Die Konvergenzrolle von KI: Verschmelzung von Entwicklungen
Künstliche Intelligenz und Politik. Werden Algorithmen bald zu den besseren Politikern? Überblick über ein entstehendes Feld. (Teil 2)
In Teil 1 dieses Beitrags haben wir einige politikrelevante Phänomene des zivilisatorischen Übergangs beschrieben, der sich derzeit mittels Künstlicher Intelligenz vollzieht. KI wirkt mittlerweile trans-systemisch und als inter- und trans-disziplinäre Transformatorin in alle Gesellschaftsbereiche hinein. Insofern ist KI zu einem zunehmend wichtigen "kontextuellen" Politikakteur geworden. Wie gehen institutionalisierte Politik und Regierungen damit um?
Der heutige große Sprung der KI: Vom Technologiebereich in die Gesellschaft
Am wichtigsten in der Summe der in Teil 1 aufgewiesenen Aspekte ist: Künstliche Intelligenz soll – und wird wohl auch – die Entwicklungen auf verschiedenen technologischen Gebieten miteinander verschmelzen. Ziel ist, KI mit den Anforderungen von Industrie 4.0 und einem "transhumanistischen" Menschenbild 2.0 zu verbinden. Auf diese Weise soll KI laut den zahllosen Euphorikern in Wirtschaft, Sozialwissenschaft und Politik, denen die Kulturkritik bislang wenig entgegenzusetzen hat, zur universalsten zivilisatorischen Veränderungskraft der vor uns liegenden Geschichte werden.
Oder wie es die Pro-KI-Vertreter der Universität Cambridge, die den Anspruch verfolgt, zur europäischen Führungsuniversität auf dem KI-Gesellschaft-Konvergenz-Gebiet zu werden, im November 2018 programmatisch ausführten:
KI-Systeme werden bereits in allen Bereichen eingesetzt: Vom Aktienhandel bis zur Festsetzung von Hauspreisen; von der Aufdeckung eines Betrug bis zur Übersetzung zwischen Sprachen; von der Erstellung unserer wöchentlichen Einkaufslisten bis zur Vorhersage, welche Filme uns gefallen könnten. Doch das alles ist erst der Anfang.
Schon bald wird KI eingesetzt werden, um unser Verständnis der menschlichen Gesundheit durch die Analyse großer Datensätze zu verbessern und uns bei der Entdeckung neuer Medikamente und der Personalisierung von Behandlungen zu helfen. Selbstfahrende Fahrzeuge werden das Verkehrswesen verändern und neue Paradigmen der Stadtplanung ermöglichen. Maschinen werden unsere Häuser effizienter betreiben, Unternehmen produktiver machen und uns helfen, Risiken für die Gesellschaft vorherzusagen.
University of Cambridge
Sicher scheint den Befürwortern:
Während einige KI-Systeme die menschliche Intelligenz übertreffen werden, um die menschliche Entscheidungsfindung zu unterstützen, werden andere sich wiederholende, manuelle und gefährliche Aufgaben übernehmen, um die menschliche Arbeitskraft zu ergänzen. Viele der größten Herausforderungen, vor denen wir stehen: vom Verständnis und der Eindämmung des Klimawandels bis hin zur schnellen Erkennung und Begrenzung von Krankheitsausbrüchen, werden durch Werkzeuge der KI unterstützt werden.
University of Cambridge
Zwar hat sich ein entscheidender Einfluss von KI auf die Risikovorhersage und -bekämpfung in der Covid-19-Pandemie der Jahre 2019-22 noch nicht bewahrheitet. Aber das tut dem "großen Horizont" der Befürworter keinen Abbruch. Die Forscher sind sich bewusst, dass ihre umfassenden, zuweilen geradezu messianischen Erwartungen an Künstliche Intelligenz ebenso einmalig in der Geschichte gesellschaftlicher Transformationstechnologie sind wie die Zuschreibung universaler Anwendbarkeit:
Was wir bisher von der KI gesehen haben, ist nur die Spitze der kommenden Revolution. Die Idee, Maschinen zu schaffen, die wie Menschen denken und lernen, gibt es schon seit den 1950er Jahren. Warum ist KI dann erst jetzt ein so heißes Thema? [...] Drei große Fortschritte ermöglichen erst seit kurzem enorme Fortschritte in der KI-Forschung: die Verfügbarkeit von Datenmassen, die wir alle ständig erzeugen; die Leistung und Verarbeitungsgeschwindigkeit der heutigen Supercomputer; und die Fortschritte in der Mathematik und Informatik bei der Entwicklung ausgefeilter Algorithmen, die Maschinen beim Lernen helfen.
University of Cambridge
Laut dieser Analyse der Cambridge Universität müssen sich Politik und Gesellschaft im Zug der Entwicklung auf eine nicht mehr ferne Zukunft einstellen, in der
Technologie [vor allem in Gestalt Künstlicher Intelligenz] nahezu jeden Aspekt des modernen Lebens beeinflussen wird. Darauf müssen wir uns jetzt vorbereiten.
University of Cambridge
Doch was genau heißt zum jetzigen Zeitpunkt "vorbereiten"?
Heißt "vorbereiten" nun, da laut solchen Analysen eine historische Umwälzung mittels KI ja praktisch unvermeidlich ist, hauptsächlich An- und Einpassung – nicht nur vonseiten der Wirtschaft, von der das medial praktisch täglich gefordert wird, sondern immer stärker auch vonseiten der Politik: also seitens der öffentlichen Rationalität selbst?
Der Sprung vom KI-Fokus auf Wirtschaft in die Politik liegt schon in der Logik von Vorhersagen wie jener der Cambridge Universität, wie in der Logik von KI selbst. Diese Logik lautet: Wenn KI systemisch wird, dann wird sie zwangsläufig politisch.
