Erdogans Wahlkampf besonderer Art

Immer mehr türkische Journalisten und Akademiker in Deutschland

In europäischen Hauptstädten leben mittlerweile fast so viele Akademiker und Fachkräfte aus der Türkei wie in Istanbul. 2018 migrierten zum Beispiel rund 100 Ingenieure aus der Verteidigungs- und Technologiebranche in die Niederlande. Einer Studie der Afrasia-Bank zufolge transferierten in den vergangenen zwei Jahren zwölftausend (!) Dollarmillionäre ihr Kapital aus der Türkei ins Ausland.

Damit ist die Türkei auf Platz 7 der Reichtumsmigration, stellt die Studie "Global Wealth Migration Review" fest. Die FAZ will erfahren haben, "dass 250 Personen aus der Türkei, darunter Superreiche, sich im EU-Mitgliedsstaat Malta einbürgern ließen".

Auch die Zahl der Asylsuchenden aus der Türkei steigt seit Sommer 2016 stetig. Fast jeder zweite Asylsuchende aus der Türkei erhält Schutz in Deutschland, darunter viele Journalisten und Akademiker. Von 2013 bis 2015 stellten jedes Jahr ca. 1.800 türkische Staatsbürger einen Asylantrag in Deutschland, 2016 waren es nach den Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) etwa drei Mal so viele: 5.742 Anträge; 2017 waren es 8.483 Anträge und von Januar bis November 2018 wurden 10.075 Anträge gestellt.

"Die Türkei ist kein sicheres Herkunftsland. Für andersdenkende türkische Staatsangehörige verschlimmert sich die Lage immer mehr", stellte die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Sevim Dagdelen, angesichts dieser Zahlen fest. Da mutet es schon merkwürdig an, dass die Bundesregierung die Türkei weiterhin mit Wirtschaftshilfen und Waffenlieferungen unterstützt.

Laut einer Anfrage der Linksfraktion im Bundestag haben sich die Waffenexporte in die Türkei laut Geschäftsvolumen im vergangenen Jahr verdreifacht: von 62.272.171 Euro auf 202.229.820 Euro. Zur Erinnerung: Im Frühjahr 2018 besetzte die Türkei den nordsyrischen Kanton Afrin mit deutschen Panzern und setzte deutsche Waffen gegen die Zivilbevölkerung ein.

Erdogans Tabula rasa kurz vor den Kommunalwahlen

Seit sieben Jahren ist die AKP bei Wahlen im Abwärtstrend. Hatte die AKP im Juni 2011 noch 49,8 Prozent, sackte sie bei den Kommunalwahlen im März 2014 auf 43,6 Prozent ab, im Juni 2015 dann auf 40,9 Prozent, was sie dazu bewegte, mit der faschistischen MHP eine Koalition einzugehen, um die Mehrheit zu halten. Für die anstehenden Kommunalwahlen prognostizieren verschiedene Umfragen einen landesweiten Rückgang der Wählerstimmen der AKP auf deutlich unter 40 Prozent. Es wird interessant, mit welchen Manövern die AKP das Desaster abzuwenden versucht.

Die kurdischen Gebiete bereiten dem türkischen Präsidenten mit Blick auf die kommenden Kommunalwahlen am 31. März am meisten Kopfzerbrechen. Seit dem Putschversuch wurden in den kurdischen Gebieten 90 gewählte Bürgermeister der HDP durch Treuhänder des Innenministeriums ersetzt.

Diese schritten gleich zur Tat und entfernten alles, was auf die kurdische Bevölkerung oder Kultur Bezug nahm: in den Behörden wurden kurdische und aramäische Bezeichnungen entfernt, Plätze, die an historische Persönlichkeiten oder Ereignisse erinnerten, wurden umbenannt, zivilgesellschaftliche Organisationen verboten. Im September 2018 kündigte Erdogan an, "auch neu gewählte Bürgermeister würden durch Treuhänder ersetzt, wenn sie Terrororganisationen nahestehen". Womit er natürlich die HDP-Kandidaten meint, die seiner Meinung nach allesamt Terroristen sind.

Heißt übersetzt: Jeder gewählte HDP-Bürgermeister bei dem Kommunalwahlen im März wird ersetzt. Fragt sich, wozu dann noch Kommunalwahlen? Im Oktober 2018 setzte das Innenministerium 259 gewählte Ortsvorsteher von Dörfern und Stadtteilen (Muhtare) in den kurdischen Gebieten mit der Begründung ab, sie seien eine Gefahr für die nationale Sicherheit. Beweise oder Gerichtsbeschlüsse bedurfte es dafür nicht.

Wie es den Anschein hat, ist für die Kommunalwahlen ein Wahlbetrug über Wählerlisten in Vorbereitung. Verschiedene türkische Medien berichten über Unregelmäßigkeiten bei der Erstellung von Wählerlisten vor allem in den kurdischen Gebieten. So wurden in einer Polizeiunterkunft in der überwiegend kurdischen Stadt Igdır gemeldet, dass in 38 Zimmern 374 Wahlberechtigte leben, das heißt, dass 10 wahlberechtigte Personen in einem Zimmer einer Polizeiunterkunft leben.

In einer Unteroffizierswohnung in Siirt leben angeblich 700 Wahlberechtigte, in Hakkari leben in einer Wohnung der Sicherheitskräfte angeblich 1.108 Wähler. Die Wohnungen müssen also fast so groß sein wie der Präsidentenpalast. Aber auch in Istanbul gibt es merkwürdige Wohnverhältnisse: Im Stadtteil Beyoglu wurde in einem 4-stöckigen Haus einfach noch ein fünfter Stock inklusive Wählerschaft erfunden. In einem leer stehenden Haus in Üsküdar sollen 43 Wahlberechtigte leben. Ob das vielleicht ein illegal besetztes Haus ist?

Die CHP deckte auf, dass in der Türkei - anscheinend von der Welt unentdeckt -, eine überdimensional große Anzahl von Menschen lebt, die über 100 Jahre alt sind. Mehr als 6.389 Wähler und Wählerinnen sollen über 100 Jahre alt sein. Die weltweit älteste wahlberechtigte Bürgerin soll Ayşe Ekici aus Kayseri sein. Sie soll 164 Jahre alt und 1854 geboren sein, gefolgt von dem 149 Jahre alten Zülfü und der 148 Jahre alten Ayşe. (Elke Dangeleit)