Es gibt eigentlich keinen Sex

Stefanie Voigt

Ein philosophischer Spaziergang durch die Gärten der Lüste - Teil 3

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Der zweite Teil der Geschichte der Sex-Philosophie hatte mit Michelets einschlägiger Definition von Gotteserfahrungen geendet, bzw. mit dem, was dann folgerichtig unter "Gottesdienst" zu verstehen sein müsste. Das sind "Gottesdienste", wie sie von Nietzsche nicht mehr besucht werden, seit er sich wahrscheinlich quasi vor der Kirche die Syphilis eingefangen hat - und damit vielleicht auch seine spätere geistige Umnachtung. Kein Wunder, dass er da über Frauen schimpft. Es ist ihm unheimlich, wie unheimlich viel Spaß Frauen am Sex haben. Und darum spricht er nur dann gut von Frauen, wenn sie als Jungfrau oder als Mutter auftreten.

Nietzsche bastelt auch nur einmal in seinem Leben an einer ernsthaften Beziehung, und zwar mit Lou von Salomé. Die will sich aber nicht zwischen Nietzsche und einem anderen Herren entscheiden. Irgendwann verunglückt letzterer bei einem Bergunfall. Nietzsche denkt an Selbstmord, flüchtet dann aber in die Arbeit am "Zarathustra". Da schreibt er dann den berühmten Satz: "Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!" Aber wie er das genau das meint, steht nicht dabei. Vielleicht hat er es geschrieben, als er wieder Kopfschmerzen hatte. Kopfschmerzen hat er oft, und Richard Wagner meint, das käme von zu viel Masturbation. Nietzsche ist daraufhin tödlich beleidigt, und in diesem Moment muss der Weltgeschichte klar geworden sein, dass es nun nicht mehr ohne Psychologen geht.

Also tritt Freud auf den Plan. Er ist Lou Salomés späterer Lehrer. Auch Freud und seine Psychoanalyse sagen das Gleiche wie fast alle Philosophen davor. Nämlich: Alle menschliche Energie dient der Erfüllung des Geschlechtstriebes. Da der aber nicht immer erfüllt werden kann, werden diese Energien umgeleitet, und kommen dann, wenn schon nicht den Trieben, doch der Kultur zugute. Neu ist an der Psychoanalyse, dass sich eine ganze Theorie nur auf diese Einsicht stützt, und dass das Thema Sex damit von einem Moment zum anderen so richtig salonfähig wird. Von daher beginnt mit Freud wieder eine neue Epoche, die Moderne.

Die Moderne besteht, was Philosophie und Sex angeht, aus zwei Lagern, aus einem kleinen und einem großen Lager. Im kleinen Lager sind Leute, die man gerne als Nachbar hätte. Wie zum Beispiel Jaspers oder Levinas: Beide loben sowohl die Liebe, als auch die Lust, aber am liebsten beides zusammen. Jaspers schreibt, die Leidenschaft sei an entscheidender Stelle blind, die Liebe hellsichtig im Ganzen. Sollte in einer Beziehung trotzdem etwas unklar sein, sei das mit Hilfe der Philosophie klären, mit der Lektüre von Ovid oder Kamasutra. Denn auch die Philosophie sei liebender Kampf, niemand könne allein selig werden, und darum hält Jaspers auf rührende Weise auch während der ganzen NS-Zeit zu seiner jüdischen Frau.

Auch Lévinas ist als Mensch ein Vorbild, und auch er feiert die Verbindung von Sex und Liebe als Option auf eine vielleicht vollkommene Erfüllung. Er sagt: "Ich liebe nur dann wirklich, wenn der Andere mich liebt, dies aber nicht, weil ich die Anerkennung des Anderen brauche, sondern weil meine Wollust sich an seiner Wollust erfreut." Das war das kleine Lager, das Lager von Respekt und kultivierten Umgangsformen.

Eine Theorie baut auf der anderen auf

Das andere Lager gilt als schicker, aber es erinnert an Sex mit Fichte. Auch hier ist ein wenig innere Distanz angebracht. Im anderen Lager sind Leute wie zum Beispiel Weininger. Weiniger ist ein jüdischer Antisemit, einer, der sich vor lauter Bewunderung für Beethoven in Beethovens Geburtshaus erschießt. Vorher lässt er aber die Welt noch wissen, dass Frauen seiner Meinung nach erst durch Sex ihre Existenz erlangen, genau genommen aber nicht einmal dann, so hässlich seien die Frauen, vor allem im unteren Bereich. Und wenn sich Frauen für Philosophie interessierten, dann doch auch nur deswegen, um so an einen Philosophen zu kommen.

