, der Widerstand gegen Atomenergie, die Frauenbewegung und alles, was sich damals aufgemacht hatte, alternative Lebens-und Arbeitsformen auszuprobieren, kamen im Mainstream überhaupt nicht vor. Dem sollte und wollte die taz abhelfen.
Wie war denn die Reaktion der anderen Medien?
Mathias Bröckers: Die erste Meldung in der FAZ im Oktober 1978 fragte in der Überschrift zwar ängstlich: "Gründet die extreme Linke eine überregionale Tageszeitung?", doch von professionellen Journalisten und Medienexperten traute diesem "Spontiprojekt" keiner irgendetwas zu. Die taz hatte ja damals auf "crowdfunding" gesetzt, bevor es das Wort dafür gab, und gesagt: Wenn 3.000 Menschen ein Jahresabo vorab schalten, legen wir los.
Etwa gleichzeitig war eine weitere linke Tageszeitung namens "Die Neue" gestartet, die war mit einigen professionellen Journalisten besetzt und hatte auch aus irgendwelchen DKP-Ecken etwas Kapital im Hintergrund. Wenn überhaupt eine dieser linken Zeitungen ins Laufen kommen würde, dachten alle "Experten", dann "Die Neue", doch die ging nach kaum einem Jahr sang-und klanglos ein.
Die taz aber konnte weiter auf das setzen, was man heute community nennt - einen zwar kleinen, aber solidarischen Stamm von Abonnenten. Und für die alternative Szene war die Kleinanzeigenseite "Wiese" so was wie heute ebay, Facebook oder Tinder. Da juckte es die taz wenig, wenn "Bild" und andere sie als "Terrorpostille" oder "Bombenlegerblatt" bezeichneten.
Das erinnert auch an heute, oder? Auf alternative Medien im Internet reagieren Mainstreammedien bisweilen ziemlich allergisch.
Mathias Bröckers: Es geht immer um die Deutungshoheit und die ist bei den klassischen Medien durch das Internet jetzt schwer bedroht. Solange gedruckte Blätter noch den Ton angaben, war die kleine taz mit ihren zu Spitzenzeiten 50.000 Abos nie wirklich gefährlich, wenn auch durchaus wirkmächtig.
Sie wurde in allen Redaktionen aufmerksam gelesen. Die ersten Kollegen, die zu Mainstreammedien abwanderten, stellten leicht genervt fest: "Die lesen da morgens nur die taz und streichen die Themen an, zu denen sie auch mal was machen sollten."
Wenn man das Archiv der Zeitung durchforstet, wie ich es jetzt für dieses Buch getan habe, kann man gut sehen, dass die taz viele Themen gesetzt und Debatten geführt hat, die in anderen Medien erst Jahre oder Jahrzehnte ankamen.
Die taz ist als Alternativmedium gestartet und als Mainstreammedium gelandet. Stimmen Sie der Aussage zu?
Mathias Bröckers: Viele der Alternativen, die von der taz damals aufgezeigt wurden, sind mittlerweile Mainstream. Und was die Politik betrifft, ist es ähnlich wie mit den Grünen, die ja zusammen mit der taz groß wurden, als linke, anti-imperialistische, ökologische Alternative zu den etablierten Parteien. Dass daraus dann einmal so eine olivgrüne "FDP mit Fahrrad" werden sollte, die Kriegseinsätzen der Bundeswehr den Teppich ausrollt, war nicht abzusehen.
Die taz war anfangs ein Sprachrohr der Grünen und sehr wichtig für die Akteure der Partei, aber als die Zeitung dann im Zuge der Balkankrise auch einmal wagte, die Kriegspolitik Fischers zu kritisieren, gab er fortan lieber der "Bild" Interviews. Auch wenn die taz in mancher Hinsicht im Mainstream angekommen ist, hat sie dabei nicht so stark gelitten wie die Grünen.
Was sicher damit zu tun hat, dass an den (veganen) Fleischtöpfen von Mütterchen taz nach wie vor nicht viel zu holen ist, während die Politik lukrative Pöstchen und Pensionen bietet. Dafür lässt man dann auch schon mal den Hambacher Forst roden oder drückt beim Dieselbetrug im Ländle alle grünen Augen zu.
