"Begrenzung auf 1,5 Grad mit unserem Wirtschaftssystem nicht hinzubekommen"

"Kipppunkte rücken näher oder sind bereits erreicht"

Sie haben gerade auf die Klimakatastrophe hingewiesen. Wie sehen Sie die gegenwärtige Lage?

Helge Peukert: Mainstreamökonomen berechnen nur allzu gerne exakt die Kosten des Klimawandels und die Kosten, um ihn bei 1,5 Grad Erderwärmung oder mehr aufzuhalten. Laut jüngstem IPCC-Bericht (Intergovermental Panel on Climate Change) sind wir über Land gerechnet bereits bei 1,5 Grad Klimaerwärmung.

Die im letzten Hauptbericht noch nicht erreichten Kipppunkte rücken näher oder sind bereits erreicht. Ab 2022 hat die Weltgemeinschaft für das 1,5-Grad-Ziel über Land und Ozeanen noch 230 Gigatonnen zur Verfügung, bei großen Unsicherheiten was diese Zahl betrifft und jährlichen Emissionen von 35 Gigatonnen.

Die üblichen effizienzorientierten Rechnereien sind daher alle Mogeleien vor den bitteren Tatsachen. Selbstverstärkereffekte, Kipppunkte sind ante portas. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich bemerkt in ihrer viel beachteten Studie The Green Swan aus dem Jahr 2020:

Das Überschreiten von Kipppunkten kann katastrophale und irreversible Auswirkungen haben, die jegliche Quantifizierung finanzieller Schäden unmöglich macht.: Studie The Green Swan

Die Risikoforschung müsste eine Unsicherheitsforschung werden, die die - leider nicht mehr auszuschließenden Extremereignisse zur Grundlage aller Vorschläge machen müsste.

Würden Sie also sagen, dass der Bundesregierung der vergangenen Jahre große Versäumnisse gerade in der Klimapolitik und damit zusammenhängend der ökonomischen Reaktion darauf anzulasten ist?

Helge Peukert: Laut erwähnten IPCC-Bericht hat Deutschland bei Gleichverteilung auf die Weltbevölkerung ab 2022 - und bei nur 83-prozentiger Wahrscheinlichkeit - noch 2,3 Gigatonnen CO2 zur Verfügung. Das macht pro Person bis zur Klimaneutralität aller Inländer 12,5 Tonnen.

Ein E-Golf ist laut Herstellerangaben bereits mit dem dreifachen Emissionsvolumen über den Lebenszyklus des Fahrzeugs verbunden. Mit anderen Worten: Die Begrenzung auf 1,5 Grad Erderwärmung ist im Rahmen unseres Wachstumswirtschaftssystems nicht hinzubekommen.

Eine erschütternde Tatsache. Selbst das nachgebesserte Klimaschutzgesetz läuft auf 9,7 Gigatonnen hinaus. Doch selbst diese Minderungswerte werden nicht eingehalten.

Die Denkfabrik "Agora Energiewende" stellt fest: Im Wahljahr 2021 wird Deutschland den höchsten Anstieg der Treibhausgasemissionen seit 1990 verzeichnen.

Das übertrifft selbst den Anstieg nach der Wirtschaftskrise 2009/2010. Deutschland fällt 2021 sogar hinter sein 2020er-Klimaziel zurück, denn wir liegen nur noch 37 Prozent unter dem Niveau von 1990. Das ist keine Bilanz, die sich sehen lassen kann.

Die wichtigste Aufgabe der Wirtschaftspolitik der neuen Bundesregierung ist Ihrer Ansicht nach eine entschiedene ökonomische Klimapolitik. Würde diese Klimapolitik nicht zu hoher Arbeitslosigkeit führen?

Helge Peukert: Eine radikale Klimapolitik würde zwangsläufig erst einmal zu einer hohen Arbeitslosigkeit führen, die im Zusammenhang mit einer zunehmend ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung enormen Zündstoff bedeutet.

Es bedürfte meines Erachtens der Schaffung eines öffentlichen dritten Arbeitsmarktes, der allen ein bedingtes Grundeinkommen zusichert. Der dortige Mindestlohn müsste sicher bei mindestens 15 Euro die Stunde liegen für ökologisch-soziale berufliche Tätigkeiten. Daher bedürfte es einer deutlich höheren Einkommensbesteuerung, sagen wir ab 200.000 Euro, und einer Erbschaftssteuer, die ab gewissen Höhen von mehreren Millionen auch einhundert Prozent betragen könnte.

Die einzige Partei, die sich diese Forderungen stellt, ist die Partei "Die Linke", deren Mitglied ich nicht bin. Vor rot-rot-grün wird natürlich gewarnt, weil eine neue Umverteilung droht. Aber nur so können wir eine bessere ökonomisch-ökologische Politik machen sowie die Ungleichheit und insbesondere die Kinderarmut bekämpfen. (Klaus Weinert)