Zuerst invertiert Sartre Weininger. Sprich: Um an Frauen heranzukommen, philosophiert er mit ihnen. Einmal beobachtet Camus das und fragt: "Warum geben Sie sich soviel Mühe?" Sartre fragt zurück: "Haben Sie sich schon mal meine Visage angesehen?" Und wenn das kein Witz war und sich Sartre vielleicht tatsächlich hässlich vorkam, dann ist die Art, wie er über Sex schreibt, nur konsequent. Er schreibt nämlich: Sex sei eine Interaktion von unsichtbarem Bewusstsein und sichtbarem Körper. Dabei würden sich Bewusstsein und Körper voneinander distanzieren. Natürlich gäbe es auch die Möglichkeit, dass sich beide miteinander identifizieren. Aber dafür müsse das Bewusstsein den Körper wahrscheinlich schön finden. Diese Möglichkeit erwähnt Sartre aber nur am Rande. Viel wichtiger ist ihm der Vergleich von Sex mit Folter. Und das Selbst. Es gilt die Formel: (Innere) Distanz bei der Ausübung von Macht = (ermöglicht erst so etwas wie ein) Selbst.

Foucault nimmt dann aus dieser Gleichung das Selbst heraus und dann geht alles nur noch um Macht. Macht nichts, dass er sich dabei mit Aids ansteckt. Im Gegenteil. Er verbindet nach einigen misslungenen Suizidversuchen seine Begeisterung für den Tod mit seiner Begeisterung für Sex. Heraus kommt die These: Nichts sei schöner, als für die Liebe zu einem Knaben zu sterben. Was er auch tut. Nicht ganz so konsequent ist es, wenn sich Foucault dabei auf die Stoa beruft und auf das, was die Stoa angeblich unter einem guten Leben versteht, nämlich die sogenannte Sorge um sich. Foucault macht sich nämlich zwar wirklich nur Sorgen um sich, aber eben nicht um seine Partner, und das ist nicht gut stoisch. Wenn man Aids hat, ist das ambivalent. Und sich dabei die Stoa zu berufen, ist es auch. Der Stoa ging es um eine Mäßigung der Lüste. Foucault geht es um eine Intensivierung, noch dazu mit Hilfe von Elektroschocks oder speziellen Eingriffen, weil so etwas angeblich zu bewusstseinserweiternden Krämpfen und der Schaffung eines "geistigen Raumes" führt. Natürlich passt das sehr gut zu einem Autor, der vornehmlich über sexuelle Repressionen schreibt, und diese Bücher durch einen LSD-Rausch ausgelöst wurden. So ein Rausch in einem amerikanischen Canyon war der Beginn des berühmten Mehrteilers "Sexualität und Wahrheit".

Das Stichwort Rausch greift dann Lyotard auf und die ganze Geschichte geht weiter. Sex ist bei Lyotard eine rauschhafte Entgrenzung, eine kognitive Selbstauslöschung durch Sinnverweigerung und Selbstwahrnehmung. Die funktioniert angeblich wie das Zurückhalten des Spermas beim Tantra-Sex. Oder wie die Postmoderne. Denn in beiden Fällen wird der natürliche Vollzug der Dinge zwar aufgehoben, aber dafür kommt dann eine Erhebung auf eine höhere Bewusstseinsebene. Lyotard persönlich liebt als Vollblutphilosoph an solchen höheren Ebenen vor allem zeichenhafte Bewusstseinsebenen, oder anders formuliert: Philosophische Beschreibungen dieses Vorgangs sind ihm wichtiger als reale Orgasmen.