Wenn also der kommende Fokus von KI unweigerlich auf einer Art Makro-Kybernetik der Gesamtgesellschaft liegen wird, weil das zwingend aus ihrer eigenen Funktionsweise erwächst, würde sich das Ideal offener Gesellschaft dazu selbst befragen müssen. Denn wenn die offene Gesellschaft Politik bisher im Kern definiert hat als die permanente, unabschließbare Verwandlung von Sozialverhältnissen in Rechtsverhältnisse, dann schafft der Trend zu Künstlicher Intelligenz neue "Sozialverhältnisse", die sich in Politik und Recht abbilden müssen.
Die aktuelle Pro-KI-Propaganda zugunsten einer gesellschaftlichen Omnipräsenz Künstlicher Intelligenz kommt jedoch so umfassend daher, dass sie nicht mehr nur abbildet, sondern unweigerlich das Politische selbst in Prozessen, Inhalten, Ausrichtung und Selbstverständnis beeinflussen oder sogar verändern muß, um ihren eigenen Ansprüchen und Zuschreibungen gerecht zu werden.
Vom pragmatischen Wirtschafts- zum post- und meta-ideologischen Politikfaktor?
Das gewiß historische KI-Momentum der Gegenwart hat, stärker noch als die anwendungsorientierte, sozial relevante Wissenschaft, die in der KI mangels anderer "neutraler" Motive einen neuen legitimatorischen Kern verortet, die Wirtschaft längst vollends erfasst. Diese gibt sich gern pragmatisch, sachlich und nüchtern – ist es gegenüber Künstlicher Intelligenz und ihrer offenbar "universalpenetrativen" Option aber immer weniger.
Interessanterweise tendieren gerade die dem Selbstanspruch nach utilitaristisch-pragmatischen Wirtschaftsvisionen Künstlicher Intelligenz in der Verbindung von Sozialentwicklung und Politik dazu, den Geltungsbogen zu überziehen – und Künstliche Intelligenz zur bestimmenden ökonomisch-sozialen Kraft der kommenden Jahre zu erheben. So berichtete, um wiederum nur ein Beispiel unter vielen zu nennen, die international agierende US-Analysefirma Forrester Research im November 2017, dass
Unternehmen sich mit neuen Technologien, insbesondere Künstlicher Intelligenz, zwar bisher grundsätzlich schwer tun. [2018] setzten… die meisten Unternehmen ihre KI-Experimente fort... Die KI-Budgets der Firmen bleiben im Gegensatz zu den Transformationserwartungen an KI bislang jedoch eher niedrig. [Doch] wir prognostizieren, dass sich Unternehmen immer stärker mit der pragmatischen Seite von KI befassen werden, da sie nun ein besseres Verständnis der Herausforderungen haben und sich die Idee zu eigen machen, dass "kein KI-Schmerz keinen KI-Gewinn bedeutet".
Die KI-Realität ist nun einmal da. Die Unternehmen… erkennen die wirklichen Herausforderungen der KI... Die Unternehmen werden sich auf die Datengrundlagen konzentrieren, kreative Ansätze für den Aufbau und die Bindung von KI-Talenten verfolgen, Künstliche Intelligenz konkret in die Geschäftsprozesse einbinden und beginnen, Mechanismen zu entwickeln, um zu verstehen, warum sich die KI so verhält, wie sie es tut.
Bei alledem – und da sollten Politiker und Entscheidungsträger nun tatsächlich konkret aufhorchen, weil sie das unmittelbar betrifft – soll Künstliche Intelligenz, auch und gerade angetrieben durch wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Prozesse, das neue Feld einer erstmals tatsächlich wirklichkeitsantizipativen Voraussagetechnologie begründen.
Diese leitet sich unter anderem aus bereits existierenden Modellen wie der "realantizipativen Polizeitechnologie" (predictive policing technology) ab. Dieses angewandte soziale Erkundungsverfahren besteht darin, Daten aus vergangenen Verbrechen mit Orten, Umständen, Sozial-, Klassen- und ethnischen Daten zu integrieren. Dies, um möglichst genau vorhersagen zu können, wo, wie und wie häufig welche Verbrechen an welchen Orten einer Stadt in Zukunft geschehen werden.
Wie die daraus hervorgehende Erfahrung zum Beispiel der Stadt Santa Cruz in Kalifornien gezeigt hat, lässt sich diese aus dem Polizeidienst entwickelte KI-Technologie auf zahlreiche andere soziale Fragestellungen übertragen. Die Entwickler erwarten sogar, dass ähnliche Verfahren mittels KI bald auf die meisten gesellschaftliche Zusammenhänge angewandt werden können.
Sollte sich das als nützlich erweisen, würde KI zweifellos zum unschätzbaren Instrument für die Politik. Denn welcher Politiker wüsste nicht gern, was in der Zukunft wo und wie geschieht? Das verliehe politischen Agenden bis zu einem gewissen Grad die Möglichkeit der Antizipation – und damit politischen Strategien erhöhte Erfolgschancen. Und natürlich auch erhöhte Wahlchancen.
Die Tendenzen nehmen deshalb auch aus praktischen ordnungspolitischen Anwendungsansätzen heraus zu, Künstliche Intelligenz direkt und pro-aktiv mit sozialer Entwicklung und Politik in Verbindung zu bringen.
Die KI-Politik-Propagatoren erklären Künstliche Intelligenz sogar zur impliziten Politik der Zukunft, weil es ohne sie möglicherweise gar keine Wirtschafts- und Institutionenpolitiken mehr geben wird. Das würde bedeuten, dass sich auch die Zivilgesellschaft mit ihrer gesellschaftspolitischen Dimension der Penetration durch KI nicht substantiell und dauerhaft versagen wird können.