Was macht die taz denn weiterhin richtig, was macht sie falsch?
Mathias Bröckers: Meine Antwort auf Letzteres müsste abendfüllend ausfallen. Das wäre aber auch in den 1980ern so gewesen, als wir uns auf den Redaktionskonferenzen fast jeden Tag gestritten haben. Weil sich jemand furchtbar über Artikel oder Kommentare aufregte, für die nach seiner oder ihrer Meinung "die taz nicht gegründet" wurde. Das geht mir - als Leser - auch heute manchmal noch so.
Ich arbeite seit einigen Jahren ja wieder für die taz und berate den Verlag in Sachen "digitale Transformation", wo die taz vieles richtig gemacht hat. Sie war die erste deutsche Tageszeitung im "weltweiten Computerverbund Internet"(O-Ton 1995), hat im dot.com-Hype kein Geld verbrannt und mit dem "Paywahl"-Modell des freiwilligen Bezahlens einen guten Weg gefunden, sämtliche Inhalte frei verfügbar für alle zu halten.
Ihre Antwort muss nicht abenffüllend ausfallen, aber nochmal zur Frage: Was macht die taz journalistisch falsch?
Mathias Bröckers: Sie ist mir zu brav und zu angepasst. Eine unserer internen Debatten in den 1980ern ging darum, ob die taz "Erstzeitung" werden oder eher "Zweitzeitung" bleiben soll - also die in den Nachrichtentickern mit "Priorität" eingestuften Meldungen möglichst berücksichtigen soll oder andre, eigene Themen setzen. Ich gehörte immer eher zur "Zweitzeitungsfraktion" und fand die Rubrik "Was fehlt" wunderbar, unter der offizielle Großereignisse, Staatsbesuche, Regierunsgblabla mit einem Satz abgehandelt werden konnten.
Irgendwann in den 1990ern wurde diese Rubrik abgeschafft und ich habe das Gefühl, dass die Zeitung seitdem zunehmend über die Stöckchen springt, die der Mainstream vorgibt. Etwa die Tickermeldungen der Nachrichtenagenturen zu den Krisen und Kriegen der Welt. Die wurden früher nur mit spitzen Fingern skeptisch zur Kenntnis genommen und landeten so gut wie nie ohne weitere Recherche im Blatt.
In gewisser Weise betreiben Sie ja selbst ein "Alternativmedium", nämlich Ihren Blog . Dort heißt das Motto: "Question Authority - Think for Yourself". Ein Motto, das doch durchaus in der Tradition der taz steht, oder? Warum erscheinen die Beiträge nicht gleich in der taz?
Mathias Bröckers: Ich habe die Redaktion 1991 verlassen, weil ich selbst mehr schreiben wollte und 1996 auch meine wöchentliche Kolumne eingestellt. Seit 2004 mache ich einen Blog und finde das ein ideales Medium für mich. Wenn die taz oder andere Zeitungen die Beiträge drucken wollen und Honorar zahlen, können sie das gerne tun, aber ich biete sie nicht aktiv bei Redaktionen an.
Das Motto habe ich von Timothy Leary, den ich sehr schätzte und auch mal für die taz interviewte, und es steht sicher in der Tradition der Zeitung. Der anti-autoritäre Geist von einst scheint aber in der heutigen Generation einem merkwürdigen Neo-Spießertum gewichen, das immer weniger hinterfragt.
Mein erster Artikel der "WTC-Conspiracy"-Serie erschien ja noch in der taz, aber als ich dann die Redaktion anrief und eine tägliche Kolumne zu den Merkwürdigkeiten der 9/11-Ermittlung anbot, bekamen sie kalte Füße. Zur Freude von Telepolis, wo die Serie dann riesige Klickzahlen erreichte, sowie des Zweitausendeins-Verlags, wo sie als Buch zu einem Mega-Bestseller wurde.

Ein Gegengewicht zum Mainstream

Was meinen Sie: Wird die taz es schaffen, nochmal so ein Gegengewicht zum Mainstream zu werden, wie es sie es einmal war?