A apropos Blut: Für Bataille gibt es ohne Blut keine Erotik, und zwar nicht im Sinne einer ausreichenden Körperdurchblutung, sondern im Sinne eines archaischen Blutopfers. Blutopfern ist für Bataille wie Sex. Beides legt Fleisch frei. Beides ist brutal. Beides führt zu Zuckungen, beides organisiert ein männlicher Opferpriester, beides entgrenzt, und beides verbindet Tod mit Sex. Und weil Bataille diesen Vergleich noch dazu für politisch relevant hält, um so einer Vergreisung der Gesellschaft zu verhindern, plant er in den 1930er Jahren einen Geheimbund mit Menschenopfern. Doch da kommt der Zweite Weltkrieg dazwischen. Also hat Bataille dann Zeit, um die Rehabilitierung von de Sade zu fördern und einen erotischen Roman zu verfassen, mit dem Ziel, den Leser dazu zu bringen, sich zu übergeben. Natürlich kommt es einer Vergewaltigung gleich, Batailles vielschichtiges Schaffen auf diese wenigen Versatzstücke zu reduzieren. Aber das ist egal, weil er Vergewaltigungen mochte und sie in manchen Fällen therapeutisch notwendig fand.

Das erlaubt, auch Lacan in nur wenigen Worten zu präsentieren, den Mann, zu dem die Frau von Bataille irgendwann überläuft. Das Prinzip bleibt gleich: Auch Lacan baut wieder auf Vorgänger-Thesen auf. Er nimmt von Freud das Unbewusste, von Lyotard die Zeichen und von Foucault die Entgrenzung, garniert das Ganze mit ein paar Buchstaben seines Namens, aus Lacan wird dann anal. Und fertig ist seine These. Die lautet in Kurzform: Es gibt eigentlich keinen Sex. Die ausführliche Argumentation lautet: Das Unbewusste besteht aus Zeichen, wie Freuds Traumsymbole. Das ist wie eine Sprache, wie Lyotards Zeichen. Sex ist aber eine nichtsprachliche Erfahrung, wie Foucaults Entgrenzung.

Diese nichtsprachliche Entgrenzung von allem, auch von Sprache, nennt Lacan das Ding an sich. Darunter kann man sich natürlich erst einmal nicht viel vorstellen. Aber Lacan gibt einen Tipp und meint, das Ding an sich sei etwas Anales. Das Dumme am Ding an sich ist nur, dass Sex also so etwas ist wie ein Versuch einer unbewussten Sprache zu einer nichtsprachlichen Wirklichkeit durchzubrechen. Und das kann nicht klappen. Da schwatzt im Höchstfall das Unbewusste so mit sich selber ein bisschen vor sich hin, aber Sex kann man das nicht nennen. Vielleicht hat Clinton an genau das gedacht, als er erklärte, er hätte nie eine sexuelle Beziehung zu Monika Lewinsky gehabt.

Die These, dass es keinen Sex gäbe greift dann wiederum Baudrillard auf, und nennt unsere Zeit frigide. Denn seiner Meinung nach hat man heutzutage schon so viel damit zu tun, sich eine eigene Identität aufzubauen, dass gar nicht daran zu denken sei, diese Identität für Sex dann auch noch wieder abzubauen.

Auch die deutschen Philosophen klagen über ihre Zeit. Vor allem die Frankfurter Schule leidet unter der Gesellschaft und den Medien und ihren machtorientierten Sexvorstelllungen. Adorno ruft deswegen auf zum subversiven Widerstand gegen repressive Strukturen. Und damit das nicht nur reine Theorie bleibt, schubst er angeblich seine eigene Frau mit dem Regenschirm beiseite, um freie Sicht auf eine andere Frau auf der anderen Straßenseite zu haben. Noch bekannter ist eine Anekdote, nach der er während der 69er Studentenunruhen vor Studentinnen mit entblößten Oberweiten schier aus dem Vorlesungssaal gerannt sein soll, und irgendwie passen diese zwei Geschichten nicht zusammen. Augenzeugen erzählen die Geschichte auch ganz anders. Was wirklich war? Wer weiß.

Für die Beziehung zwischen Philosophie und Sex sei etwas anders zitiert, was hingegen sicher zu belegen ist, nämlich Adornos Tagebücher. Darin hat er als Heilmittel gegen die gesellschaftliche und mediale Fetischisierung des Sexuellen den sexuelle Fetischismus.1 empfohlen, und tatsächlich schreibt er in seinen Tagebüchern u.a. über eine integre und opferbereite Frau, nicht seine Frau, sondern eine andere, die er erbarmungslos geschlagen habe. Dadurch sei er dann menschlich und geistig gereift.