Regierungsvisionen: Von Großbritannien bis zur OECD
Es ist kein Wunder, daß bei solch universalistischem Drall von KI zur Proto-Gesellschaftspolitik globalisierter Gegenwart in quasi natürlicher Weise auch der Anspruch auf eine meta-politische Integrationsposition von Technologie entsteht. KI und ihre Netztechnologien sollen künftig die Gegensätze zwischen links und rechts in Richtung einer pragmatischeren Funktionalitätspolitik überschreiten.
Künstliche Intelligenz soll, so das Gros ihrer Propagatoren, eben damit zum wichtigsten Motor politischer Inter- und Transdisziplinarität werden, die durch sie endlich konkret Realität werden soll.
Mit anderen Worten: Politik soll, mittels Künstlicher Intelligenz, Einzelentwicklungen in verschiedensten Anwendungsbereichen intelligent vernetzen und vereinen. Dadurch soll sie mittels KI verschiedenste Feldpolitiken sowohl auf der Makro- und Meso- wie der Mikroebene integrieren. Damit soll eine neue kollektive Entscheidungsqualität für die Gesellschaft erreicht werden. Künstliche Intelligenz soll damit auch Ideologien partei- und ideengeschichtlich-philosophischer Natur überwinden. Dies, indem sie sie in einem "dritten Weg" technischer Neutralität zusammenführt, zu dessen Inbegriff sie wird.
Das Ziel der Nutzung von KI für die post-ideologische Weiterentwicklung von Politik zur Sozialtechnologie jenseits von Parteien verfolgen heute eine ganze Reihe politischer Regierungsstrategien. So etwa die "National AI Strategy" der britischen Regierung vom September 2021.
Sie erhofft sich vom umfassenden Einsatz von KI in allen Gesellschaftsbereichen geradezu ein "neues Großbritannien" und den Status einer neuen "Globalen KI-Supermacht". Damit ist im offiziellen britischen Regierungsdokument unverhohlen die Rückkehr zu alten Weltmachtträumen verbunden. Damit erreicht KI nach den Ansprüchen Chinas endgültig auch die Globalpolitik offener Gesellschaften. Mit "Globalpolitik" ist der Nexus zwischen Innen- und Außenpolitik im Sinn einer global-lokalen Transformation gemeint.
Das "neue KI-Großbritannien" soll mittels systematischer "KI-isierung" (AI-isation) aller Gesellschaftsbereiche die Defizite verlorener Industriejahrzehnte wettmachen. Es soll technologische Entwicklungsphasen überspringen und führend in der "Technologiezivilisation 4.0" werden. In diesem Sinn heisst es in der britischen "AI Governance Initiative":
Künstliche Intelligenz (KI) ist die weltweit am schnellsten wachsende Technologie. Sie hat ein enormes Potenzial, die Regeln ganzer Branchen neu zu schreiben, ein erhebliches Wirtschaftswachstum anzutreiben und alle Bereiche des Lebens zu verändern. Das Vereinigte Königreich wird eine globale Supermacht im Bereich der KI. Großbritannien hat gute Voraussetzungen, um sich als echte Forschungs- und Innovationsschmiede, als Hort globaler Talente und als fortschrittliches regulatorisches und geschäftliches KI-Umfeld zu etablieren.
Darauf aufbauend heisst es in der "10-Jahres-KI-Vision" der britischen Regierung bis 2030 im einzelnen genauer:
In den nächsten zehn Jahren, in denen transformative Technologien unsere Wirtschaft und Gesellschaft fundamental umgestalten werden, wird die Welt wahrscheinlich eine Verschiebung der Art und Verteilung globaler Macht erleben.
Wir sehen, wie anhand der Künstlichen Intelligenz der rasche technologische Wandel ein neues Gleichgewicht anstrebt, das im Kern darin besteht, die bisherige wissenschaftliche und technologische Dominanz von Supermächten wie den USA und China auszugleichen. Umfassende transnationale Herausforderungen müssen ein stärkeres kollektives Handeln im Hinblick auf globale Sicherheit und Wohlstand gewährleisten.
AI Governance Initiative
Laut den britischen Vordenkern sollte das zunächst in erster Linie national ausgenützt werden:
Vor diesem Hintergrund hat Großbritannien in den nächsten zehn Jahren die Chance, sich als der beste Ort zum Leben und Arbeiten mit KI zu etablieren. Dies auf der Grundlage klarer Regeln, angewandter ethischer Grundsätze und eines innovationsfreundlichen regulatorischen Umfelds.
Mit die richtigen Voraussetzungen… können wir KI für Kooperation nutzen und für internationale KI-Standards eintreten, die unsere Werte widerspiegeln, um uns gegen den [sich vervielfältigenden] bösartigen Einsatz von KI zu wenden. […] Das Vereinigte Königreich [will] zu einer KI-zentrierten und dabei global wettbewerbsfähigen Wirtschaft werden, was jeder Region und jedem Sektor zugute kommt.
AI Governance Initiative
Dazu erklärt die britische Regierung im Hinblick auf politische Ethik weiter:
Indem wir mit unseren demokratischen Werten vorangehen, wird Großbritannien mit Partnern auf der ganzen Welt zusammenarbeiten, um sicherzustellen, unsere ethischen Werte in der KI zu verankern.