Mathias Bröckers: Die gute Nachricht ist: es wäre möglich. Denn die taz ist dank ihrer 1991 geründeten Genossenschaft unabhängiger und freier als jede andere Tageszeitung. Die 18.000 Genossenschaftsmitglieder wollen keine Rendite erwirtschaften, sondern morgens eine gute Zeitung lesen.
Da die taz auch nie so stark von Anzeigenerlösen abhängig war wie alle anderen, ist von der allgemeinen "Zeitungskrise" deutlich weniger betroffen. Zudem hat sie in Jahrzehnten ökonomischen Prekariats gelernt, mit Krisen umzugehen und ist deshalb besser aufgestellt als die meisten anderen Zeitungen.
"Wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie!" war das Editorial der ersten Nullnummer 1978 überschrieben; heute hätte die Redaktion sehr viele Chancen, aber nutzt sie in meinen Augen viel zu wenig. Ich hatte deshalb mal bei einer Strategie-Besprechung vorgeschlagen, die nächsten freiwerdenden Redaktionsstellen mit Leuten zu besetzen, die nicht auf Journalistenschulen waren - und viele böse Blicke geerntet.
Dabei habe ich gar nichts gegen Journalistenschulen und kluge und nette Menschen, die da ausgebildet sind, ich fand nur, dass die taz genug Leute hat, die du heute ins Sportressort, morgen in der Wirtschaft und übermorgen in die Kulturredaktion setzen kannst, und die nirgendwo wirklichen Mist produzieren, aber auch nie was wirklich Gutes. Weil sie für nichts mehr richtig brennen. Das kann man dieser Generation vielleicht aber auch nicht übelnehmen, sie hat einfach nicht mehr die Wut im Bauch, die uns damals angetrieben hat.
Sie beobachten und kritisieren Medien schon seit langem. Wo liegen aus Ihrer Sicht denn aktuell die größten Probleme in Berichterstattung und Journalismus?
Mathias Bröckers: In dem Buch, das wir gerade gemacht haben, ist auch den Leserbrief einer Wohngemeinschaft aus dem Jahr 1979 abgedruckt, der das aktuell größte Problem des Journalismus erfasst: "Wir haben es besprochen in unserer WG: Wir bitten Euch, uns aus Eurer Kartei zu streichen.
Das richtet sich nicht gegen die Zeitung oder sonstwas. Wir haben nur einfach keine Lust mehr zum Zeitungslesen, ganz einfach. Außerdem: Diese Regelmäßigkeit, mit der die taz täglich erscheint, strukturiert die Tage so künstlich, das missfällt uns eben."
Da sage noch einer, dass die Hippie-WGs der 1970er nicht mit geradezu prophetischer Weitsicht ins digitale Zeitalter ausgestattet waren! Heute guckt der Durchschnitts-Teenie alle fünf Minuten auf sein Handy, die künstliche Strukturierung läuft im Turbo-Modus, zum Zeitunglesen hat da niemand mehr Lust.
Das ist formal sicher das größte Problem für alle Zeitungen und wohin dieser erneute "Strukturwandel der Öffentlichkeit" führt, ist noch gar nicht absehbar; inhaltlich hat die fortschreitende Konzentration im Medienwesen schon in eine große Krise geführt.
Wenn wie in den USA 90% des Medienoutputs von fünf Konzernen dirigiert wird - und in Deutschland sieht es ja kaum besser aus - kann von Pressevielfalt ja eigentlich keine Rede mehr sein. Zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung klafft eine immer größere Lücke. Und dafür sind nicht die sozialen Medien verantwortlich. Die füllen nur auf, was die "Lückenpresse" einfach offen lässt.

Anmerkung:
Mathias Bröckers gehört zur Gründergeneration der taz, war dort bis 1991 Kulturredakteur und bis 1996 Kolumnist. Seit 2006 berät er den taz-Verlag bei seiner digitalen Entwicklung. "40 Jahre taz - Das Buch" ist im taz-Verlag erschienen. 400 Seiten, gebunden, Großformat, 40 Euro, ISBN 978-3-937683-72-0