Der Dildo als der höchste Wert einer neuen Gesellschaftsordnung

Eingedenk dieser gewichtigen Worten bleibt nur noch zu fragen, wie es die derzeit noch lebenden Philosophen mit dem Sex halten. Sechs Philosophen haben sich in dieser Hinsicht besonders hervorgetan, vier Herren und endlich auch einmal zwei Damen. Da fragt man sich: Ist diese Quotenänderung vielleicht ein Hinweis auf eine neue Zeit? Hat die Zunft aus den Thesen ihrer Altvorderen etwas gelernt, und wenn ja, was? Der slowenische Philosoph Žižek gibt die Antwort Zitat: "Otto Weininger, Nietzsche, Freud oder Lacan..., Texte die man sehr genau lesen müsste...Dann könnte man den Punkt erkennen, an dem sie ein Unbehagen an der philosophischen Tradition bezeugen: eine Krise der Heterosexualität, die nur durch Homosexualität überwunden werden kann." Und das sehen seine Kolleginnen scheinbar auch so.

Denn die Irigaray will die sexuelle Differenz zwischen Mann und Frau auflösen, notfalls mit Engeln. Die hält sie für potentielle Mitarbeiter an diesem Auflösungsprojekt, weil Lippen und Schamlippen der Frau so zueinander angeordnet sind, dass sie ein Kreuzsymbol ergeben.

Ähnlich sensibel ist Butler, für die schon die Unterscheidung der Geschlechter ein Sexismus ist, der die Frau in den Kerker des Leibes sperrt.

Und die Beatrix Preciado macht aufgrund all dessen den Vorschlag, über alles Denken den Dildo zu stellen. Denn Darmausgänge seien geschlechtsneutral, und darum hebe der Dildo Geschlechtergrenzen sowieso völlig auf und mache "… aus dem Fick einen paradoxalen Akt, in dem man die Position männlich/aktiv oder weiblich/passiv nicht identifizieren kann."2

Mit solchen Argumenten fordert die Preciado erstens für jeden Mann das Anrecht auf eine Geschlechtsumwandlung. Zweitens solle der Dildo der höchste Wert einer neuen Gesellschaftsordnung werden. Und einer neuen Philosophie. Denn die Abschaffung von herkömmlichem Sex sei wie der von Nietzsche angekündigte Tod Gottes und wie eine Abschaffung der herkömmlichen Philosophie. Die nennt sie eine anale Befruchtung zwischen molekularen Homosexuellen. Und damit steht schon wieder eine große Frage im Raum. Ist dieser Vorwurf berechtigt?

Und wieder gibt Zizek die Antwort, allerdings jetzt nicht in Form eines Zitats, sondern in Form einer Handlung, nämlich in Form seiner Scheidung: Er trennt sich von seiner Frau, einem Model, einer Lacan-Schülerin mit dem Vornamen Analia. So anal fixiert kann die Philosophie also gar nicht sein. Oder die Trennung ist eine Bestätigung dieser These. Das kann man insofern nicht genau sagen, weil Logik bei Zizek etwas sehr prozessoffenes ist. Zizek begründet auch Sadomasochismus mit christlicher Nächstenliebe.

Aufgrund dieser Prozessoffenheit greift er in seiner Philosophie auf fast alle Thesen zurück, die hier bislang vorgestellt wurden. Zum Beispiel bezweifelt auch er alles, von der Realität bis hin zum Sex. Vielleicht sollte man auch an ihm zweifeln, aber dafür liest man dann doch viel zu gerne. Ebenso offen berichtet er über seine Zweifel an seinem Selbst beim Sex. Da käme er sich nämlich ab und an "albern" vor, und findet seine Bewegungen von einem Moment auf den anderen auf einmal dämlich. Das passiere ihm immer dann, wenn er den Kontakt zu etwas verliert, das er Phantasma nennt. Das zu erklären sei schwierig, Denn das Phantasma sei etwas Drittes neben Zizek und seiner Partnerin beim Sex, wobei Sex ja eigentlich nicht existiert, weil die Partner eigentlich auch nicht miteinander schlafen, sondern nur zu zweit masturbieren, wobei genau genommen eigentlich auch nur er masturbiert, und sie sich innerlich eine, wie er so schön sagt, narrative Distanz zu dem Ganzen aufbaut, damit sie sich danach mit ihm über alles unterhalten kann.

Wem das dämlich vorkommt bzw. wenn Zizek sich im Bett dämlich vorkommt aufgrund dieser Kontaktschwierigkeiten zum Phantasma, dann lautet sein fachmännischer Rat: Ablenken. Mit einem Fetisch. Sex ohne Fetisch geht nicht, behauptet Zizek.