Wir wollen klarstellen, dass Fortschritte in der KI verantwortungsvoll, nach demokratischen Normen und gemäß der Rechtsstaatlichkeit erzielt werden. Indem wir die Zahl und Vielfalt der Menschen erhöhen, die mit KI arbeiten und sie entwickeln, klare Regeln aufstellen und in unserem ganzen Land in KI investieren, werden wir sicherstellen, dass die Vorteile der KI in der realen Welt für jedes Mitglied unserer Gesellschaft ankommen – ganz gleich, ob es sich nun um KI-gestützte Diagnostik im Nationalen Gesundheitssystem Großbritanniens (NHS), fahrerlose Autos, die unsere Straßen sicherer und intelligenter machen, oder um die Hunderten unvorhergesehener Vorteile handelt, die KI zur Verbesserung des täglichen Lebens beitragen wird.
AI Governance Initiative
Zu den im engeren Sinn politischen Zielen der KI-Transformation des Landes im einzelnen heisst es in der britischen 10-Jahres-Strategie:
Die Ziele dieser Strategie sind, dass Großbritannien:
1. einen signifikanten Anstieg erfährt sowohl der Anzahl und der Art der KI-Entdeckungen, die im Vereinigten Königreich gemacht und vermarktet werden;
2. aufgrund der KI vom höchsten Maß an Wirtschafts- und Produktivitätswachstum profitiert; und
3. das vertrauenswürdigste und innovationsfreundlichste System für KI-Governance in der Welt schafft.Diese Vision kann erreicht werden, wenn wir auf drei Säulen aufbauen, die für die Entwicklung der KI entscheidend sind:
1. Investitionen in die Bedürfnisse des Ökosystems, damit mehr Menschen mit KI arbeiten, mehr Zugang zu Daten und Rechenressourcen erhalten. Ziel ist, KI-Systeme zu trainieren sowie einen privilegierten Zugang von KI-Firmen zu Finanzmitteln und Kunden zu etablieren, um den Sektor auszubauen;
AI Governance Initiative
2. Unterstützung der Verbreitung von KI in der gesamten britischen Wirtschaft, um sicherzustellen, dass alle Regionen, Unternehmen und Sektoren von KI profitieren; und
3. Entwicklung eines innovationsfreundlichen regulatorischen und Governance-Rahmens, der die britische Öffentlichkeit vor unerwünschten Folgen schützt.
Diese "universalistische" KI-Strategie Großbritanniens: praktisch das gesamte Land mittels KI bis an die Wurzel zu verändern, kann bis zu einem gewissen Grad als richtungsweisend für andere entwickelte Länder gelten – zweifellos für die 38 OECD-Mitglieder. Die meisten entwickelten Wirtschaften der Welt werden sich in der einen oder anderen Weise ebenfalls in diese Richtung bewegen.
Dafür steht das Beispiel einer globalen Kern- und Treiber-Organisation: der OECD, der Vereinigung der entwickeltsten Wirtschaften der Welt, die vor allem dem Austausch "bester Praktiken" (best practices) dient.
Die OECD hat wegen der außerordentlichen Bedeutung von KI für die künftige Politik- und Gesellschaftsentwicklung Ende der 2010er Jahre ein eigenes "KI-Politik-Observatorium"(OECD.AI) gegründet, das auf vorausgehenden Initiativen seit 2016 gründet. Sie hat zudem ein Rahmenrichtwerk für die Klassifizierung von KI-Systemen eingeführt, das "ein Instrument sein soll, welches politischen Entscheidungsträgern, Regierungsbehörden und Gesetzgebern dabei hilft, die Chancen und Risiken zu bewerten, die verschiedene Arten von KI-Systemen darstellen." Die OECD hat drittens die OECD-Prinzipien zu Demokratie und Menschenrechten in künftigen KI-Gesellschaften erklärt.
Der Nachdruck, den die wichtigste ökonomische Kooperationsplattform der entwickelten Welt mittels verschiedenster, ineinandergreifender Ansätze auf den Schnittpunkt KI und Politik legt, zeigt, welch umfassende und tiefgreifende politische Bedeutung von KI für die kommenden Jahre erwartet wird.
Werden Rückkoppelungseffekte immer noch unterschätzt?
Was in diesen und zahlreichen ähnlichen Strategien jedoch nicht oder nur am Rande vorkommt, ist der Rückkoppelungseffekt der KI-Politisierung auf die bisherige Politik selbst. Dieses Versäumnis ist bislang beispielhaft für viele zeitgenössische Umgangsweisen mit der politischen Valenz von KI.
Man gibt sich mit Regulierung, also "governance" zufrieden – und meint, dass minimale Standards von Politik für KI ausreichen, um das Feld zu regeln. Man bedenkt aber nicht, dass bei hochkomplexen Transformationsprozessen Gestaltung nie einseitig von A nach B, sondern dass sie in Zirkeln erfolgt, die auch ihre eigenen Voraussetzungen verändern.
Wenn demnach Politik KI flächendeckend zur Veränderung einer ganzen Gesellschaft einsetzt, kann sie selbst davon nicht unberührt bleiben. Wie auch die meisten anderen heutigen KI-Strategien tun – stellvertretend für weitere globale Akteure – jedoch sowohl die britische wie die OECD-Politik unbewußt so, als seien sie selbst ein archimedischer Hebel, der außerhalb der Wirkungen von KI steht. Dem wird aber nur schwerlich so sein können.
In der Selbstüberschätzung traditioneller Politik mittels unbewußter Selbst-Außersystemstellung besteht das Grundproblem der meisten zeitgenössischen KI-Strategien. Sie bedenken nicht, dass Systemveränderung durch Politik auch an die Grundlagen jenes Politischen selbst reicht, welches dieses System zu verändern versucht.
Entgegen der Erwartung ideologischer Neutralität kann KI schon ihrer eigenen Logik nach nie ein rein meta-ideologischer Politikfaktor bleiben – selbst dann nicht, wenn man sich darum kümmert, sie mit "demokratischen Werten" auszustatten.