Aber sein amerikanischer Kollege Nagel sagt über genau solche Ablenkmanöver: Sex ohne interpersonelle Reziprozität sei pervers; denn eine sexuelle Beziehung sei etwas grundsätzlich anderes als die Beziehung zu einem Omelett.

Kult der Entladung

Auch der letzte Philosoph dieser Übersicht ist ein Meister der Metaphern. Sloterdijk sagt zum Beispiel: Die Philosophie habe sich immer mehr von praktischen Dingen wie der Sexualität entfernt, hätte dann Zitat "Potenzstörungen" bekommen und sich dann , "vollends zu einem organisierten Eunuchentum" entwickelt. Aber das gilt zum Glück nicht für ihn persönlich. Denn in einem Playboy-Interview berichtet er zwar von sich als einem sexuellen Spätzünder, einem "Depp auf diesem Gebiet und langsam von Begriff", der dann aber im Laufe der Zeit doch noch "halbwegs Tritt gefasst" habe.3 So gefestigt schreibt er über Sex auf eine Weise, dass man fast meinen könnte, auch er hätte das Zeug zu einem netten Nachbarn. Nur dürften auf den entsprechenden Gartenflächen keine Birnbäume stehen, sonst könnte Peinlichkeit entstehen. Sloterdijk verwendet nämlich auch eine Birnenmetapher. Er schreibt, dass Brüste, die nicht mehr so aussähen wie Äpfel, seien wie die "Süße von reifen Birnen, die so schwer und freundlich zu sich selber geworden sind, daß sie bei guter Gelegenheit vom Baum fallen in eine Hand, von der sie sich erkannt fühlen."

Neben dem Thema Obst philosophiert Sloterdijk auch über die möglichen Folgen von Sex, nämlich über Kinder. Mit so manchen Kollegen habe er immer so schön philosophieren können, bis sie hinter Windeln und kommandierenden Müttern verschwunden seien. Er lästert, aber man kann ihm nicht böse sein. Denn er tut es stilvoll und voller Vorsicht vor Frauen. Denn er fühlt sich, wie er berichtet, als Mann vor dem Mysterium der Sexualität wie ein Bettler und wie ein "externer Betrachter einer Welt von Frauengeheimnissen", zu denen er keinen Zugang hat.4

Oder fast keinen. Zwei Argumente sprechen dagegen. Denn auch Sloterdijk ist Vater geworden. Und er schreibt viel über viel etwas, was er Permasex nennt. Das ist das moderne Missverhältnis von viel Sex und wenig Kindern, eine "endlose erotische Mobilmachung" und "genitale Apokalypse". Zumindest im Westen. In Indien wäre man da klüger, und da kennt er sich aus. Denn er hat seine Lehr- und Wanderjahre in Bhagwans Ashram verbracht. Den bezeichnet er als ein Institut für Vergleichende Religionsforschung - mit angegliedertem Labor für erotische Feldarbeit. Mit vielen begabten Forscher und Forscherinnen. Dort oder auch in China gäbe es stundenlange Tummeleien im halbsteifen Bereich - ganz anders als der westliche "Kult der Entladung".

Die großen östlichen Kulturen würden üben und üben und üben. Aber in Europa muss alles sofort sein und wäre dann wie das Warten auf das Christkind: Oft würde nur geklingelt, und es kommt nicht. Wie gesagt: Sloterdijks Metaphern sind ehrfurchtgebietend. Niemand außer ihm käme auf die Idee, die Kulturgeschichte des Abendlandes zu untersuchen unter dem Aspekt von Schäumen und Blasen. Beide vergleicht er mit Beziehungen zwischen Menschen. Mit Blasen meint er zum Beispiel die erste Blase im Leben eines Menschen, die eines Embryos im Mutterleib. Und Schäume sieht er zum Beispiel illustriert in Ejakulationen. Denn schon bei Aristoteles sind die ein Phänomen von durch Luftzufuhr aufgeschäumten Körpersäften. Nur die Neuzeit sei in dieser Hinsicht betriebsblind.