KI wird vielmehr Politik gemäß der Integration von Daten machen. Sie wird dabei unweigerlich ideologische Erfahrungen und Neigungen in sich einbauen – genauso, wie KI schon bislang Vorurteile und Falschinformationen eingebaut hat, wenn diese nicht frühzeitig korrigiert wurden. Diese Mängel waren einer der Gründe dafür, warum die Welt-Bildungs-, -Kultur- und -Wissenschafts-Organisation der Vereinten Nationen, Unesco, 2021 ihre "Empfehlungen zur globalen Ethik der KI" veröffentlicht hat.
Auswirkungen
Die Auswirkungen der Rückkoppelungseffekte auf bisherige Politiken und Politikverständnisse werden viele sein. Die damit befassten Akteure wissen trotz mancher Überspielungs- und Verharmlosungstaktiken darum. Sie erwarten sich vor allem auch Tiefen-Auswirkungen auf die humane Veränderung – also die Umgestaltbarkeit des Menschenseins und des Menschen selbst.
Ein Beispiel?
Nicht zufällig wurde die KI-Strategie Großbritanniens massgeblich vom "Center for the Governance of AI" am "transhumanistisch" angehauchten "Zukunft der Menschheit Institut" der Universität Oxford mitentwickelt.
Dessen Hauptaugenmerk richtet sich laut Direktor Nick Bostrom auf die "tiefe" Selbstverwandlung des Menschen mittels Technologie – und auf die kommende "Superintelligenz", das heisst auf die für die Jahrhundertmitte erwartete "harte" oder "echte" Künstliche Intelligenz, die zu einer Art existentieller (ontologischer) Selbstreferentialität erwachen soll. Mit ihr, so Bostrom und Mitarbeiter – wie der in der anglophonen Künstliche-Intelligenz-Debatte mit führende Alan Dafoe –, kommen bisherige Politik und Ethik endgültig in das Zeitalter ihres "Dunkels".
Das heisst: sie kommen des Handels im Unbekannten eines potentiell unendlich intelligenten Techno-Universums. Deshalb müssten bisherige Politik und Ethik beide durch eine Neukonzeption mittels technologischer Neuformung überwunden werden.
Was genau bedeutet: KI-Neuformung bisheriger Politik?
Dabei bleibt bei Bostrom und Dafoe allerdings weitgehend offen, was genau zeitgenössische Neuformung von Politik durch KI bedeutet. Die meisten Reports des Zukunft der Menschheit Instituts umkreisen den Schnittpunkt zwischen KI, "Strategy, Governance and Policy".
Dabei sparen sie dystopische Szenarien meist sorgsam aus. Die wenigen Stellungnahmen zu negativen bis tiefenambivalenten KI-Implikationen für die Politik beziehen sich meist auf den globalen Wettbewerb zwischen Systemen um effizientere KI sowie um militärische Dominanz mittels KI, nicht auf den politischen Apparat und seine Mechanismen. Trotzdem erwartet man zugleich in absehbarer Zeit das "Treffen von Entscheidungen" durch KI. So erklärte Dafoe bereits 2019, dass
KI die Lehre von jenen Maschinen ist, die in der Lage sind, komplexe Informationen zu verarbeiten. KI-Systeme ermöglichen uns, wichtige menschliche Fähigkeiten bei der Vorhersage und dem Treffen von Entscheidungen zu automatisieren, zu verbessern oder zu erweitern. Dies macht KI zu einer äußerst wichtigen und leistungsfähigen Technologie, die – so wie vorher die Elektrizität, der Verbrennungsmotor oder der Mikroprozessor – in unserer Zeit das Potenzial hat, die Wirtschaft, die Gesellschaft und das Militär grundlegend zu verändern.
Selbst wenn es ab heute keine weiteren technischen KI-Entwicklungen mehr geben sollte, stellen die bereits vorhandenen KI-Fähigkeiten die Politik der ganzen Welt vor große Herausforderungen. Die Art und Weise, wie wir fortgeschrittene KI entwickeln und nutzen, wird die alles bestimmende Entwicklung des 21. Jahrhunderts sein. Sie wird damit auch eine der wichtigsten Herausforderungen für politische Regulierung sein.
Bereits im Mai 2017 trat das "Institut für die Zukunft der Menschheit" der internationalen "Partnerschaft zur Künstlichen Intelligenz" bei. Dabei handelt es sich um eine Non-Profit-Organisation, der neben Amazon, Apple, Google/DeepMind, Facebook, IBM, and Microsoft auch Firmen wie Sony und Human Rights Watch, Unicef, und das interdisziplinäre Leverhulme Centre for the Future of Intelligence mit Beteiligung der Universität Cambridge angehören. Ziel der Partnerschaft ist es, die "besten Praktiken für einen sozial vorteilhaften Umgang mit der KI-Entwicklung zu formulieren."
Dabei besteht, wie in der anglophonen Welt üblich, bis heute ein eher einseitiger Fokus auf "Governance", also pragmatischer KI-Regulierung. Der Einfluss auf – und Zusammenhang mit – der bisher institutionalisierten Politik wird in Forschung und Veröffentlichungen meist auf Narrative, die Verbesserung von Partizipationsprozessen und auf Gefährdungen der Demokratie hin untersucht. Weit weniger steht der humane Veränderungsimpuls im Fokus.
Obwohl dies zum Selbstschutz der Forscher und Wissenschaftler in ihrem Kontext geschehen mag, bleibt damit eine wesentliche Dimension der KI-Entwicklung unterbelichtet – was einen blinden Fleck erzeugt.
In jüngster Zeit mehren sich aber auch Versuche, KI als "Chance für die Demokratie" zu untersuchen. So etwa im Rahmen der "Großen Debatten"-Serie der Cicero Stiftung 2022. Ein daraus hervorgegangenes Kern-Papier beschreibt, dass
Künstliche Intelligenz (KI) [bereits heute] grundlegende Aspekte der menschlichen Gesellschaft prägt. KI verursacht grundlegende Veränderungen in ethischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. Das bedeutet, dass KI die internationale politische Ökonomie und folglich auch die internationale Politik transformiert. Systeme der künstlichen Intelligenz werden in der Lage sein, Probleme zu lösen, deren Umfang und Komplexität menschliche Fähigkeiten übersteigen.
Mittels fortgeschrittener Techniken der künstlichen Intelligenz (AAI) werden Maschinen wie Gehirne denken. Und Gehirne können als Maschinen denken. Menschliche Eingriffe in die Entscheidungsfindung werden in vollständig automatisierten Systemen ausgeschaltet.
Cicero Stiftung
Das klingt für manche weniger optimistisch, als vielmehr bedrohlich. In der Tat heisst es im selben Papier im Abschnitt "Politik und Demokratie in einer Welt der fortgeschrittenen Künstlichen Intelligenz" weiter:
Es ist unbedingt sicherzustellen, dass die derzeitige technische Standardisierung von KI eine sinnvolle Art der Regulierung darstellt. Sie sollte nicht politisch neutral sein, da alle Aspekte der KI-Funktionalität vom menschlichen Schöpfer der Algorithmen abhängen. Mit anderen Worten: KI entscheidet nicht über ihre eigenen Standards nach einer autonomen Entscheidung, die auf einer objektiven Lesung von Daten beruht. Mit anderen Worten: Auch die rasche Entwicklung der KI-Technologie kann die Risiken neuer Technologien nicht bewältigen.
Cicero Stiftung
Die Entstehung einer "KI-Demokratie"
Für Europa hat das laut den Autoren weitreichende Konsequenzen. Diese bringen fundamental neue Aufgabenstellungen mit sich:
Die digitale Gesellschaft ist der Inbegriff einer neuen Gesellschaft, die durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien regiert wird. Eine digitale Gesellschaft ist eine vernetzte Informationsgesellschaft mit neuen Werten und Bedürfnissen. Die fortgeschrittene Künstliche Intelligenz (Advanced Artificial Intelligence, AAI) wird die Schaffung einer global kodifizierten Regelung ermöglichen. Diese wird ein Netz von AAI-Systemen verschiedener AAI-Gerichtsbarkeiten miteinander verbinden, dabei das Gefühl nationaler Souveränität auslöschen und jedenfalls die AAI-Cyber-Gerichtsbarkeit einführen.
Cicero Stiftung
Es geht also um eine "neue Gesellschaft, die durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien regiert wird". Was das für bisherige Politiker (und ihre Karrieren) bedeutet, bleibt offen – dürfte aber indirekt deutlich sein.
Wichtig ist laut den Autoren der Cicero Stiftung auch, dass die Künstliche Intelligenz "ihre eigene Politik machen wird":
In einer AAI-Gesellschaft werden die AAI-Entitäten ihre eigene Politik betreiben: das heißt die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen. Man könnte sagen, dass AAI-Systeme eine elektronische Beteiligung der AAI-Einheiten an der AAI-Demokratie ermöglichen, was zur Politik der AAI führt.
Diese wird, verglichen mit der derzeitigen konventionellen Politik, eine andere Form und einen anderen Einfluss auf die AAI-Gesellschaft und das Leben annehmen. Es droht eine zentralisierte Vorstellung von Politik und Entscheidungsfindung aufgrund der Eigenschaften der AAI-Technologie. Welche Auswirkungen wird zum Beispiel die von humanoiden Robotern umgesetzte AAI auf die politische Funktionsweise der EU haben?
In Anbetracht der Tatsache, dass AAI nach wie vor von Menschen gesteuert wird, ist zu den Auswirkungen von AAI auf das menschliche Leben… eine Standardisierung erforderlich… Das verweist auf die Notwendigkeit einer politischen Entscheidung für eine zentrale KI-Governance – und damit der Umwandlung der EU in die Vereinigten Staaten von Europa.
Cicero Stiftung
Darauf aufbauend sehen die Cicero-Autoren in ihrer Schlußfolgerung auch Lichtblicke am Horizont:
Die KI-Technologie muss rechenschaftspflichtige und zuverlässige Systeme hervorbringen, die in der Lage sind, soziale Verantwortung [von Technologie] auszubauen. Das Fehlen einer angemessenen und rechtzeitigen Steuerung von KI-gestützten Systemen ist für alle Regierungen, welche KI-Technologie einsetzen, mit erheblichen Risiken verbunden. Darüber hinaus verstärken das Ausmaß und die Auswirkungen von KI innerhalb und über Sektoren hinweg sowie die Konzentration der großen KI-Anbieter das Vorhandensein von Netzeffekten, die ihre Präsenz begünstigen…
KI wird vor allem dann zu mehr Demokratie und besserer Politik führen, wenn sie in einen objektiven demokratischen Rahmen eingebettet ist, der sowohl den Vertretenen als auch den Repräsentanten die Möglichkeit gibt, Kontrolle über das Ergebnis der Entscheidungsfindung durch KI-Algorithmen ausüben zu können.
Cicero Stiftung
Politikrelevante KI: Entscheidungsvorbereitung oder Entscheidungsdruck?
Eine ganze Reihe an Literaturansätzen sieht das inzwischen ähnlich – und untersucht den Einfluss von KI auf politische Systeme im Spannungsfeld zwischen Autoritarismus und Demokratie. Dabei werden allerdings erhebliche Unterschiede in der Bewertung durch demokratische versus autoritäre Systeme sichtbar – einschließlich ihrer sich inzwischen immer weiter auseinanderentwickelnden jeweiligen Sozialwissenschaften.