Aber trotzdem geht die Geschichte der Menschheit weiter, dank der Genitalien, die "Genies unter den Organen der unteren Körperhälfte….gleichen. Drahtziehern im Dunkeln"5, und das vor allem im Dunkel der Mönchszellen des 21. Jahrhunderts. Auch das ist eine Metapher. Mit diesen Mönchszellen umschreibt Sloterdijk moderne Apartments. In die kann man sich zurückziehen für postmoderne Meditationen. Und das ist wieder eine Metapher, und zwar eine für Masturbation. Und das ist jetzt wieder wichtig für die Philosophie. Denn diese Meditation schafft eine Verbindung von Subjekt, Phantasma und Genitalien und ist somit eine per se philosophische Handlung. Und mit dieser These schließt diese Übersicht über die Autoren zum Thema Philosophie und Sex.

Aus der Natürlichkeit der Geilheit wird die Natürlichkeit von Sex und SM

Die Übersicht zeigt, dass es da nichts gibt, was es nicht gibt. Zwar gibt es bestimmte epochengebunde Präferenzen, in der Antike die Männerfreundschaft und im Mittelalter die Fortpflanzungsorientierung. Die Neuzeit argumentiert mit der Natürlichkeit, auch wenn die Meinungen über das, was natürlich ist, natürlich auseinandergehen: Die einen wollen nett sein, die anderen töten und die Philosophen wollen die Natürlichkeit systematisieren. Im 19. Jahrhundert. wird es romantisch, zumindest für die Herren. Und in der Moderne geht es um die Entgrenzung und um die Kultivierung von Schmerzerzeugung. Es gibt immer wieder Ausnahmen von solchen Regeln, in der Antike Ovid, in der Neuzeit La Mettrie oder in der Moderne Jaspers. Aber trotzdem häufen sich gewisse Thesen immer und in jeder Epoche:

  1. Viele Autoren definieren Philosophie und Sex als genau gegensätzlich, das eine ist rational, das andere eben nicht.
  2. Viele Autoren verweisen aber auch auf Ähnlichkeiten von Philosophie und Sex, zum Beispiel den Beginn aller Leidenschaft im Kopf.
  3. Bei vielen Autoren spielt die Liebe fast keine Rolle.
  4. Fast alle Autoren sind frauenfeindlich, auch Frauen.
  5. Viele Männer unterstellen den Frauen, sie hätten mehr Freude am Sex als die Gegenseite.
  6. Und viele Autoren betonen, dass sich Familie und Philosophie gegenseitig ausschließen; viele argumentieren wie Freud, dass erst der Mangel an Sex die Philosophen dazu bringt zu philosophieren. Wobei das natürlich so eine Sache ist.

Da fragt man sich schon: Wenn alle diese Thesen aufgrund von Praxismangel zustande kamen, wissen die dann wovon sie reden?

Aber sogar sehr christliche oder sehr theoretische Texte zeigen im Wortlaut deutlich: Ja, sie wissen, was sie tun. Und worüber sie schreiben. Es ist nicht immer klar, woher sie dieses Wissen haben. Wowereit würde sagen: Und das ist gut so. Das Thema hat viele unwägbare Grauzonen und individuelle Zugänge, aber trotz alldem führen die Texte eine bestimmte Struktur vor, und die zeigt an, dass Texte vor Beginn der Neuzeit grundsätzlich anders funktionieren als alle Texte danach.

Die Zeit vom 16.-18. Jahrhundert war bekanntlich eine wichtige Nahtstelle der Mentalitätsgeschichte, und das zeigt sich auch in der Philosophie von Sex. Vorher gab es auch den Begriff von Sex bzw. von Sexualität noch gar nicht. Es gab den Begriff der sog. Geilheit, und die war ein menschliches Bedürfnis wie andere Bedürfnisse auch. Doch mit dem Aufkommen von Naturwissenschaften und der modernen Philosophie wird dieses Bedürfnis umgewertet. Es ist dann nicht mehr nur ein Bedürfnis und ein Mittel zur Fortpflanzung, sondern das Ganze wird selbstreflexiv und immer mehr ein Mittel zur individuellen Selbstverwirklichung.

Mit dieser neuen Bedeutung geht auch eine neue Syntax einher: Die Beschreibungen von Sex zerfallen immer mehr in Körper-Einzelteile. In den Gedichten dieser Zeit führt das zu ellenlangen Aneinanderreihungen der einzelnen Körperpartien. Im täglichen Leben werden diese Listen zu Steilvorlagen für anzügliche Gesellschaftsspiele und eine Verlustierung an Einzelheiten, wie zum Beispiel an Fußfesseln oder Schönheitsflecken. Bei denen bestand das Spiel zum Beispiel daran, dass die gut sichtbaren Flecken im Gesicht nur auf andere, von der Kleidung verdeckten Flecken hinwiesen. Durch solche Spiele entstehen damals die modernen Kategorien von Stil und Fetisch.

In der Philosophie passiert dadurch etwas ganz Bestimmtes. Auch in der Philosophie tendiert man auf einmal zur Spezialisierung auf Kleinteile und auf einzelne Organe, und das ist in dem Moment das Gegenteil von allem, was die Philosophie vorher ausgemacht hat. Vor allem in ihren Anfängen. Zu Beginn der Philosophie, in der griechischen Antike ging man dazu über, z.B. Land, See und Himmel nicht mehr nur als Einzelteile der Welt, sondern als die Welt zu benennen, und einzelne Körperteile wurden zusammengefasst zu einem ganzen Körper. Kurz darauf kam dann das Konzept einer Seele, dicht gefolgt von der Idee des Monotheismus. All das galt und gilt als philosophische Glanzleistung und große Errungenschaft.

Aber zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert kommt es auf einmal zu einer Gegenentwicklung. Die Philosophie spezialisiert sich, sie wird kleinteilig, funktional, sezierend und zunehmend kälter. Ethische Verbindlichkeiten, wie vorher im christlichen Glaubenssystem, werden relativiert. Zum Beispiel im Falle einer Vergewaltigung ist nicht mehr das Jüngste Gericht zu fürchten, höchstens ein Amtsgericht, und manchmal nicht mal mehr das. Und so wird aus der Natürlichkeit der Geilheit die Natürlichkeit von Sex und SM. Beide Natürlichkeiten funktionieren aus kognitiver und psychologischer Sicht erstaunlich ähnlich, beide forcieren Extremzustände, egal wie man sie nennt, ob Ekstase oder Entgrenzung. Aber die moderne Art passt einfach besser zu heutigen Leitbildern, zum modernen Ideal von Coolness und, nicht umsonst, von Schmerzfreiheit. So wie Autofahren zu James Dean. Nur führt das manchmal zu Unfällen. Und darum muss man fragen, zu was das führen wird, was die Philosophie uns derzeit an Thesen über Sexualität vorgibt.

Dass diese neuen Natürlichkeiten nicht nur ein Thema für vereinzelte Philosophen in ihrem Elfenbeinturm sind, sondern mittlerweile Konsens, das zeigt die zunehmende Selbstverständlichkeit von Normübertretungen auf Kosten anderer und damit verbunden, ebenfalls zunehmend, die Medialisierung von sexueller Gewalt. Gleichzeitig nehmen die Strafmaßen für Sexualdelikte ab. Ab da ist das Ganze nicht mehr nur ein philosophisches Randthema, sondern doch wichtig. Und damit wären wir bei wieder drei entscheidenden Fragen

  1. Darf man wissen, ob an all dem die eben gehörten Philosophen schuld sind?
  2. Oder darf man hoffen, dass alles bloß am modernen Glaubensverlust liegt?
  3. Was soll man tun, wenn weder 1) noch 2) zutreffen?

Zu Frage 1: Um mit diesen Thesen an irgendetwas schuld zu sein, hätten sie gelesen werden müssen. Was aber nicht so sehr der Fall ist. Zu Frage 2: Natürlich leuchtet ein, dass der Verlust von Gott einen Stellvertreter auf Erden nach sich zieht: statt Petrus die Peitsche. Aber leider heißt das alleine noch gar nichts. Denn: Es gibt Schilderungen von vormodernen Selbstgeißelungen, die klingen genauso wie die Schilderungen von modernen Katholiken mit Nagelbändern, und wiederum beide klingen streckenweise genauso sexuell behaftet wie die Sex-Schilderungen ganz ungläubiger Zeitgenossen. Also kann diese Tendenz zur Gewalt nicht nur am Glaubensverlust liegen, sondern ist wohl eher eine anthropologische Grundkonstante, der vielleicht nur derzeit mehr oder vielleicht auch nur offener gehuldigt wird.