Konkreter als Großbritannien und die OECD hinsichtlich zukünftiger Beziehung zwischen KI und traditioneller Politik wird zum Beispiel China. Chinas Regierung lässt sich nach offiziellen Angaben bereits seit 2018 von Künstlicher Intelligenz beraten – darunter interessanterweise auch in außenpolitischen Fragen, die auf den ersten Blick am wenigsten von KI beinflussbar sind:
China setzt in allen Lebensbereichen auf künstliche Intelligenz: beim Überwachen seiner Bürger, beim Städtemanagement – und jetzt auch in der Politik. Das chinesische Außenministerium lässt sich bei wichtigen Entscheidungen von einer Künstlichen Intelligenz beraten. Chinesische Wissenschaftler, die sich [2018] in der South China Morning Post (SCMP) äußerten, sind überzeugt, dass Künstliche Intelligenz (KI) die Politik verbessern kann. Die KI, die das chinesische Außenministerium in strategischen Fragen berate, sei zum Beispiel immun gegen Angst, Leidenschaft, Ehre oder den Wunsch, jemandem einen Gefallen zu tun. Sie treffe im Vergleich zum Menschen rationalere Entscheidungen.
Deutschlandfunk Nova
Und das bedeutet?
Ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums sagte, sein Ministerium würde die Anwendungen "fast täglich erweitern" und die neue KI-Technik weiter "erkunden". In China würden derzeit gleich mehrere KI-Politik-Systeme entwickelt. Bei welchen Entscheidungen genau die KI-Systeme konsultiert werden, wird nicht verraten. Man verweist aber zum Beispiel auf die Neue Seidenstraße.
Das ist ein riesiges globales Infrastruktur-Projekt mit Straßen, Häfen und Handelsposten, das sich durch knapp 70 Länder erstreckt, in denen 65 Prozent der Weltbevölkerung leben. Dort investiert China derzeit hunderte Milliarden US-Dollar mit dem Ziel, im Welthandel nach vorne zu kommen und sich langfristig mit wichtigen Rohstoffen zu versorgen. Das chinesische Außenministerium hofft offenbar, mit Unterstützung von KI hier bessere Entscheidungen zu treffen.
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Wie das bereits heute für Chinas Regierung gehen soll, ist relativ deutlich:
[Das] Maschinenlern-System [für Politikberatung und Entscheidungsvorbereitung] studiert zunächst Millionen von Daten. Damit die KI lernt, besser zu entscheiden, wird sie mit einem Berg an Daten gefüttert. Sie hat Zugang zu verschiedenen Datenbanken der chinesischen Regierung:
- Daten von Spionagesatelliten;
- Daten über internationale politische Strategien;
- Gerüchte, die chinesische Diplomaten auf Cocktail-Parties aufgeschnappt haben.
Wenn dann jemand im Außenministerium etwa die Entscheidung treffen muss, wie China in einem afrikanischen Staat am besten einen Hafen baut, der Rohstoffe nach China verschifft, dann spuckt die KI unter Umständen innerhalb weniger Sekunden mehrere mögliche Handlungsoptionen aus. Das letzte Wort haben bislang aber immer noch Menschen aus Fleisch und Blut. "Die KI ist eine Art strategischer Berater. Die letzte Entscheidung treffen immer noch Menschen"
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So Chinas Behörden. Die Frage ist nur, wie lange noch.
Denn: Je mehr Daten KI auf einer immer höherer Effizienzebene mit einem immer höheren Wahrscheinlichkeitsquotienten zu integrieren imstande ist, desto schwieriger wird es für "die Menschen" werden, der KI-Entscheidungsempfehlung" nicht zu folgen. Wenn zum Beispiel KI eine 90 Prozent Präferenz- und Erfolgsquote für eine bestimmte politische Entscheidung voraussagt, müssen Menschen besonders gut und umfassend argumentieren, warum sie diese Entscheidung dann nicht KI-gemäß treffen. Tendenz: zunehmend nicht-gleich zwischen Mensch und Maschine.
In Summe der Fakten ist es nicht unwahrscheinlich, dass eine fundierte – und also mit Erfolgsaussichten ausgestattete – Argumentation gegen KI in den kommenden Jahren unmöglich wird. Dies einfach deshalb, weil Datenmengen und Verarbeitungsqualität sich dem menschlichen Bewußtsein entziehen.
Oder vereinfacht gesagt: weil die KI mehr weiß als der Mensch. Dies vor allem im Faktenbereich, der für sachpolitische Entscheidungen ausschlaggebend ist. Das würde bedeuten, dass die Entscheidung prozessual faktisch an die KI übergeht, auch wenn formal nach "faktischer Entscheidungsvorbereitung" immer noch Menschen sie treffen.
Obwohl es bei alledem durchaus Einschränkungen gibt, ist die Zukunft aus Sicht der meisten Experten klar:
So einfach per Knopfdruck die Superlösung für alle Probleme ausspucken, kann auch eine KI nicht. Denn sie ist immer nur so gut, wie die Daten, mit der man sie gefüttert hat. Und diese Daten sind für manche Regionen der Welt lückenhaft oder nur schwer zu bekommen. Trotzdem sind Regierungen und Staaten, die sich eine gut gefütterte Datenbank und einen erfahrenen KI-Berater leisten können, gegenüber anderen Staaten, die das nicht können, klar im Vorteil. Vor allem dann, wenn es um Risikominimierung, Strategie, Entscheidungsfindung oder die Effizienz bei der Ausführung von Plänen geht.
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Wachsende Polivalenz. Oder: Das Zwielicht von "Dual-Use"-Strategien breitet sich aus
Der Aufstieg von KI zu immer unmittelbarerer politischer Valenz, so lautet die damit verbundene Prophezeiung, wird in mittelfristig vor uns liegenden Zeiträumen erfolgen. Dem kann angeblich niemand entkommen. Die Politisierung von KI – über Systeme wie Demokratie oder Autoritarismus hinweg – sei "nur eine Frage der Zeit". Sie sei nicht eine Angelegenheit der Wahl oder gar der politischen Entscheidung.
Diese Einstellung wird heute von vielen geteilt. Vor allem Xi Jinpings Reich erwartet, dass politische Steuerung immer mehr automatisiert und die Ethik der Umkehrbarkeit (Ethik der Reversibilität) immer stärker durch einen Fatalismus der Daten begrenzt werden wird. Denn Künstliche Intelligenz verändere "alles". Sie werde unweigerlich zum immer "intelligenteren" Kernprozess gesellschaftlicher und politisch-rationaler Logiken – unabhängig davon, ob diese sich nun in Demokratien oder Autokratien vollziehen.
Doch dabei KI könnte sich eher als Naturereignis denn als Angelegenheit von Politik im herkömmlichen Sinn erweisen. Die Kommunistische Partei Chinas jedenfalls stellt sich auf dieses angeblich Unvermeidliche ein – und nutzt es für die Zementierung ihrer eigenen Herrschaft.
Ähnlich ist auch die Erwartung vieler heutiger westlicher Politiker, Politikberater und -dienstleister. So auch jener, die nicht wie die inzwischen aufgelöste Privatfirma "Cambridge Analytica" damit bereits demokratische Prozesse im großen Stil manipuliert und verfälscht haben. Doch ist das "Naturereignis KI" wirklich die Zukunft der Politik?
Sicher ist: Im derzeitigen Übergang in eine "KI-Gesellschaft" herrschen "Dual-Use"-Strategien vor. Damit sind Ansätze gemeint, die die Ambivalenz von KI – nämlich die Möglichkeit zum politischen "Doppelgebrauch" ein und derselben Technologie sowohl für wie gegen Freiheit – nutzen, um sie für ihren eigenen Machtanspruch zu vereinnahmen.
Manche sprechen für KI sogar überhaupt von einem – konstitutiven, das heisst in dieser Technologie selbst angelegten – "dual-use"-Charakter. Das begründe geradezu ein prinzipielles "Dual-Use Dilemma" Künstlicher Intelligenz, und zwar noch vor jedem Anwendungsfall.
Unter den vielen Ambivalenzanwendungen Künstlicher Intelligenz kommen einige Felder besonders gut für "Dual-Use"-Ansätze in Frage. "Dual-Use"-Anwendungen von KI bestehen heute auf so unterschiedlichen Anwendungsgebieten wie:
- Dem ersten KI-selbstgesteuerten chinesischen Drohnenträger Zhu Hai Yun. Sowohl der Träger wie die Drohnen, 2022 lanciert und von China "KI-Mutterschiff" getauft, sind KI-ausgerüstet. Sie haben nach offizieller Leseart die Aufgabe, im südchinesischen Meer für "Sicherheit" etwa bei Notfällen zu sorgen – natürlich im Sinn des chinesischen Regimes. Dass aus dem Drohnen-Träger im Handumdrehen eine gefährliche semi-autonome Waffe werden kann, ist "dual use" in Reinkultur.
- Der Gebrauch Künstlicher Intelligenz zur Verhinderung von Straftaten, die noch gar nicht stattgefunden haben. Prävention mischt sich mit "antizipativer" Schuldzuschreibung.
- Die bessere Koordination und Steuerung der Finanzmärkte als wirtschaftliche (und implizit geopolitische) Träger "großer Verschiebungen". Der großflächige Einsatz von KI macht diese Finanzmärkte aber auch anfälliger für Störungen und Sabotage.
- Die Integration globaler Energienetze. So zum Beispiel die Schaffung eines globalen Stromnetzes unter chinesischer Vorherrschaft: der "Global Energy Interconnection" (GEI), eines persönlichen Lieblingsprojekts Xi Jinpings. Nach außen hin ein Menschheitszusammenschluß auf der Grundlage kybernetischer KI, ist das Projekt zugleich ein ideologiegeleitetes Macht- und Abhängigkeitscluster. Die effizientere Befriedigung von Energiebedürfnissen ist eine Voraussetzung von Produktion, Wohlstand und also auch sozialem Frieden, kann aber auch zur Waffe werden, wie der Ukraine-Konflikt gezeigt hat.
- Die Erneuerung von Konsumgewohnheiten – einschliesslich Medien- und Meinungskonsum. Fortschritt mischt sich mit neuen Kontrollmöglichkeiten.
Auffallend ist, dass bei den meisten dieser sozialpolitisch relevanten Anwendungen Künstlicher Intelligenz mittels Datenintegration und -verarbeitung sehr verschiedenartige Nutzbarkeiten entstehen.
Sie reichen von Systeminnovationen wie etwa der Förderung grüner Entwicklung bis hin zu Weiterentwicklungen der globalen Spekulationswirtschaft und der Perfektion von Überwachung und Kontrolle.
Auf der anderen Seite ist die Frage, ob nicht jede Zukunftstechnologie grundsätzlich eine "dual-use"-Technologie ist. Dann wäre das heutige politische Zwielicht der KI nichts Besonderes.
Roland Benedikter ist Co-Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research Bozen, Unesco Chair für Interdisziplinäre Antizipation und Global-Lokale Transformation und Mitglied des Zukunftskreises des BMBF für die deutsche Bundesregierung. Homepages bei Eurac Research: Roland Benedikter und Unesco Chair. Kontakt: roland.benedikter@eurac.edu.