Wenn aber nicht die Philosophen und nicht einmal die Atheisten Schuld haben, wer ist dann Schuld an diesem Abfall des sozialen Thermometers. Die Gesellschaft? Man kann sich ja schlecht hinstellen und sagen, die Gesellschaft sei an allem Schuld. Obwohl, eigentlich ginge das schon, wenn man folgendes bedenkt:

  • Zu 1): Die Gesellschaft bestimmt ihre jeweiligen Philosophen. Dass deren Thesen über Sex nicht viel gelesen werden, heißt nicht, dass auch das nicht gelesen würde, was sie sonst so schreiben. Das wird gelesen, und da sind die Inhalte meist spezialisiert und der Stil meist so kühl wie die realen Umgangsformen. Aber die Gesellschaft favorisiert genau diese Art von Förder-Mittel-Maß der kleinen kühlen Spezialthemen.
  • Zu 2) Egal ob religiös gebunden oder nicht: Jede Gesellschaft macht sich ihre Regeln, nur werden die genauso wie ihre philosophischen Thesen vom Sex derzeit immer selbstreflexiver und schmerztoleranter. Genau genommen reguliert die Gesellschaft also Punkt 1) und 2).
  • Zu 3): Um es in Anlehnung an Kant zu sagen, da soll man vielleicht was tun. Schon alleine der Ethik wegen, aber nicht nur. Wenn die Parallele von Gesellschaftsregeln und Sexthesen stimmt und man bedenkt, wie wenig in den meisten Thesen von ästhetischem Lustempfinden und Spaß die Rede ist, dann besteht Handlungsbedarf. Nicht nur gesellschaftlicher Handlungsbedarf, sondern auch philosophischer.

Was die Philosophie angeht, ist mit einer so vorsichtigen Annäherung an das Thema schon viel getan, auch wenn es manchmal auf eine Annäherung durch Abstand hinausläuft. Dieses kleine Segment der Philosophie zeigt nämlich nicht nur, dass Philosophen auch nur Menschen sind, sondern vor allem, was für welche. Bestimmte Sachen merkt man philosophischen Texten vor lauter erhabener Abstraktheit oft nicht an, weder im Guten noch im Schlechten. Aber den Texten über so irdische Dinge wie Sex schon. Man erspürt intuitiv die guten und die weniger guten Nachbarn und kann vor diesem Hintergrund manchen Text dann besser bewerten und in größeren Zusammenhängen positionieren, nicht nur innerhalb der Philosophiegeschichte, sondern auch im Hinblick auf solche Marker wie menschliche Wärme oder Treue gegenüber der eigenen Theorie. Oder gesunden Menschenverstand oder die Fähigkeit zur Selbstironie. Alle so gewonnenen Einsichten verändern nicht von jetzt auf gleich die ganze Philosophie, geschweige denn die Gesellschaft, aber sie schärfen den Blick für eben menschliche Wärme oder für das, was man so gesunden Menschenverstand nennt oder vielleicht noch für ganz andere Sachen.

Und so präsentiert sich das geheimnisvolle Thema Philosophie und Sex als eine ergiebige Datenbank für alle, die die Liebe zur Weisheit plagt. Aber auch für alle mit Sinn für Eigennutz. Denn schon Lichtenberg sagt: "Jedermann sollte wenigstens so viel Philosophie ..studieren, als nötig ist, um sich die Wollust angenehmer zu machen."6

Stefanie Voigt, Markus Köhlerschmidt: Die philosophische Wollust. Sinnliches von Sokrates bis Sloterdijk, Darmstadt 2011. (Ausschnitte daraus erschienen als Hörbuch, gelesen von Martin Falk).

Fußnoten

[1] Adorno an Erich Fromm in: T. W. Adorno / M. Horkheimer: Briefwechsel, Bd. 1: 1927 - 1937, Frankfurt am Main 2003, S. 543.

[2] B. Preciado: Kontrasexuelles Manifest, Berlin 2003

[3] P. Sloterdijk / Chr. Thiele: Interview, in: Playboy April 2010, S. 55

[4] P. Sloterdijk, Gottes- und Orgasmusnarren, in: C. Hegemann (Hg.): Glück ohne Ende. Kapitalismus und Depression, Berlin 2000, S. 46-49, hier S. 47

[5] P. Sloterdijk, : Die Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt am Main 1983, S. 290

[6] C. G. Lichtenberg: Lichtenbergs Werke in einem Band, Berlin/Weimar 1985, Heft B, 1768 - 1771, S. 9